Die Materialisierung der Plattform. Infrastrukturen des Edutainment bei dis.art
Abstract:
Der Aufsatz nimmt DIS’ kuratorischen Beitrag für die Biennale de l’Image en Mouvement 2021 des Centre d’Art Contemporain Genève zum Ausgangspunkt. Die Praxis des Kollektivs bewegt sich zwischen analogem Ausstellungsdisplay und digitalem Streaming-Service. So betreibt DIS mit dis.art seit 2018 eine digitale Streaming-Plattform für Videokunst. Anfang der 2020er musste das soziale Leben pandemiebedingt über digitale Plattformen organisiert werden. Es erscheint als ein passender Zeitkommentar, dass die Biennale diese von Interfaces geprägte Gegenwart in eine Ausstellungsszenografie übertrug: Die Raumanordnung, die Verwendung entsprechender Requisiten und die Inhalte der einzelnen Schaukabinen versetzten die Besuchenden in die Infrastruktur einer Streaming-Plattform. Vom Tutorial bis zum Dokumentarfilm, vom Science-Fiction-Epos bis zur Serie sind Interfaces und Genres kommerzieller Streaming-Anbieter referenziert. Die Plattform ist materialisierte Werkform und verankert Edutainment-Formate im Kunstbetrieb. Mein Aufsatz verortet DIS’ Display insgesamt, und spezifischer das des Videos Everything but the World, im aktuellen plattformkritischen Diskurs.

Seit 2018 betreibt das New Yorker Kollektiv DIS die Streaming-Plattform dis.art. Darauf ist eine kuratierte Auswahl von Videokunst aus dem Umkreis des Kollektivs verfügbar. Viele Positionen sind einem europäischen Publikum spätestens seit der von DIS kuratierten 9. Berlin Biennale 2016 vertraut. dis.art ist gleichzeitig Produkt, künstlerischer Beitrag und kuratorisches Projekt, das die vorangehende Plattform DIS Magazine abgelöst hat. dis.art sieht dabei nicht nur aus wie ein Streaming-Anbieter – de facto ist sie einer. Denn ähnlich wie bei den Streaming-Riesen Netflix, Amazon Prime oder Mubi lösen die Kundinnen und Kunden ein monatliches Abonnement. Die Einnahmen über Privatabonnements scheinen dabei ein Tropfen auf den heissen Stein. In einem Interview äussern DIS, ihr Abomodell richte sich vornehmlich an Bildungsinstitutionen, die institutionelle Abos lösen: „Dis.art has a different model than other streaming platforms and magazines because we are tapping directly into universities and libraries, who subscribe on behalf of their students.“ (Madsen 2020) Bei DIS werden aber nicht nur die Finanzierungsmodelle von Tech-Unternehmen übernommen, sondern auch ihre programmatischen Entscheidungen adaptiert: Inhalte können nach neu hinzugekommenen Videos („Main“) gefiltert werden. Unter „Collections“ finden sich thematische Zusammenstellungen zu soziotechnischen und gesellschaftspolitischen Debatten, konkret „Technology“, „Identity“, „Nations“, „Capital“, „Nature“. Es gibt die Möglichkeit „Series“ anzuwählen, worunter wiederkehrende Produktionen zu sehen sind. So etwa „Circle Time“, ein Edutainment-Format. Darin erläutern Kunstschaffende einem Publikum aus Kleinkindern die Bedeutung von Konzepten wie Feminismus, Künstliche Intelligenz oder Queer Architecture. Geordnet ist, wie beim kommerziellen Vorbild, nach „Seasons“, also nach Staffeln. Das hat weniger produktionstechnische Gründe. Vielmehr führt es die Maschinerie der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie vor Augen, in der mit der Serialisierung zugleich Erwartungshaltung geschürt, Kundenbindung erzeugt und Nutzende „empfehlungsalgorithmisch“ (Rothöler 2020: 161) ausgewertet werden.

