Humus
Abstract:
Humus in Verbindung mit Erde ist in der Regel in der obersten Schicht des Erdbodens ¬– in zehn bis dreissig Zentimetern Tiefe – als verletzliche, fragile Substanz enthalten. Dieser Bereich ist ein zentraler Lebensraum unterschiedlicher Lebewesen. Der Zustand der Böden ist derzeit weltweit äusserst schlecht. Sie gehen durch intensive Landwirtschaftsnutzung, zum Beispiel durch Überweidung für Fleischproduktion und der damit verbundenen Bodenerosion, verloren. Ein weiterer Faktor ist die Zubetonierung, die Versiegelung der Böden. Das folgende Experiment fokussiert auf Humus als lebendige, performative Substanz und spielt mit dem Moment der Überraschung. Eine Tonne Humus, als Berg aufgeschichtet, empfängt die Schüler*innen in einem mit grossen Plastikplanen begrenzten Raum. Dieser wird als fast wissenschaftliches Forschungslabor inszeniert. Mikroskope, Laborgläser, verschiedene Aufbewahrungsbehälter, Handschuhe, Pipetten, Lupen, Pinzetten, Mörser, usw. liegen auf Tischen bereit. Jede/r Schüler*in erhält eine eigene Forschungsschachtel und etwas Humus. Der Materialberg wird zum Reservoir und Auslöser für künstlerische Forschung. Hier lassen sich ästhetische Prozesse erzeugen und beobachten. Die gestalterisch forschende Auseinandersetzung mit dem Material Humus verstehe ich als eine Form der individuellen Vertiefung und des Denkens. Neue Wissensformen werden dabei generiert. Gewohnte Wege der Herangehensweise werden verlassen, unbekannte Materialerfahrungen und Wahrnehmungen können selber erzeugt, neu entdeckt und gesammelt werden. Damit lädt das Material Humus ein, zu experimentieren und unterschiedliche künstlerisch forschende Wege zu erproben zu den globalen, gemeinsamen Fragen.

1 künstlerisches Forschungsprojekt am Propädeutikum der Schule für Gestaltung Biel im Januar 2018. 1 Tonne Humus. 4 exemplarische künstlerische Arbeitsmethoden. 1 Projektarbeit. 2 Wochen Zeit. 1 mündliche Reflexionsrunde am Ende des Projektes. 8 Textfragmente aus mündlichen Rückmeldungen. 1 Archivausstellung. 45 Studierende. 5 Dozierende. 1 Forschungslabor. 1 Aktionsraum. 1 Farblabor. 1 Malatelier. 1 Werkstatt. 45 persönliche Arbeitsplätze.

Humus, ein Projekt mit Studierenden des Propädeutikum Biel

 

Grosse Plastikfolien definieren den Aktionsraum. Der Boden ist mit  Malerabdeckfolie vollständig abgedeckt. Im Hintergrund, grossformatig auf die Wand projiziert, läuft ein Youtube-Video. Eine weibliche Person arbeitet, sich selbst flüsternd kommentierend, in einem Labor.

Der Raum wird als Forschungslabor inszeniert. Mikroskope, Laborgläser, verschiedene Aufbewahrungsbehälter, Handschuhe, Pipetten und Mörser liegen auf Tischen bereit. 

Fan und begeistert von all dem Material sind wir als Dozierende. Infiziert. Wir sind von der Idee, mit Humus zu arbeiten, verführt und wollen die Studierenden damit überraschen und zu eigenem Tun verführen.

Vorhang auf!

Die Studierenden ziehen sich vor dem Eintreten in den Raum weisse Überziehstulpen über ihre Schuhe und medizinische Handschuhe an. Sie betreten den Raum durch eine Abschrankung aus Plastikfolie. 

Ich sehe das Material. Die Farben. Den Raum.  

Ein Berg. In der Mitte des Raumes. Eine Tonne Humus. Eine dunkelbraune grosse Masse von unendlich vielen kleinen Einzelelementen abgestorbener organischer Substanzen, die einmal im oder auf dem Boden gelebt haben. Gerüche des fermentierenden Erdmaterials. Feuchtigkeit spürbar im Raum. Sinnlich, verführerisch geheimnisvoll ruht der Humusberg in seiner eigenen Präsenz und Schwere von einer Tonne Erdmaterial.

