Einleitung
Einschätzen, Reflektieren und Bewerten von Produkten künstlerischer Gestaltung in einer grundsätzlich wahrnehmungsoffenen Haltung stellt Lernende wie Lehrende in mehrfacher Hinsicht vor komplexe Herausforderungen. Neuere Konzepte von Leistungsbewertung setzen z.B. auf „dialogische Lernreflexion“, um persönliche Lernfortschritte und -hindernisse herauszuarbeiten sowie Anreize zum Weiterlernen zu geben (vgl. Beutel/Xylander 2021: 64f.). In der Kunstpädagogik geht es insbesondere um die Berücksichtigung von Diversität und das Erkennen und Nutzen von Gestaltungsspielräumen. Es gilt, persönliche Prozesse in Wahrnehmung und Gestaltung zu fördern, bildnerische Potenziale zu erkennen und Bewertungsformen und -kriterien zu entwickeln, die auf Pluralität ausgerichtet sind (vgl. z.B. Peez 2016a: 11; Kirchner 2021). Beurteilungssysteme versuchen entsprechend, möglichst viel in den Blick zu nehmen. Die Folge sind lange und ausdifferenzierte Kriterienkataloge, um gerade auch Nichtvorhersehbares, Unkalkulierbares und Innovatives mit zu berücksichtigen (vgl. Peez 2016b: 188). So sollen beispielsweise nicht nur Formensprache, Farbgebung, räumliche Darstellung und adäquater Umgang mit Medien und Material(ien) bewertet werden, sondern auch Wahrnehmungssensibilität, Reflexionsvermögen, Frustrationstoleranz und Offenheit genauso wie Ideenreichtum und Unkonventionalität in Herangehensweise und Ergebnis (vgl. Kirchner 2021: 18f.).
Ästhetische Werturteile müssen ebenso praktiziert und geübt werden, damit sich Urteilsfähigkeit herausbilden kann. Denn auch über den schulischen Kontext hinaus lässt sich ästhetisches Urteilen zwischen ästhetischer Reflexion und ästhetischem Handeln verorten und steht in dynamischer Beziehung zwischen Subjekt, sozialer Gemeinschaft und ästhetischem Gegenstand (vgl. van der Meulen 2023: 29). Nach Immanuel Kant spielen bei der ästhetischen Urteilskraft Einbildungskraft und Reflexion auf besondere Weise zusammen – als „Zusammenwirken von Offenheit und Regelhaftigkeit, von Imaginieren und Reflektieren, von Urteilsbildung und Urteilsfindung“ (vgl. ebd.: 31). Es geht darum, einerseits ästhetische Eindrücke und nicht-propositionale Vorstellungen in einen nachvollziehbaren Ausdruck zu überführen, denn die Vorstellung des Schönen würde nach Kant gerade verloren gehen, wenn die Objekte nach Begriffen beurteilt werden (könnten). Sich zu einem Werk verhalten zu können, bedingt dabei anderseits bereits eine Reihe von Fähigkeiten, die sich in einer genuinen ästhetischen Urteilsfähigkeit äussern. Diese ist nach Kant zwar subjektiv, aber reflektierend, sodass das Allgemeine im Durchgang durch das Besondere erst gefunden werden muss. Zugleich sind ästhetische Werturteile nicht objektiv, sondern die Benotung bzw. Bewertung ästhetischer Urteilsfähigkeit bedarf eines intersubjektiven Austauschs (vgl. Reichenbach/van der Meulen 2010: 797).
Üben ästhetischer Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit vor Originalen
Diesen Prämissen trägt das wahrnehmungsorientierte hochschuldidaktische Setting Nah am Werk (vgl. Bube 2017) in Form eines responsiven Antwortgeschehens (vgl. Waldenfels 2006) vor Originalen Rechnung. Im Wechsel von individueller Rezeption, unterschiedlichen handlungsorientierten Zugängen und Austausch in der Gruppe werden ästhetische Erfahrungen initiiert (vgl. Bube 2020: 160) und Einzelwerke in ihren spezifischen Form-Inhalt-Bezügen, ihrer jeweiligen Materialität und damit verbundenen Assoziations- und Reflexionspotenzialen vielschichtig beleuchtet. In offener Begegnung mit den Kunstwerken liegt der Fokus insbesondere auf einer Sensibilisierung und Differenzierung der Wahrnehmung und einer damit verbundenen Ausbildung ästhetischer Urteilsfähigkeit. Denn in einem weiter gefassten Sinn zeigt ästhetisches Urteilen auch „neue Perspektiven auf, die Welt weiterzudenken, sie anders zu verstehen und anders zu gestalten“ (vgl. van der Meulen 2023: 28). Voraussetzung hierfür ist ein Fraglich-Werden, das nach Käte Meyer-Drawe Erfahrungsfelder umzustrukturieren vermag (vgl. Meyer-Drawe 2022: 1). „Fraglich-werden [sic] ist wie das Staunen ein Ereignis, ein uneinholbares Widerfahrnis, das unsere Aufmerksamkeit weckt. Staunen und Anfangen sind uneinholbare Widerfahrnisse, welche unsere Empfänglichkeit aktivieren.“ (Ebd.: 9)
Die wahrnehmungsorientierte Auseinandersetzung mit Kunstwerken vermag auf eigene Weise Aufmerksamkeit zu erregen, Fragen aufzuwerfen und Empfänglichkeit zu stimulieren. In der Stiftung unterschiedlicher Herangehensweisen und Bezüge bilden sich an den Werken sinnliche Erkenntnisprozesse, je eigene Erfahrungen und Irritationsmomente, die immer wieder neu zur Verhandlung gebracht und reflektiert werden. Dabei richtet sich der Blick neben den im Fokus stehenden Kunstwerken auch auf das sich in einem gestalterischen Ausdruck manifestierende Produkt der Teilnehmer*innen, beispielsweise eine Zeichnung, eine Fotografie oder ein Text aus der Auseinandersetzung mit den Originalen. Werke der Gegenwartskunst, so Juliane Rebentisch, fordern in ihrer Mannigfaltigkeit unser Urteil besonders heraus, da sie sich nicht klar und kategorial klassifizieren lassen (vgl. Rebentisch 2013: 112). Gerade, wo „die automatische Anwendung unserer Urteilskategorien ins Straucheln gerät und unsere Urteilskraft für ihr reflexives Spiel frei wird“, entfalten sich jeweils ästhetische Erfahrungen, auf deren Basis Werke in ihrer je eigenen Potenzialität beurteilt werden (vgl. ebd.: 113). Im Versagen des schnellen Urteils übt sich entsprechend ästhetische Urteilsfähigkeit und zugleich können hierdurch mannigfaltige Lernerfahrungen angestossen werden. Lernprozesse zeichnen sich durch ihre Sprunghaftigkeit aus, sie sind Erfahrungsvollzüge zwischen einem Nicht-Mehr und Noch-Nicht: Die Lernenden befinden sich in einer Art Schwebezustand, da das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht zur Hand ist (vgl. Meyer-Drawe 2010). Lehrende bekommen immer nur Bruchteile bzw. Ausschnitte von solchen Vollzügen zu fassen. In den Produkten allerdings werden diese teilweise einsehbar.
Um die Fülle, Vielschichtigkeit und Dynamik der Erfahrung an und mit Kunstwerken einzufangen und für die Professionalisierung von Lehrpersonen fruchtbar zu machen, braucht es ein Untersuchungs- und Reflexionsinstrument, welches der Perspektivität, dem Einlassen auf Offenheit und der Abkehr von vorgefassten Bedeutungen gerecht wird (vgl. Bube 2020: 162). Um die Möglichkeiten der Selbst- und Welterkenntnis in der praktischen Arbeit mit dem Konzept Nah am Werk exemplarisch zu beschreiben und die sinnlich-ästhetischen Erfahrungen und damit verwobenen Lernprozesse methodisch zu erschliessen, kommt in dem von Agnes Bube und Evi Agostini gemeinsam initiierten Projekt Vignettenforschung „Nah am Werk“ (vgl. z.B. Agostini/Bube 2021a; Agostini/Bube 2021b) deshalb das gleichermassen ästhetisch verfasste wie phänomenologisch fundierte Erhebungsinstrument der Vignette (vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012; Agostini/Schratz/Eloff 2024) zum Einsatz.