DIS ist für seine ungebrochene Mimikry und vermeintliche Distanzlosigkeit gegenüber dem digitalen Kapitalismus vielfach kritisiert worden, nicht zuletzt rund um die Kuration der 9. Berlin Biennale (vgl. Stakemeier 2015; Farago 2016; Joselit 2016). Die Verbindung von digitalen und analogen Anteilen in der Kunstproduktion und -präsentation ist dabei als manieristische Fingerübung einer unkritisch affirmativen Post-Internet-Art abgekanzelt worden. Ich argumentiere jedoch im Folgenden, dass das Kollektiv eine Strategie des kommentierenden kuratorischen Übersetzens anwendet. Dabei wird die Plattform zur materialisierten Werkform. So ist die Rückübertragung von Elementen der digitalen Plattformkulturen in den physischen Raum einer Kunstausstellung bisher wenig im Sinne des Kuratierens als einer kritischen Praxis diskutiert worden. Die Ausnahme: Wenger 2024. Die These ist, dass gerade das kuratorische Übersetzen, welches der Post-Internet-Art als manieristische, leere Geste vorgehalten wird, plattformpolitische Prozesse offenbart. Es geht um ein kuratorisches Hervorheben und Sichtbarmachen der soziotechnischen Regulierungspraktiken von neutral erscheinenden Technikumgebungen wie Plattformen. Dazu operiert DIS mit der Strategie der Analogisierung, die dem datenbasierten Kapitalismus auf einer materiellen Ebene zuwiderläuft. Solche Techniken eines materialisierten Antagonismus werden im aktuellen plattformkritischen Diskurs aufgegriffen. So stehen die verschiedenen Materialisierungsformen von dis.art im Zusammenhang mit rezenten Debatten zur sogenannten „Entnetzung“ (Zurstiege 2019; Stäheli 2021). Ich stütze mich dabei auch auf die Diskussion um eine „infrastrukturelle Kritik“ (Vishmidt 2021), also einer Kritik an den (im)materiellen Gemeinschaftsgütern, die qua Naturalisierung im Prozess der Moderne soziale Ungleichheit verstetigen.


Die Plattform zwischen Metapher und Digital Urbanism

Plattformen sind Ermöglichungsstrukturen für den Datenverkehr, produzieren dabei selbst aber keine Daten (vgl. Srnicek 2017: 49). Man mag zunächst auf die longue durée des Begriffes der Plattform im kuratorischen Diskurs verweisen. Zu grosser Bekanntheit gelangte er im Zusammenhang mit der Documenta11 (2002). Die Globalisierungs- und Repräsentationskritik des kuratorischen Teams um Okwui Enwezor mündete in ein zeitlich und räumlich gedehntes Ausstellungskonzept, das sich über insgesamt fünf „Plattformen“ erstreckte. Die Kasseler Filiale war die fünfte. Schon damals stand der Begriff im Kontext der digitalen Angebote des Self-Publishing des aufkommenden sogenannten Web 2.0. So wurde 2001 das heute noch existierende Social-Media-Lexikon Wikipedia ins Leben gerufen. Der Verweis in Enwezors Definition einer Plattform als einer „offenen Enzyklopädie“ erscheint insofern zeittypisch: „Platforms. Five constellations, domains of knowledge and artistic production, circuits of research. Platform – an open encyclopedia for the analysis of late modernity; a network of relationships; an open form for organizing knowledge; a non-hierarchical model of representation; a compendium of voices, cultural, artistic, and knowledge circuits.“ (Enwezor 2002: 49) Doch während der Kunstbetrieb das Plattform-Motto der Documenta11 vorwiegend als Metapher verstand, wies die Kunstkritikerin Pernille Albrethsen 2003 in einem wenig beachteten, doch erhellenden Text auf den materialisierten „platform formalism“ der Ausstellung hin: „[…] the documenta-Halle section of the actual exhibition (Platform 5) was a typical platform exhibition full of self-service activities; a substantial library, a videoteque consisting of hundreds of hours of video documentaries and several computers for surfing designated websites.“ (Albrethsen 2003)

Heute ist klar, dass die Architekturen der Plattformen keineswegs immateriell sind, sondern im Gegenteil messbare Emissionen und neue Landschaftsentwürfe produzieren. Es fallen einem als besonders plakative Beispiele die Serverfabriken und Stadtlandschaften des Silicon Valley ein (vgl. Maak 2022; Zschokke/U5 2023). Bereits 2014 hat die Architektin und Architekturtheoretikerin Keller Easterling darauf hingewiesen, dass Softwarelösungen und Plattformen heute Städte strukturieren. Sie führt dafür den Begriff des „infrastructure space“ ein und attestiert diesem eine eigene Agentialität:

„Infrastructure space is a form, but not like a building is a form; it is an updating platform unfolding in time to handle new circumstances, encoding the relationships between buildings, or dictating logistics. There are object forms like buildings and active forms like bits of code in the software that organizes building.“ (Easterling 2014: 14)