Methode

Anhand unterschiedlicher Wissenspositionen versuche ich in meinem Text in Form einer Collage aufzuzeigen, wie ein künstlerisch forschender Arbeitsprozess im Rahmen des Propädeutikums der Schule für Gestaltung Biel entwickelt wurde. In den «Exercises» bilde ich die Rahmenbedingungen, Haltungen und Arbeitsmethoden des Dozierendenteams ab. Im Sinn des situierten Wissens (Haraway 1988: 575) [1] sind wir und ich ein Teil davon und damit in den forschenden Arbeitsprozess über Unterrichtsmethoden involviert. «Die Exercises» werden im Textbild mit einem horizontalen Strichverlauf markiert. Die dichte Beschreibung stellt die Form des künstlerischen Forschungsprojektes und das Vorgehen dar. Die kursiv eingefügten fragmentarischen Textpassagen stammen aus Rückmeldungen der Studierenden. Die mündliche Auseinandersetzung am Ende des Projektes dient zur Reflexion über den eigenen Arbeitsprozess der Studierenden und uns, um unsere Unterrichtsmethoden weiter zu entwickeln.

Freier Fall. Alles leer in mir. Nicht fassbar.

Abstrahieren

Fünfundvierzig Studierende gehen im Raum, betrachten den Berg und die ausgelegten Forschungsinstrumente. Sie setzen sich um den Berg herum. Der Moment der Überraschung lässt sie in stiller Betrachtung wahrnehmen und staunen. Etwas, das wir scheinbar zu kennen glauben, wird im Kontext dieser Laboranlage und Menge von einer Tonne Material zu etwas Fremdem und Unbekanntem. 

Der Boden wird mir unter den Füssen weggezogen. Ich falle. Der Fallschirm öffnet sich.

Was geschieht hier? Was soll das? Das sind Fragen, die ein Feld öffnen sollen für eigenes Handeln, Machen, Wissen und Forschen fernab stereotyper Vorstellungen und Haltungen. Diese wollen wir mit dieser Arbeitsanlage aufbrechen, ablegen, befragen und spielerisch experimentell neu definieren. Es geht darum Distanz zu gewinnen zu etwas scheinbar Alltäglichem im Moment der Überraschung und damit eine Form von Abstraktion zu erschaffen, um mit allen Sinnen wahrnehmen zu können. Ein Abenteuer wagen. Einen Weg gehen, von dem wir noch nicht wissen, wohin er uns führen wird.


Exercise 1

Das Projekt funktioniert als «Scharnier» im Übergang zwischen experimentellen und offenen Formaten in der Hälfte des Schuljahres des Propädeutikums. Hier werden verschiedene künstlerische Arbeitsmethoden bewusst exemplarisch aufgezeigt und erfahren. Dieses bewusste prozesshafte Arbeiten bildet das Handlungsmodell der eigenen Vorgehensweise in den folgenden Modulen. Halbtägige Sequenzen zu ausgewählten künstlerischen Arbeitsmethoden führen in die eigene Projektarbeit der Studierenden ein. Analysieren, Experimentieren, Sammeln und einander etwas Schenken, eine Gabe überreichen sind unsere Arbeitsfelder.

Ein wesentlicher Punkt in der gemeinsamen Arbeit der beteiligten Dozierenden ist die dialogische Form, in der wir uns gegenseitig Impulse und Erweiterungen zu Methoden für eine professionelle Begleitung der Studierenden geben. Ein Echoraum zur Überprüfung der eigenen Haltung und Position entsteht dabei, der sich dynamisch immer weiter neu bewegt, definiert und aus sich selbst heraus formt. Auch wir als Dozierende sind in dem Moment Forschende in einem experimentellen Labor voller Möglichkeiten, Fragen und dynamischer Formen.

Handeln

Angesichts der dringenden Probleme unserer Welt ruft Haraway in ihrem Buch «Un- ruhig bleiben» dazu auf, eine bewohnbare Erde in anhaltend beunruhigten Zeiten entstehen zu lassen und nicht im Zaudern und Erstarren darüber gefangen zu bleiben. (Haraway 2018: 200) [2]

Das «Anthropozän» betitelt den radikalen Eingriff des Menschen als Hauptakteur in die Natur. Der Begriff kam durch geologische Messungen zustande und wurde von Paul Crutzen, Athmosphärenforscher, gemeinsam mit Eugene F.Stoermer, Biologe, im Jahr 2000 geprägt.

Haraway entwirft im Blick auf das «Anthropozän» eine eigenständige Theorie für ein neues Zeitalter aus der dringenden Notwendigkeit für ein radikales und kollektives Handeln. Humanität kommt bei ihr von Humus und nicht von Anthropos oder Homo. Humanität bezeichnet normativ die Vorstellungen darüber, was ein Mensch ausmacht und wie er sich im Rahmen von richtig und gut im Kontext der jeweiligen Weltan- schauung verhält. Anthropos oder Homo kommen aus der langen geschichtlichen Tradition, die vor allem vom Mann geprägt wurde. «Human» komme eben von Humus, schreibt Haraway. Statt von «post-human» spricht sie lieber von «kompost». (Haraway 2018: 134) [3]

Das «Wieder-lebenswert-Machen» und das Denken über Zukunft inmitten von «po- rösen und fragilen Geweben und offenen Rändern, von beschädigten aber noch wei- ter bestehenden Welten», veranlasst Haraway zum Handeln aufzurufen. Sie fragt sich, was es heisst, die Fähigkeit des Denkens und damit des selbstermächtigten Handelns aufzugeben, in Zeiten, wo es so dringend ist, hinzuschauen, und ruft dazu auf: Wir müssen denken. Anders denken als bisher. (Haraway 2018: 51) [4]

Doch wie können wir angesichts der Herausforderungen der von uns teilweise erhaltenen, aber zerstörten und ausgebeuteten Natur und Erde neu denken und ins Handeln kommen? Auf welche Weise können wir bei den Studierenden und uns eigene Haltungen und Vorgehensweisen entwickeln? 

Der Raum mit dem Berg aus Humus ist im ersten Moment der Auslöser für Sprachlosigkeit, auch die eigene, angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Zeit. Gewaltig. Raumgreifend. Vor sich hin transformierend. Mit Hilfe von Mikroorganismen verwandelt sich abgestorbenes Material zu einer fragilen Schicht, die in ihrer Existenz bedroht ist, für neues Leben auf der Erdoberfläche.

Wir experimentieren gemeinsam das Wahrnehmen, das Machen und Handeln.

Analysieren

Die Studierenden schlüpfen in die Rolle der Forschenden. Die bereitgelegten Laborinstrumente unterstützen sie dabei. Sie erhalten je eine Kartonschachtel im A3-Format und starten mit einer Portion Humus zur Analyse. Nach einem halben Tag treffen sich alle wieder im Laborraum mit den ersten Ergebnissen. Die Kartonschachtel dient als Dokumentations- und Spurengefäss der entstandenen Arbeit und beinhaltet die eigene künstlerische Forschung.

Exercise 2

Bei allen angewandten künstlerischen Arbeitsmethoden erscheint es uns als Dozierendenteam wichtig, dass die Studierenden nicht über schriftliche Notizen und Reflexionen eine gestalterische Arbeit beginnen, sondern dass sofort die Haltung des/der Agent*in, Akteur*in eingenommen wird. Damit erschliesst sich die eigene Arbeit über das Berühren und Berührtwerden. Momente voller intensiver sinnlicher, sensitiver Auseinandersetzung und Materialien formen sich, die als Ausgangslage für die nächsten Arbeitsschritte hilfreich sind. Der analytische Zugang hinterlässt Spuren auch in Form von Dokumentationen und Versuchsanordnungen.

Der erste Moment meiner Wahrnehmung kommt mir wie eine angelaufene Scheibe vor. Ich wische mit der Hand über das Glas. Erst jetzt sehe ich klar.

Experimentieren

Nach dem gemeinsamen Betrachten und Austausch über die Analysen erfolgt eine halbtägige Sequenz mit eigenen experimentellen Herangehensweisen ausgehend vom Material Humus. Der Rollenwechseln zur Akteur*in wird zum Teil als Befreiung von der vorherigen Handlungsanweisungen erlebt. Spiel, Performance, Fotographie, Video, Malerei und Zeichnung sind nun Felder für experimentelle Zugangsweisen. Die neu entstandenen Versuchsanordnungen werden am Ende der Sequenz im Labor ausgelegt. 

Ich bin überfordert, weil es zu viele Eindrücke und Möglichkeiten gibt. Ich bin erleichtert, wenn ich arbeite.  

Sammeln

Aus der Auslage der eigenen Arbeit wird nun ein einzelnes Element ausgewählt. Zu diesem soll in einem halben Tag eine Sammlung entstehen. Diese kann aus Objekten, Fotos, Performances, Zeichnungen, Malereien, Drucken, usw. bestehen. Sammlungsstücke können auch selber hergestellt werden. Dem Dozierendenteam ist es in diesem Moment wichtig, dass das Material Humus in unserem Setting lediglich der Auslöser für künstlerisch forschendes Arbeiten ist. Die neue Perspektive auf weitere Materialien, die beim Sammeln nun dazu kommen, ermöglicht eine Öffnung der eigenen Vorgehensweise im Bereich Recherche und Analyse. 

Exercise 3

Das archivierende Sammeln als künstlerischen Ansatz seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bezeichnet Hal Foster als „Archivalischen Impuls“. (Foster Hal: 2004) [5] Mit diesem Ansatz erarbeiten die Studierenden exemplarisch ein eigenes Sammlungsarchiv, wobei der Prozess und die Sammlung gleichwertig als Werk betrachtet werden können. Diese Erfahrung möchten wir mit den Studierenden zusammen teilen, erleben und aufzeigen. 

Es ist aufregend. Ich fliege.

Schenken

Eine grosse Auslage von individuellen Sammlungen präsentiert sich nach diesem halben Tag im Laborraum. Die Studierenden stehen in einem Kreis um die Auslage. Wir teilen den Kreis in zwei Hälften. Jede/r Studierende formt mit seinem Gegenüber in diametraler Blickrichtung ein Binom. Gegenseitig stellen sie sich anhand der erstellten Versuchsanordnungen ihren Arbeitsprozess an ihren Atelierplätzen vor. Es wird ausgetauscht und gezeigt, was entstanden ist. Im nächsten Schritt entwickeln die Beteiligten ein Arbeitskonzept aufgrund der Erzählungen, den Ergebnissen und Spuren der künstlerischen Forschung für den/die Partner*in des Zweierteams. Die Arbeit vom Gegenüber soll im Geheimen, ohne dass das Gegenüber etwas davon mitbekommt, weitergeführt, als Geschenk verpackt und überreicht werden.

Exercise 4

Etwas schenken, eine Gabe überreichen ist eine vertraute Handlung über Austausch, Verbindung und Kommunikation jenseits der Sprache. Wer jemanden etwas schenkt, fordert das Gegenüber auf, in Beziehung zu treten. Das Wahrnehmen des Anderen und der Aufbau von gegenseitigem Vertrauen sind wichtige Elemente unserer Vorgehensweise. Für jemanden etwas zu machen bedeutet eine besondere Art von Motivation, sich auf einen künstlerischen Arbeitsprozess einzulassen. Sich selber von der eigenen künstlerischen Forschungsarbeit in dieser Phase zu distanzieren, die Autor*innenschaft aufzugeben und eine neue Perspektive einzunehmen, eröffnet ungeahnte Felder und Möglichkeiten für eigenes Handeln unter Einbezug der Wahrnehmung des Gegenübers, das wir über die künstlerische Arbeit und den Austausch wahrnehmen, wertschätzen und neu kennen lernen. Wir sehen dieses Vorgehen als Versuch- und Übungsfeld für kollaboratives Arbeiten. 

Wenn wir uns im tiefsten Innern erkannt und wahrgenommen fühlen, meine ich, ist es ein grosses Geschenk, das wir erhalten werden. Dankbarkeit für die erhaltene Gabe gegenüber jemandem zu empfinden und auszudrücken, kann eine neue Spur von Verständnis von Welt aufbauen und vielfältige Verbindungen ergeben: zwischenmenschlich, kollektiv, damit gesellschaftlich und politisch. Denn „Dankbarkeit wird angetrieben von der Anerkennung aller Lebewesen als Subjekte“ und „ist damit die mächtigste Antwort, die wir der Erde geben können, denn sie eröffnet die Möglichkeit zu Gegenseitigkeit: den Akt des Zurückgebens.“ (Kimmerer 2021: 11)  [6]

Die Studierenden haben zum Teil auch noch nach dem Unterricht am Geschenk weitergearbeitet. Zum Schulstart stehen geheimnisvolle Gebilde von Verpackungen und kleine Installationen im Laborraum. Sorgfältig verpackt und inszeniert warten sie hier auf die Übergabe. Skizzen und Entwürfe von möglichen Realisierungen und Ideen füllen die beigelegten Konzeptblätter. Diese hatten wir abgegeben, um weiterführende Projektpläne, die in diesem Zeitraum nicht realisierbar waren, spekulativ skizzenhaft anzudenken.

Endlich ist es soweit! Die Spannung steigt! Gegenseitig werden die Geschenke in Form von weiterführenden Arbeiten überreicht. Erstaunte und überraschte Gesichter begegnen uns, wenn die Gaben überbracht werden. Köpfe werden zusammengesteckt. Die Stimmen beim Auspacken, Betrachten und gegenseitigem Austausch über die erhaltenen Gaben erfüllen den Laborraum. Einen magischen Moment meine ich wahrzunehmen, den wir als Dozierendenteam mit den Studierenden teilen können. Fast ein Geburtstagsfest? Ja!

Ausgerüstet mit der besonderen erhaltenen Gabe und den ersten Versuchen, auch nach den Ideen vom Gegenüber, starten die Studierenden ihre individuelle Projektarbeit. Dabei können die künstlerischen Arbeitsmethoden, die sie schon kennen gelernt haben, wieder angewandt und mit eigenen Zugangsweisen erweitert werden. Die Vorgehensweisen sind nicht linear, sondern wachsen wie feine Linien in den Raum, die allmählich ein Geflecht von Verbindungen und offenen Enden ergeben. Diese gilt es, nun am eigenen Atelierplatz zu entdecken und weiter zu entwickeln.

Nicht fassbar. Das letzte Mal einatmen vor dem Start.

Der Übergang von den geführten und klar definierten Sequenzen, unter Anwendung von künstlerischen Arbeitsmethoden hin zu einer eigenen Vorgehensweise, ist für einige Studierende sehr anspruchsvoll. Das Dozierendenteam führt Arbeitsgespräche und begleitet die Studierenden. Für alle Beteiligten gilt es solche Momente von nicht weiter Wissen auszuhalten. Was mache ich nun? Auf welche Ressourcen greife ich zurück? Und auch hier bewährt sich, dass ein Material, sei es ein Stift, ein Stück Ton, usw. in die Hand genommen wird, damit die Studierenden sofort ins Machen und Handeln kommen. Auch wenn noch nichts „Richtiges“ entsteht.

Ich habe Vertrauen in etwas, das entsteht. Ich bin, mit dem was ich tue, emotional verbunden. Ich handle aus dem Gefühl heraus. Ich denke nicht dabei.

Es ist ein exemplarisches Vorgehen, was erst erlernt und erfahren werden muss. Dadurch, dass wir etwas mit den Händen berühren, damit in Dialog mit dem Material und unseren inneren Wahrnehmungen, kommen, kann etwas entstehen. Das Vertrauen, dass das geschieht, kann hier erfahren werden. 

Der eigene Arbeitsprozess der Studierenden wird im Skizzenbuch festgehalten. „Speed-Datings“ mit den Dozent*innen, als kurze Sequenzen während zwei Tagen an Tischen im Laborraum inszeniert, ermöglichen Feedbacks und Reibung im Austausch mit den Studierenden. Die Arbeitsmethoden und Projektkonzepte der Geschenkideen sind an einer Wand im Laborraum als offenes Denk-, Inspirations- und Arbeitsfeld auf vielen Blättern skizzenhaft fragmentarisch dargestellt.

Ich sehe, entdecke und erlebe.  

Die Ausgangslage mit dem Material, dem gestalteten Setting und dem Zeitgefäss ergibt für die Dozierenden und Lernenden eine experimentelle Laborsituation. Das Scheitern und neue Überdenken sind Elemente unseres Lernprozesses. Spontane Aktionen, Performances und Ideen bereichern die gemeinsame Projektarbeit. Das Einbringen unserer persönlichen Zugangsweisen über Inputs, wie zum Beispiel mit einer Sammlung eines Dozierenden von Textfragmenten von Wissenschaftler*innen und Forscher*innen zu ihrer Arbeitsweise, aufgehängt im ganzen Haus, ergibt unerwartete Schnittschnellen zu den eingeführten Arbeitsmethoden. 

Wir Dozierenden befragen unsere eigene Vorgehensweise während diesen zwei Wochen laufend, nehmen wahr, was im Arbeitsprozess der Studierenden geschieht und passen den Unterricht entsprechend an. Die ständige Reflexion während des Arbeitsprozesses erschliesst mir das Denken und Handeln der Dozierenden, die mitarbeiten, kommt in Dialog mit meiner eigenen Selbstwahrnehmung und lässt uns Methode und Inhalt auf ihre Anwendbarkeit befragen. Wir arbeiten bewusst nicht mit Rezepten. Durch Störungen und Irritationen im eigenen Arbeitsprozess entstehen neue Wege.


Exercise 5

Zum Abschluss des Projekts werden alle Arbeitsplätze der Studierenden für einander sichtbar gemacht. Die Präsentationsform haben wir mit den Studierenden zusammen erarbeitet und entwickelt. Spuren der prozesshaften Arbeit und Produkte werden in Form einer Archivausstellung einander gezeigt. Der Arbeitsprozess wird im Gespräch reflektiert. Alle Arbeiten werden durch die Studierenden auf unserem Blog dokumentiert.

Ein Teil davon sein

Die erste Arbeitsmethode „Analysieren“ ermöglichte den Studierenden eine Haltung zu entwickeln, nicht gleich „Kunst“ produzieren zu wollen. In dieser Phase ging es darum, nicht die eigenen Ideen und Vorstellungen über das Material Humus zu „stülpen“ sondern zu erfahren, wie das Material die Studierenden leiten kann und was es ihnen mitzuteilen hat. Eine Art Respekt gegenüber dem Material Humus und das bewusste Wahrnehmen ermöglichten einen forschend analytischen Zugang.

 In der Phase des „Experimentierens“ wurde mutig, Grenzen überschreitend, lustvoll und sinnlich mit dem Material Humus gearbeitet.

„Sammeln“ erweiterte die Materialkompetenz und die Strategien zur Recherche.

„Schenken“ war der unvorhergesehene Höhepunkt des ganzen Projektes. Es erzeugte eine so grosse Fülle von Ideen und Zugangsweisen, dass unser Projekt noch bedeutend länger hätte dauern können, um an den „geschenkten“ Konzepten weiterzuarbeiten, eigene Perspektiven und Erkenntnisse zu hinterfragen und zu integrieren.

Die individuelle Projektarbeit war von einer grossen Reichhaltigkeit von Techniken und Zugangsweisen geprägt, wovon die entstandenen Arbeiten sprechen.

Das Team der Dozierenden ist durch diese Arbeit insbesondere auch über die dialogische Form, über professionellen Unterricht und über künstlerische Arbeitsmethoden zusammen gewachsen und hat in den folgenden Jahren auf dieser Basis weitere Projektformate von einem Material ausgehend entwickelt.

Über die Arbeit mit experimentell künstlerisch forschenden Arbeitsmethoden haben unsere Studierenden wissenschaftliche Zugangsweisen simuliert, spekuliert, erzählt, dynamisiert, experimentiert, interpretiert, verwandelt. Sensorische und visuelle Zugänge zum Humus als lebendige performative Substanz haben ein Arbeitsfeld eröffnet, das ein Bild von der Welt abbilden kann, so wie wir sie im Moment noch nicht begreifen. Wir durften alle ein Teil bei der Suche und den Fragen nach zukünftigem Zusammenleben, Wahrnehmen, Machen und Handeln werden. Bewegt. Bewegen. Unruhig bleiben.

In Zusammenarbeit und mit Dank an die Studierenden des Propädeutikums Biel in den Jahren 2017/18 und das Dozierendenteam: Georg Blunier, Künstler und Biobauer, Clément Crevoisier, Kunsthistoriker, Adrien Horni, Künstler, und Peter Lüthi, Grafiker.

[1] Haraway Donna: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism
and the Priviledge of Partial Perspective. Feminist Studies, Vol. 14. No. 3 Autumn 1988. S. 575-599. https://philpapers.org/archive/HARSKT.pdf (aufgerufen 07.09.2021)

[2] Haraway Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaften der Arten
im Chthuluzän. Campus Verlag GmbH. Frankfurt am Main. Deutschland. 2018. S. 200

[3] Haraway Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaften der Arten im Chthuluzän. Campus Verlag GmbH. Frankfurt am Main. Deutschland 2018. S. 134

[4] Haraway Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaften der Arten im Chthuluzän. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland 2018. S. 51

[5] Foster Hal: An Archival Impulse. October, Vol. 110. Autumn, 2004, S. 3-22. https://poderesunidosstudio.files.wordpress.com/2009/12/hal-foster-an-archival-impulse.pdf (aufgerufen 07.09.2021))

[6] Kimmerer Robin Wall: Die Grammatik der Lebendigkeit. w-orten & meer GmbH, Hiddensee, Deutschland, 2021, S. 11

 

Kurzbiografien der Autor_innen: