Schlagwörter: Grenzgang, Künstlerische Forschung, Promenadologie, Pädagogik des Raums, Spaziergang, Ästhetik
Als Kunstwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin bist du in der Schnittstelle von Ästhetik und Bildung tätig. Wo siehst du grundsätzliche Verbindungslinien zwischen Kunstpädagogik und Baukultur bzw. baukultureller Bildung?
Ausgehend von einem Ästhetikbegriff, der die sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnismöglichkeit versteht, sind Ästhetik und Bildung im Sinne eines sich selbst Bildens in meinem Verständnis eng miteinander verknüpft: Von der Erkenntnisleistung der Sinne bei Aristoteles in der Antike über die Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis bei Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert, Konrad Fiedler als einem am reinen Sehen und damit an der Erkenntnis durch den Sehsinn orientierten Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts, bis hin zu Gottfried Boehm, der den Zusammenhang von Sinnesorganen und Bildsinn für die Kunstgeschichte erschliesst (das Bild als sinnlich organisierter Sinn) und Max Imdahl, der in der Ikonik als kunsthistorischer Arbeitsweise im erkennenden Sehen das Wissen über die Werke mit dem anschaulich erschlossenen Wissen verbindet. In der Theoriebildung zur künstlerischen Forschung sind heute z.B. Elke Bippus und Kathrin Busch zu nennen, die diesen Strang aufnehmen und die erkenntnistheoretische Dimension der sinnlichen Erkenntnis durch Kunst argumentieren.
Insofern ist die Verbindungslinie zwischen Kunstpädagogik und Baukultur klar – es geht aus meiner Perspektive darum, die umgebende Architektur nicht lediglich als kulturelles Erbe architektonischer Formen und damit als (pädagogisch aufbereitetes) Bildungsgut zu erschliessen, sondern vielmehr darum, in der bewussten Wahrnehmung der umgebenden Architektur die Überlagerungen von Zeiten, die Einschreibung alltäglicher, repräsentativer und/oder hegemonialer Funktionen, aber auch das Potential des durch die Architektur definierten Raumes für aktuelle Herausforderungen und den zukünftigen Umgang mit dem Raum als selbststätige sinnliche Erkenntnis zu erschliessen. Das kunstpädagogische Handeln hat hier die Funktion, diese sinnliche Erkenntnis zu ermöglichen, zu initiieren und gegebenenfalls in einem partizipativen Vorgehen zu bündeln, den Austausch der Erkenntnisse zu ermöglichen, damit gewonnenes Wissen zu teilen und nicht zuletzt: Diskussionen über Zukunftsszenarien des gemeinsamen Raumes zu öffnen.
Mit deinem Projekt «Grenzgang» hast du den gebauten Raum gehend erforscht. Inwiefern kann das Spazierengehen als Forschungsmethode für das Thema baukulturelle Bildung interessant sein?
Im Projekt Grenzgang haben wir in einem Team von drei Künstler*innen bzw. Kunstvermittler*innen (Markus Schwander, Simone Etter, Daniel Brefin), einem Musiker (Amadis Brugnoni) und mir als Kunstwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin die Wahrnehmung von Raum erforscht. Unsere Arbeitsweisen waren durch unseren jeweiligen fachlichen Hintergrund bedingt: Sound, Video, Performance, Fotografie, Sprache und Text, Zeichnung, serielles und plastisches Arbeiten – immer verbunden mit spazierendem Gehen durch den trinationalen Raum der Region Basel. Wir haben uns für die Spaziergänge, die sowohl gemeinsam als auch individuell (nach einem bestimmten Rhythmus) stattfanden, verschiedene Aufgaben des Beobachtens und sinnlichen Wahrnehmens gestellt. Immer auf der Basis der eigenen Arbeitsweise – bereits diese Anlage hat unsere Wahrnehmung extrem geschärft. Die Triangulation der Ergebnisse als Installation ermöglichte es, die Vielschichtigkeit der durch die Aufgaben angelegten Wahrnehmungsfoki und die spezifischen Verknüpfungen, die sich durch diese Fokussierung zeigten, (etwa auf die haptische Wahrnehmung des Gehens unter besonderen Bedingungen), für die Vermittlung zu erschliessen.
Während einer mehrwöchigen öffentlichen Projektplattform haben wir auch mit Schulklassen gearbeitet. Sie erprobten Aufgaben zur Raumwahrnehmung beim Gehen und Handeln, beobachteten sich dabei gegenseitig und gaben uns wichtige Rückmeldungen aus ihrer – jugendlichen – Perspektive, die in die Entwicklung des Walkbooks eingeflossen sind. Dieses Walkbook ist eines unserer zentralen Projektergebnisse. Es ist ein kleines Arbeitsbuch des Gehens, beruhend auf dem Potential der sinnlichen Erkenntnis für die Wahrnehmung von Raum – in seinen hybriden Funktionen, seiner Ausdehnung, seinem Klang, seiner Beschaffenheit, seiner Wirkungsweise. Das Walkbook ist für Schulklassen, aber auch für andere Gruppen oder den individuellen Gebrauch konzipiert, zum Mitnehmen und Gebrauchen gedacht – und enthält ganz unterschiedliche Walks (Aufgaben im Gehen), die das Gehen verändern und so die Wahrnehmung von Raum immer wieder anders fokussieren. In der Summe entsteht damit eine vielschichtige, auf den Raum bezogene sinnliche Erkenntnis.
Für die baukulturelle Bildung erachte ich gerade diese vielschichtige sinnliche und sinnhafte Erkenntnis zum Raum als ein zentrales Moment für den zukünftigen Umgang mit und die Nutzung von Raum. Raum ist ein hohes Gut, mit dem wir heute und in Zukunft bewusst umgehen sollten.
Der gestaltete und gebaute Raum betrifft Kinder und Jugendliche auch in der Schule unmittelbar, was beispielsweise das Konzept des Raumes als «dritter Pädagoge» aufgreift. Welche Anknüpfungspunkte siehst du für die Kunstpädagogik bzw. für die kunstpädagogische Forschung zu diesem Konzept oder generell zum Thema «Schule und Raum»?
Das Konzept des Raumes als dritter Pädagoge macht die mittelbare und unmittelbare Wirkung des gestalteten Raumes zum Thema. Konsequenterweise setzen Schulen heute bei der räumlichen Gestaltung ihrer Räume an, um das Verständnis von Lernen als ein individuelles Selbst-tätig-sein in der Gemeinschaft der Lerngruppe durch den dritten Pädagogen des Raumes zu fördern. Das Konzept bietet jedoch Anknüpfungspunkte für alle Fachbereiche – sofern es nicht darauf beschränkt bleibt, Innenräume von Schulhäusern zu gestalten, sondern den gestalteten Aussenraum (Schulhof, Wege, Welt) mit einbezieht. Dies vorausgesetzt, bietet sich insbesondere die kartierende, die sinnliche Erfahrung einbeziehende Arbeitsweise, wie sie Christine Heil entwickelt hat, an, um aus der sinnlichen Wahrnehmung der Empirie heraus über die Distanzierung des Aufzeichnens (des Kartographierens) zu Erkenntnissen über diese gestaltete Welt zu gelangen. Christine Heil, Kartieren und Erfahrung. (Neu) Orientierung in Kunst, Wissenschaft und Lehre, Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe Terrain, Institut Arts and Design Education, Hochschule Gestaltung und Kunst Basel, FHNW. Der Vortrag wurde am 01.11.2019 gehalten. Das Kartieren dient dabei der Reflexion der eigenen Wahrnehmung – als ein Verfahren, das unabhängig von Alter und Vorbildung die eigene Wahrnehmung sich selbst vor Augen führt und damit gleichzeitig kommunizierbar macht, anders ausgedrückt: das Gespräch über dieses bewusst Wahrgenommene als ein Sinn erschliessendes Wahrnehmen eröffnen kann.
Zum Thema «Schule und Raum»: Schule kann und sollte die Vielschichtigkeit, das Hybride, die Herausforderung, die mit dem, was wir jeweils als Raum bezeichnen, verbunden ist, thematisieren und transparent aufzeigen, welche Rolle der Raum, die Räume, die Nutzung von Räumen in unserer und in anderen Gesellschaften spielen. Dabei kann und sollte die Kunstpädagogik einbringen, was aus künstlerisch forschender Perspektive bereits aufgeschlossen ist – die sinnliche Erkenntnis als ein zentrales Erkenntnismittel.