Es gelte, die spezifische, soziotechnische Materialität von Infrastrukturen als Zustand der Gegenwart in den Blick zu nehmen. Marina Vishmidt fordert entsprechend von der Kunsttheorie eine Verschiebung von der Institutionskritik auf eine „infrastructural critique“:

„Infrastructure, then, is always specific: it is sustained and maintained to achieve certain biopolitical outcomes, to enable certain strategies of accumulation that are founded on no-infrastructure, i.e. extraction and disposability of labours, lives and communities.“ (Vishmidt 2021: 19)

Der plattformkritische Diskurs hat dies aufgegriffen und so arbeiten die Wiener Architekturtheoretiker Peter Mörtenbröck und Helge Mooshammer heraus, wie fundamental die Infrastrukturen zur Datenaggregation der Tech-Konzerne die urbane Gegenwart modellieren (vgl. Mörtenbröck/Mooshammer 2020; Hodson/McMeekin/Stehlin/Ward 2020). All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie Plattformen nicht als neutrale und hierarchiefreie, sondern vielmehr als technisch kuratierte und „moderierte“ (Gillespie 2018) Systeme erachten. Ihre kommerziellen oder staatlichen Träger pflegen den Mythos einer Plattform-Neutralität, der seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaften kritisch befragt wird (vgl. Lovink 2019).

DIS’ Materialisierung einer Videostreaming-Plattform steht diesem Diskurs um die soziotechnischen Infrastrukturen der Gegenwart nahe, insofern die gebaute Analogisierung die Auswirkungen jener Infrastrukturen zutage treten lässt. Man mag hier auf Easterlings Unterscheidung zwischen „objekthafter Form“ und „aktiver Form“ verweisen, also einem materialisierten Zustand und der darunter liegenden, organisierenden programmierten Infrastruktur. Ich zeige im Folgenden, wie das Display zum Video Everything but the World die soziotechnische Materialität des Videostreamens körperlich erfahrbar macht. Darin werden die Besuchenden der Ausstellung jedoch als Mitverursacher der Infrastruktur und damit als ein Teil des sozioökologischen Problems dargestellt, das den zerklüfteten Handlungsstrang des Videos leitet.

 

Ich, in der Plattform

Ich besuche die Biennale de l’Image en Mouvement im Genfer Centre d’Art Contemporain im Winter 2021. Die Biennale geht auf die 1985 von André Iten gegründete International Video Week zurück. Sie war eines der ersten Festivals für Videokunst in Europa. Kuratiert wurde sie von DIS und dem Direktor des Hauses Andrea Bellini. Vorgestellt werden dreizehn zum Teil neu produzierte Videos und zwei immersive digitale Installationen. Sie stammen von Künstler*innen aus dem Umkreis von dis.art, wo die Videos zum Teil bereits liefen. Für die Biennale wurde auch die Zusammenarbeit mit Schweizer Künstlerinnen und Künstlern gesucht. Nach einer pandemiebedingten Auszeit ist die Biennale eine der ersten Grossausstellungen, die ich besuche. Das Ausstellungssetting mutet inmitten der Pandemie besonders widersprüchlich an. So ist die Rezeptionserfahrung auf digitalen Plattformen in eine Ausstellungsarchitektur übersetzt. Die Abfolge verdunkelter Räume, durch die ich mich bewege, ist kaum zu unterscheiden von der monotonen Videostreaming-Erfahrung während der Covid-Monate zuhause. Die Ausstellungsarchitektur ist unterteilt in Videokabinen, die ich meistens alleine betrete. Für jedes Video ist ein Raum reserviert. Je mehr Räume ich betrete, desto deutlicher tritt jedoch der Variantenreichtum der Kabinen zutage, denn der Inhalt jedes Videos ist unterstrichen durch ein spezifisch ausgearbeitetes Display. Beim Display zum Video Everything but the World führt das zu folgender körperlich herausfordernder Situation: Der fiktive Dokumentarfilm verlängert das Wüstensetting in den Ausstellungsraum (siehe Abb. 1).