Phänomenologische Vignettenforschung und ihre nicht-propositionalen und reflektierenden Gehalte
Vignetten lehnen sich an die phänomenologische Methode der „exemplarischen Deskription“ (vgl. z.B. Lippitz 1987) an und sind „kurze, prägnante Erzählungen, die (schulische) Erfahrungsmomente fassen“ (vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012: 34). Als Beispiele möchten sie einen allgemeinen Sinn im konkreten Einzelfall in exemplarischer Art und Weise zum Ausdruck bringen. Gerade das Beispiel spiegelt die Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft nach Kant wider (vgl. Agostini 2020), wobei das Allgemeine, unter welches das Besondere subsumiert ist – wie auch bei der ästhetischen Urteilskraft –, erst aufzuspüren ist. Im Rahmen des Kunstvermittlungskonzeptes Nah am Werk greifen diese erfahrungsschwangeren Narrationen ausgewählte, konkrete und einprägsame Erfahrungsmomente in unterschiedlichen Situationen im Museum auf und beleuchten die Besonderheit dieser Situation für die einzelne Person in der Interaktion mit dem Kunstwerk und/oder mit der Gruppe (vgl. Bube 2020: 163). Besonderes Augenmerk wird dabei auf Mehrdeutigkeit und das Nicht-Propositionale bzw. Nicht-Begriffliche in der Erfahrung gelegt. Die Kunst des Vignettenschreibens liegt wie bei der Einübung der ästhetischen Urteilskraft darin, für sinnliche Erfahrungen wie z.B. Empfindung, Wahrnehmung und Anschauung, oder aber für die ästhetische Erfahrung nicht-begrifflich organisierter Kunstwerke (vgl. Bromand/Kreis 2010: 12), einen Ausdruck in der Wirklichkeit zu finden oder vielmehr zu erfinden. Um Kern und Bedeutung nicht-begrifflicher Erfahrungen einzufangen, beinhalten Vignetten deshalb Metaphern oder Sprachbilder, deren Bedeutung sich nicht auf diskursive Ausdrücke festlegen lässt, wodurch sie einen anschaulichen Überschuss bereithalten. Persönliche Lernerfahrungen werden so insbesondere in ihren sinnlich-leiblichen Artikulationen atmosphärisch dicht in Szene gesetzt. Dabei können in Form einer Vergegenwärtigungsleistung Dinge, Situationen, aber auch Gefühle und Einstellungen aufgezeigt und imaginativ mit- und nachvollzogen werden (vgl. Gabriel 2010: 45f.). Hierbei wird immer wieder deutlich, dass sinnlich-ästhetische Erfahrungsprozesse nicht restlos einzuholen und verallgemeinerbar zu instrumentalisieren sind. Sowohl in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken wie in der exemplarischen Verdichtung des Erfahrungsgeschehens als auch in der Reflexion der Vignetten wird – ganz dem phänomenologischen Vorgehen (vgl. Waldenfels 2006) folgend – das, was sich zeigt, darauf zurückgeführt, wie es sich zeigt. Die gemeinsame Basis dafür bildet die mehrdeutige sinnlich-ästhetische Erfahrung, wobei Vignetten genau an dieser Unbestimmbarkeit und Prägnanz ansetzen und durch die pädagogisch-phänomenologisch orientierte Lektüre analog zur Mehrdeutigkeit der Kunst eine vielschichtige Deutung der Situation ermöglichen (vgl. Bube 2020: 164).
Folgend widmet sich der Beitrag exemplarisch der Frage, was und wie aus Werken in einer wahrnehmungsorientierten Auseinandersetzung im Rahmen des Konzepts Nah am Werk gelernt werden kann. Inwiefern wird wahrnehmbar, dass sich Personen in ästhetischer Urteilsfähigkeit einüben? Welche Prozesse befördern ästhetische Urteilsfähigkeit? Und wie können diese sinnlich-ästhetischen Erfahrungen angemessen sprachlich übersetzt und für Rückmelde- und Beurteilungsprozesse, beispielsweise im Kontext der Lehrer*innenbildung, genutzt werden? Diesen ausgewählten Fragen soll anhand zweier exemplarischer Vignetten aus dem Projekt Vignettenforschung „Nah am Werk“ nachgegangen werden, welche im Juli 2024 im Mittelrhein-Museum Koblenz entstanden sind.
Vignetten
Vignette 1: Nelli, Ines und Bruna beim Zeichnen
Vignette 2: Frau Hennah, Brigitta, Jasmin und die Suche
Vignetten-Lektüre – vom ästhetischen Eindruck zum intersubjektiven Ausdruck
Vignette 1 zeichnet zwei gegensätzliche Schauplätze im Mittelrhein-Museum Koblenz: Hier eine leise Studierendengruppe, die sich zeichnerisch einem Werk nähert, dort eine laute Gruppierung, die sich handlungsorientiert-spielerisch mit einem Kunstwerk auseinandersetzt. Es zeigen sich unterschiedliche Möglichkeiten der persönlichen wie gemeinschaftlichen Annäherung an je eigen gewählte Kunstwerke. Der Fokus der Vignette richtet sich auf die Mitglieder der ersten Gruppe, ihre Sitzhaltung und ihre Blicke. Die zweite wird lediglich durch „laute Stimmen“, „Lachen“ und „Wortfetzen“ in der Vignette wahrnehmbar; was sie genau macht, bleibt im Dunkeln. Dennoch wird deutlich, dass beide Gruppen jeweils untereinander im Austausch stehen: Nelli und Ines durch ihr leises, tuschelndes Gespräch sowie das Austauschen der Buntstifte, Bruna, auch wenn sich auf ein anderes Werk konzentrierend, durch die räumliche Nähe und das Versunken-Sein in dieselbe Tätigkeit wie die beiden anderen. Claudia, Anna und Lisas Zusammenarbeit im Nebenraum wird durch deren Fragen und bestätigenden Rückmeldungen hörbar. Alle Personen scheinen die Nähe und Arbeitsgemeinschaft der jeweiligen anderen zu suchen, regelrecht darauf angewiesen zu sein. Nelli und Ines tauschen sich aus, vermutlich über ihre Zeichnungen oder das Kunstwerk, Claudia fordert lautstark eine Rückmeldung von Anna und Lisa zu ihrer leiblichen In-Bezug-Setzung zum Kunstwerk ein.
Um ästhetische Situationen zu deuten und zu bedeuten, braucht es Wissen und Übung (vgl. Klepacki/Zirfas 2009: 130). Insbesondere im Diskurs ergibt sich die Möglichkeit des Erwerbs einer differenzierten ästhetischen Urteils- und Kommunikationsfähigkeit (vgl. ebd.). Neben der Ermöglichung explizit persönlicher Herangehensweisen und Lernprozesse, die sich gleichfalls in der Vignette aufzeigen lassen, lässt die Szene insbesondere miterfahren, wie sehr die Prozesse hier von verbaler wie nonverbaler Kommunikation getragen sind. Eigene Rückmeldungen zu erfahren, ist die Basis, um anderen Rückmeldungen zu geben. Entsprechend wurden im anschließenden Gruppengespräch im Plenum – nach der hier vergegenwärtigten Szene in der Vignette – auch die jeweiligen Erfahrungen und Ergebnisse der praktischen Erprobungen in den Kleingruppen präsentiert und kommentiert. Dabei stellten sich die Teilnehmer*innen ebenso in eine reflexive Beziehung zu ihrem jeweiligen Produkt aus der zeichnerischen wie körperlichen Annäherung. Unter Einbeziehung der Wahrnehmungen der anderen machten die Studierenden dabei Erfahrungen der Wertschätzung oder Anerkennung wie auch des Zurücktretens vom Eigenen. Es ergab sich die Möglichkeit, die eigenen Prozesse wie die daraus entstandenen Produkte, aber auch die ausgestellten Kunstwerke unter anderen Blickwinkeln noch einmal neu zu (be‑)werten. Ästhetische Urteilsfähigkeit zu entwickeln, bedarf neben der Sensibilität für eigene Ausdrucksbedürfnisse, für bildnerische Interessen und Fähigkeiten eben auch des Wahrnehmungsvermögens für alternative andere Lösungen.
Szenenwechsel: Vignette 2 zeichnet wiederum ein anderes Bild der Auseinandersetzung mit den Werken im Museum. Hier erfolgt die persönliche In-Bezug-Setzung zu künstlerischen Werken über von den Studierenden eigens mitgebrachte Gegenstände. Die Suche nach einer geeigneten Auswahl mündet bei den zwei Protagonistinnen der Vignette erst verzögert in ein konkretes Produkt, einigen Notizen, und zeigt sich beginnend in der herantastenden, anschauenden Wahrnehmung und im zögerlichen, diskursiven Austausch. In den Blick der Vignette geraten „zwei junge Frauen […], die etwas hinter der Gruppe zurück[bleiben]“. Während die anderen Studierenden im Vergleich zu den beiden offensichtlich „zügig“ davoneilen und allem Anschein nach genauso schnell eine Werkauswahl treffen sowie sich in die schreibende Auseinandersetzung mit dem Werk begeben, lassen sich Brigitta und Jasmin Zeit und verweilen vor unterschiedlichen Werken: zuerst vor einer Fotografie, dann einem Ölbild, bevor sie sich dem Raum mit den Porträts nähern. Gegenseitig machen sie sich auf Details aufmerksam. Ein Bild mit einem Löwen, einem Tiger und drei Pferden im Galopp zieht ihre Aufmerksamkeit etwas länger auf sich, Brigitta fällt zudem eine Katze und ein Hund auf. Der Tonfall von Brigitta wird als enthusiastisch beschrieben, Jasmin „nickt zustimmend“. In der Abteilung mit den Flusslandschaften ist es nun Jasmin, die erstaunt wirkt und die andere auf eine Entdeckung aufmerksam macht. Was genau sie derart in Aufruhr versetzt, bleibt unklar, aber ihr scheint etwas Neues aufgefallen, ihr regelrecht widerfahren zu sein. Ein neuer Sinn nimmt seinen Ausgang, der sie in Erstaunen versetzt. „Erstaunen meint ein Aufmerken, ein produktives Erstarren, ein Zögern, dem man ausgesetzt ist, in dem sich etwas einbrennt, das entflammt.“ (Meyer-Drawe 2011: 199) Staunen ist auch die Voraussetzung für neue Erkenntnis: „Lernen, das sich dem Neuen öffnet, hebt mit einer Art Verwunderung an, zu der man sich nicht entschließen kann, die einem widerfährt, weil man von etwas wie von einem Blitz getroffen wird und unerwartet betroffen ist.“ (Ebd.) Voranschreitend, bauen sich Jasmin und Brigitta nun vor einem grossflächigen Landschaftsmotiv auf, nehmen im Anschluss die Skulpturen in Augenschein. Die persönliche In-Bezug-Setzung über mitgebrachte Gegenstände erfordert sowohl eine inhaltliche wie formale Prüfung. Wo könnten sich Anknüpfungspunkte ergeben? Wie sind die Werke gestaltet? Welche Kontexte und Fragen werden angestossen? Nichts scheint in den verschiedenen Ausstellungsräumen ihrem prüfenden Blick zu entgehen. Die Studierenden erfahren womöglich die Vielfalt an Anschlussmöglichkeiten und die Komplexität, die von den Werken ausgeht und sie gleichermassen zu überfordern scheint, eine Entscheidung zu fällen bzw. ihre Auswahl zu treffen. Welche Kriterien leiten sie dabei? Offenbar erkunden, begutachten und verwerfen sie, sind miteinander im Austausch – Aspekte, die zur Herausbildung ästhetischer Urteilsfähigkeit beitragen. Ihre Bewegungen lassen sich als ein Vor und Zurück beschreiben, vom Werk zum Blatt und wieder zurück, immer wieder die andere in die eigenen Wahrnehmungen und Entdeckungen einbeziehend. Vereinzelt greifen sie zu ihren Stiften und machen sich Notizen. Frau Hennah, die Dozentin, die sie vorab in die individuelle Auseinandersetzung mit den Werken entlassen hat, tritt nun dazu und erinnert an den zeitlichen Rahmen. Sind ihr die beiden Studierenden durch ihre Handlungen, durch ihre Mimik und Gestik aufgefallen oder handelt es sich ihrerseits um ein routinemässiges, didaktisches Eingreifen? Auch auf dem Weg zurück gehen die Suche und das prüfende Abtasten der Werke weiter. Immer wieder bleiben die beiden stehen. Brigitta und Jasmin sind die Letzten, welche sich zur Gesamtgruppe gesellen. Welche Faktoren fesseln und/oder stören sie? Der vorgegebene Zeitrahmen wird knapp, scheinbar jedoch nur für sie. Die anderen warten schon. Ästhetische Prozesse sind individuell und lassen sich nicht einfach in vorgegebene Strukturen fügen (vgl. z.B. Kämpf-Jansen 2021: 266). Was tun, wenn Erwartungshorizonte nicht erfüllt werden, dafür aber anderes, ebenso Wichtiges aufscheint? Ob, wodurch und wie lässt sich das Verhältnis von Erfolg und vermeintlichem Versagen jeweils justieren? Die eigene Erfahrung und das (Selbst‑)Bewusstsein der angehenden Lehrkräfte für diese Zusammenhänge sind gleichermassen grundlegend für die künftige Einschätzung und Beurteilung solcherart Prozesse von Schüler*innen. Im anschliessenden Gruppenaustausch berichteten die beiden Studierenden den anderen von ihrer Suche und stellten – im Unterschied zu den anderen – mehrere Werkbeispiele vor, die sie differenziert in Bezug zu ihrem jeweils mitgebrachten Gegenstand setzten. Dabei wurden möglicherweise auch unausgesprochene (Vor‑)Urteile in der Gruppe, die Aufgabenerfüllung die zwei betreffend, revidiert.
Fazit
Was haben die Studierenden, die noch dazu angehende Lehrer*innen sind, in den zwei skizzierten Szenen nun gelernt? Inwiefern könnte dabei auch das Einüben ästhetischer Urteilsfähigkeit eine Rolle spielen? Die Studierenden haben sich auf unterschiedliche Weise zu Werken ins Verhältnis gesetzt, sich in die mehrdimensionale Auseinandersetzung mit Kunst begeben, um die je spezifischen Erkenntnispotenziale und Wirkweisen auszuloten. Dabei wurden eigene Erfahrungen gemacht, auf deren Basis ein Bewusstsein gewonnen werden kann für jene persönlichen ästhetischen Rezeptions- und Produktionsprozesse, die es in der späteren Schulpraxis zu initiieren und zu beurteilen gilt. Neben der Beschäftigung mit Originalen, die in ihrer sinnlichen Vielfalt und Mehrdeutigkeit die Wahrnehmung differenzieren und herausfordern und damit die Herausbildung einer vielschichtigen ästhetischen Urteilsfähigkeit befördern, haben die Studierenden zudem erfahren, wie wichtig in diesem Kontext individueller Ausdruck, verbale und nonverbale Kommunikation, Rückmeldeprozesse der anderen und Perspektivwechsel sind. Die Auseinandersetzung mit Vignetten als weiteres Instrument der Herausbildung ästhetischer Urteilsfähigkeit vermag nochmals auf eigene Weise, ein genaues Hinsehen, Hinhören und Einfühlen zu schulen, welches die angehenden Lehrer*innen benötigen, um letztlich eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit im Kunstunterricht zu entwickeln, um ästhetische Potenziale von Schüler*innen zu erkennen, zu fördern und zu bewerten. Hierbei kommt auch das sensible Deuten von Atmosphären, das Bewusstwerden eigener, ggf. unterschwelliger Vorannahmen und die Ausrichtung auf nicht-propositionales Wissen zum Tragen. Denn „[d]as stille und nicht artikulierte bzw. nicht artikulierbare Wissen – tacit knowledge – ist im ästhetischen Urteil auf eigentümliche Weise anwesend, wiewohl es eben, wie das praktische Wissen [sic] analytisch kaum fassbar ist.“ (Reichenbach/van der Meulen 2010: 800)
Indem Vignetten bildende Erfahrungen ermöglichen, können sie – genauso wie der Umgang mit Kunstwerken – zur Ausbildung einer ästhetischen Urteilskraft beitragen. Mit der Möglichkeit des Austauschs über die eigenen sinnlichen Erfahrungen in der diskursiven Lektüre können ästhetisches Wissen und Können, die sich in der sinnlich-ästhetischen Erfahrung niederschlagen, geteilt und kommuniziert werden. Durch Urteilsbildung lässt sich daraus nicht zuletzt über die systematische Arbeit mit Vignetten eine genuine Kritikfähigkeit etablieren. Diese Urteilsfähigkeit kann einerseits anhand von Vignetten veranschaulicht und andererseits im Erfahrungsvollzug, im (wiederholten) Lesen und Schreiben von Vignetten(‑Lektüren), geübt werden, um sich in der Form einer kritischen Grundhaltung im Rahmen der Bewertungs- und Benotungspraxis zu verfestigen. Dabei ermöglichen Vignetten es auch, den eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten, ästhetischen Vorlieben und Nicht-Gewusstem auf die Spur zu kommen.
Literatur
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