DIS, Everything but the World, 2021, Videoinstallation, Ausstellungsansicht Biennale de l’Image en Mouvement ’21, Centre d’Art Contemporain Genève. © DIS und Centre d’Art Contemporain Genève/Cynthia Mai Ammann
DIS, Everything but the World, 2021, Videoinstallation, Ausstellungsansicht Biennale de l’Image en Mouvement ’21, Centre d’Art Contemporain Genève. © DIS und Centre d’Art Contemporain Genève/Cynthia Mai Ammann

Die Scheiben des Raumes des alten Fabrikareals, in dem das Centre d’Art Contemporain untergebracht ist, sind mit verdunkelnden Folien beklebt. Ich fühle mich in das dystopische, „transapokalyptische“ (Steffen 2021) Setting versetzt, in dem das Video zeitweise spielt. Auf dem Boden ist ein heller Teppich ausgelegt, dabei an die Wüstensequenzen des Videos gemahnend. Dass die Wüste im Video als artifizielle, menschengemachte Kulisse entlarvt wird (min. 03:19 – 04:15), findet seine Fortsetzung im Ausstellungsraum. Während ich auf einer der vier Heizdecken Platz nehme, bläst mir von oben ein Ventilator eiskalte Luft in den Nacken. Die absurde Sichtungssituation erschwert das Sitzenbleiben. Der Ausstellungsraum konfrontiert mich mit dem im Film skizzierten Szenario eines Klimakollaps. Im Drehbuch heisst es dazu:

„We hold on a picturesque desert view – a tourist attraction, an image on a postcard. A magical door opens in the middle of it, revealing this view is an image post-produced onto a blue screen. CREW MEMBER 1 walks out of it obligatorily. This is not a Paleolithic desert. This is a Holocene desert.“ (Secession Wien 2022)


Statt in sicherer Distanz dem Lauf der filmischen Katastrophe zuzusehen, wohne ich ihr im Ausstellungsraum bei. Zugleich bin ich Mitverursacherin der zerstörerischen Klimabilanzen, die der digitale Kapitalismus, mache er sich noch so unsichtbar, befördert. Die eigenen Verhaltensweisen des Medienkonsums werden im Ausstellungsraum mit der ökologischen Vollkatastrophe der künstlichen Klimaregulierung konfrontiert. Der kinematographische Raum der Ausstellung verstärkt die oftmals absurden, nebeneinander stehenden Widersprüche des filmischen Plots, indem er gerade kein ungestörtes Kinoerlebnis bietet. Vielmehr ergibt sich die immersive Konfrontation. So fühlt sich ein Gang durch die Biennale manches Mal an, als sei man direkt in das Gehäuse eines Computers hineinversetzt. Die Ventilatoren laufen auf Dauerbetrieb, um die Betriebssysteme zu kühlen. Die immersiven Räume des Centre d’Art Contemporain verbindet eine Installation des Kollektivs GRAU. Überdimensionierte Leuchtkörper erinnern an Dioden in den Schaltkreisen einer Festplatte und senden pulsierende Lichtimpulse aus. Die Plattform hat sich materialisiert. Die Besuchenden sind ein Teil davon.

Die Analogisierung der Videostreaming-Plattform vollzieht sich auch auf der Ebene der Raumfolge. So sind digitale Plattformen streng nach Genres geordnet. Hier bietet das Filmgenre als wichtigstes Klassifikationsmerkmal Orientierung beim Streaming-Erlebnis. Das Display der Biennale macht sich die Gattungstypologie der Streaming-Riesen zu eigen. Jedes Video wird in einem je spezifischen Dispositiv der Bewegtbildbetrachtung gezeigt, oder besser: Die immersive Ausstellungsarchitektur dekliniert jene kinematographischen Realräume durch, die für die Rezeption der unterschiedlichen Genres gestaltet wurden (vgl. Haberer/Frohne/Urban 2019). In der Ausstellung steht so Wohnzimmer neben Kino, Schulbank neben Fitnessstudio, Foyer neben Lounge. Die präzise Gestaltung der Requisiten und Sitzgelegenheiten verstärkt die Gattungsordnung im Ausstellungsraum. Die fiktive Nachrichtensendung Saturday von Camille Henrot in 3D wird auf sporadischen Museumsbänken rezipiert; Emily Allens und Leah Hennessys queerer und im Blind-Casting-Verfahren besetzter Historienfilm über Mary Shelley mit dem Titel Byron & Shelley: Illuminati Detectives schauen die Besuchenden vom Biedermeier-Sofa aus an. Für den achtteiligen künstlerischen Musikclip Santa Sangre von Sabrina Röthlisberger Belkacem lümmelt man sich auf Sitzsäcke, die auch im Club liegen könnten. Für Theo Anthonys Dokumentar-Videoinstallation auf drei Bildschirmen zum Einsatz von Bodycams bei Polizisten in Baltimore fühlt man sich dank entsprechender Bestuhlung in Schulungszentren versetzt. Das hat direkte Auswirkung auf die Art und Weise der Rezeption. Entgegen dem Titel der Arbeit Neutral Witness ist man eben nicht passive*r Zuschauer*in, sondern wird im Verlauf der Rezeption des Videos selbst zu Geschulten. Weitere Räume entwerfen ein Setting für ein Celebrity Magazin, eine Edutainment-Serie, eine Scripted-Reality-Gerichtsshow, einen Animationsfilm, einen Porno, eine Kochshow, ein Märchen, eine 24h-Live-Produktwerbesendung. Die strenge Typologie, der die Ausstellung unterworfen ist, weist die Plattform als zeitgenössische Realität aus. In der Biennale fühlt man sich, um es mit dem Titel einer aktuellen Publikation des Netztheoretikers Geert Lovink (2022) zu sagen, „stuck on the platform“. Und dies trifft nicht nur im übertragenen Sinne zu, denn die Bildwelten, damit verbundene politische Entscheidungen (blind casting) und die durch ihren Konsum erzeugten Emissionen haben reale Auswirkungen.

 

Kritik der Entnetzung

Social-Media-Plattformen sind zum Symbol eines Kulturverständnisses der soziotechnischen Vernetzung geworden. Aufgrund ihrer zunehmenden Kapitalisierung sind sie in den letzten Jahren stark in Verruf geraten (vgl. Vogl 2021; Habermas 2022). Die Hyperkapitalisierung der Plattformen hat daher jüngst Gegenbewegungen und, an die Nutzer*innen gerichtet, die Forderung nach einem Totalverzicht hervorgebracht. Die Idee sich zu „entnetzen“ ist Ausgangspunkt für zahlreiche antidigitale akademische Publikationen der letzten Jahre aus den Bereichen der Psychologie, der Soziologie und der IT (vgl. Lanier 2018; Zurstiege 2019; Stäheli 2021). In der radikalen Variante raten die Autor*innen dazu, den medialen Entzug anzutreten. Diese jüngst erschienenen Publikationen reihen sich ein in eine lange Diskursgeschichte des Medienausstiegs: Die frühe Privatisierung des Fernsehens in den USA rief in den 1970er-Jahren die Kulturkritik auf den Plan, darunter auch Künstler*innen. Jaron Laniers Buch referenziert im Titel und in der Gestaltung des Covers direkt Jerry Manders’ (1978) Fernsehkritik Four Arguments for the Elimination of Television, New York, W. Morrow. Die Kulturgeschichte des Medienausstiegs äußerte sich etwa in Form von Interventionen in den Werbeblöcken des Fernsehens, die unkommentiert gesendet wurden und auf diese Weise für Irritation beim Fernsehpublikum sorgten (vgl. Nieslony 2017). Man denke an Richard Serras und Carlota Fay Schoolmans TV-Intervention Television Delivers People aus dem Jahr 1973. Im Video, das in den USA zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde, ertönen Botschaften wie: „The Product of Television, commercial Television, is the Audience. Television delivers people to an advertiser. […]. You are consumed. You are the product of television. Television delivers people.“ Richard Serra und Carlota Fay Schoolman (1973): Television Delivers People, 30. März, online unter: https://ubu.com/film/serra_television.html [11.07.2024]. Den Ton der Botschaften konterkarieren Serra und Schoolman mit einem typischen Stilmittel der Werbung: Die Untermalung mit Fahrstuhlmusik zeigt an, mit welchen Mitteln das Fernsehen die Zuschauer*innen einlullt. Ihre Medienkritik entfaltet sich zwar innerhalb des kritisierten Massenmediums des Fernsehens selbst. Sie nutzen ihre Sendezeit jedoch zur kulturkritischen Aufklärung.

In Everything but the World taucht die kulturkritisch-aufklärerische Stimme ebenfalls auf, als moralisches Gewissen, das ausgerechnet für die US-amerikanische Fast-Food-Kette White Castle arbeitet. Die allwissende Stimme mit dem Namen Mark ertönt zunächst aus einer Sprechanlage des Drive-in, in die eine weiblich gelesene Person vergeblich ihre Bestellung aufzugeben versucht. Im Verlauf des Monologs wirft Mark einen spekulativen Blick auf einen Archäologen der Zukunft, der aufgrund des Fast-Food-Konsums der Gegenwart statt Dinosaurierknochen auf die Überreste von zig Milliarden Hühnerflügeln treffen werde – alles Reste des Fast-Food-Konsums bei entsprechenden Ketten. Der Plot-Twist am Ende der Sequenz weist Mark als einen Schwarzen Systemgastronomie-Mitarbeiter aus, der während seiner Schicht das Geschäftsmodell von White Castle so lange zu zerreden beginnt, bis den Kundinnen und Kunden der Appetit vergeht – oder sie die Geduld verlieren und wegfahren. In den Monolog ist dokumentarisches Footage eingearbeitet, das auch von Überwachungskameras stammen könnte, mit denen das Personal in entsprechenden Ketten bei der Arbeit gefilmt wird. Der Realität des Überwachungsvideos steht das kecke Selbstmarketing des Mitarbeiters Mark gegenüber, der sich am Ende der Sequenz (min. 30:20) mit dem Handy selbst filmt und dabei Social-Media-Kanäle nutzt, auf denen er seine subversiven Aktivitäten festhält. Er macht dabei in Arbeitskleidung zugleich Werbung für seinen Arbeitgeber wie für seine eigene aufklärerische Sache (siehe Abb. 2).

DIS, Everything but the World, 2021, video still, min. 30:20. DIS.art. © DIS
DIS, Everything but the World, 2021, video still, min. 30:20. dis.art. © DIS

Während Serra und Schoolman durch Slogans das Fernsehpublikum wachrütteln, ist der Anspruch bei dis.art ein anderer. Ihre Plattformkritik setzt auf Involvierung. Dieses wird wirksam in der Übersetzung und der „Analogisierung“ (Stäheli 2021: 381), ein Begriff, den ich Urs Stähelis Monografie Soziologie der Entnetzung entnehme. Die Dislokation vom digitalen Wirkungskreis in den physischen Ausstellungsraum adressiert die Involvierung der Besuchenden in die ökonomischen und politischen Realitäten der Plattformdienste. Zielten Serra und Schoolman auf die Veränderung des mediatisierten Status quo, trägt dis.art zum Erhalt dessen bei. Wer bei DIS einen Bruch oder eine kritische Distanz zu den Techniken des Plattformmarketings erwartet, wird enttäuscht: dis.art geht im Distributionsmodell auf. Ihr Vorschlag lautet nicht, sich zu entziehen oder sich gar zu entnetzen. In der kuratorischen „Analogisierung“ wird die Realität der plattformisierten Gegenwart anschaulich. Hier zeigt sich, dass Plattformen eigene Netzökonomien hervorgebracht haben, die nicht im Wirkungskreis des Digitalen verbleiben, sondern über ihn hinausreichen. Dass wir als Plattformnutzende alle Teil dieser Netzökonomien sind, uns diesen nicht entziehen (können), uns ihnen aber dennoch kritisch gegenüber verhalten können, steht als auszuhaltender Widerspruch über der künstlerischen Praxis von DIS. Die Infrastrukturen des digitalen Kapitalismus haben sich materialisiert und für ein Abmelden ist es zu spät.

Von diesen Widersprüchen nicht ausgenommen, ist die Ökonomie des zeitgenössischen Ausstellungssystems. Beatrice von Bismarck hat gezeigt, wie Ausstellungsdisplays als „immaterielle Infrastrukturen“ soziotechnische Regulierungen ausüben, die zur Betriebsroutine der Gegenwartskunst gehören: „These immaterial infrastructures are characterized by their own historicity, since the display in its current usage is always defined by the modes of use, costums, objectives, and protocols that defined its use in the past.“ (von Bismarck 2022: 113) DIS pflegt den Widerspruch der Gegenwart, indem es die ökonomischen Muster und Erwartungshaltungen des zeitgenössischen Kunstbetriebs bedient. Denn in seiner analogen Form ging dis.art auf Ausstellungstour. Bereits für DIS Presents: What Do People Do All Day 2020 in der Kunsthal Charlottenborg in Kopenhagen hatte das Kollektiv die Streaming-Plattform dis.art in ein physisches Ensemble übersetzt. Parallel zur institutionellen Schau erhielten Personen mit einer dänischen IP-Adresse freien Zugang zu dis.art (vgl. Madsen 2020). 2022 zeigte die Wiener Secession, 2023 schliesslich der Schinkel Pavillon die Videoinstallation Everything but the World. Die analoge Version von dis.art geht im Ausstellungsraum in Serie.




Referenzen

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Kurzbiografien der Autor_innen: