Statements in german

STATEMENTS

Ge­rald Bast

Vi­sio­nä­res Den­ken ist rea­lis­ti­sches Den­ken

Für ei­ne grund­le­gen­de Er­neue­rung des Bil­dungs­sys­tems

Unser Bildungssystem funktioniert noch immer nach den Prinzipien des Industriezeitalters des 18. und 19. Jahrhunderts: Wissensproduktion, Wissenserwerb, Wissensvermehrung durch intellektuelle Arbeitsteilung. Die Fragmentierung der Wissenslandschaft ist in den letzten Jahrzehnten rasant vorangeschritten. Parallel dazu sind unsere Gesellschaften komplexer geworden. Alles hängt mit allem zusammen. Wir leben in einer Welt, die zunehmend von politischer Veränderung, sozialer Unsicherheit und kultureller Ambiguität gekennzeichnet ist. An unseren Bildungsinstitutionen herrscht hingegen eine Praxis der Eindeutigkeit: Ja oder nein. Wahr oder falsch. Richtig oder unrichtig.
In einem von Digitalisierung und Robotik geprägten Zeitalter machen Algorithmen den Menschen Gestaltungskompetenz streitig. Das Kombinieren von Wissen in ungewöhnlichen Zusammenhängen wird bereits in naher Zukunft wichtiger werden als der Erwerb, das Speichern und die Reproduktion von Wissen. Menschen werden nur noch durch kreative Denkprozesse handlungsfähig sein, also durch Prozesse, die auf bisher ungedachte oder für undenkbar gehaltene Weise Verbindungen zwischen bekannten und automatisierten Wissens- und Handlungsfeldern herstellen. Die Veränderung von Arbeit, Bildung und Freizeit wird durch demographische Entwicklungen und Migrationsbewegungen neue soziale Handlungsfelder eröffnen. Neben der Neudefinition von Arbeit braucht es daher auch dringend eine grundlegende Erneuerung des Bildungssystems.
Friedrich Kiesler, der 1926 aus Österreich in die USA ausgewanderte visionäre Denker, Architekt und Designer, entwickelte in den 1930er-Jahren seine Theorie, die unter Aufhebung aller Kunstgattungen und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Mensch und Umwelt als ganzheitliches System komplexer Wechselbeziehungen versteht. Correalismus nannte er diese, heute ungeahnt aktuelle Theorie. Kieslers Überzeugung, dass visionäres Denken zugleich realistisches Denken ist, macht Mut in Zeiten zunehmender Mutlosigkeit. Mehr noch: Kieslers Denkansatz wird heute immer wichtiger, weil Herausforderungen wie Unsicherheit und Ambiguität nicht mit Algorithmen und Robotern begegnet werden kann, sondern nur mit visionärem Denken, das der Dominanz von Standardisierung und Fragmentierung kühn entgegengesetzt wird.
Es wird weiterhin spezialisierte Märkte, Arbeits- und Forschungsfelder für Kunst, Architektur, Design, Wissenschaft und Technologie geben. Aber es wird und muss auch neue, korrelative Bildungsgänge und Berufsbilder geben, ganz andere Formen von Arbeit und Einkommen, als wir sie uns heute vorstellen können. Die Fähigkeit, Vertrautes zu hinterfragen, neue Szenarien zu entwerfen, die Kraft von Intuition, Imagination und Assoziation zu nutzen, wird im 21. Jahrhundert zur zentralen Kulturtechnik werden. Diese gilt es zu fördern, zu entwickeln und zu implementieren. Und die Expertise dafür liegt bei den Kunstuniversitäten und ihren Absolventinnen und Absolventen.
Gerald Bast ist Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, http://www.dieangewandte.at/
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Bar­ba­ra Putz-​Plecko

Un_Po­ten­tial­i­ty und Un_Uni­ver­si­ty

Der gegenwärtige Blick auf (Kunst-)Universitäten lässt deutlich ein Geflecht von gegenläufigen Dynamiken wahrnehmen, die auf sehr divergente Vorstellungen von Academy rückzubeziehen sind. Wird seit etwa zwanzig Jahren das akademische Feld durch den Bolognaprozess und ökonomische Steuerungspolitiken massiv reguliert und durch den Effizienzmodus nicht nur verändert, sondern auch beschädigt, (indem statt zu ermöglichen gelenkt wird, um den Output in vorgedachter Weise zu steigern, und ungesicherte emanzipatorische Entwicklungsräume immer stärker beschränkt werden), so gibt es zweifellos auch Gegenbewegungen: Akteur_innen, die für nicht-verregelte Strukturen kämpfen bzw. Räume des Denkens und (Ver-)Handelns schaffen, die eine eigenwillige Aneignung ebenso zulassen, wie gewagte Bewegungen und offene Prozesse (in denen noch nicht klar ist, wo Denken und Praxis hinführen müssten), ein „undiszipliniertes“ Vokabular sowie Differenz und Nicht-Übereinstimmung.
Nur so kann jene Qualität entstehen, die von Irit RogoffVgl. Irit Rogoff (2006): Schools of Thought. In: Frieze Magazine, Issue 101, September 2006, https://frieze.com/article/schools-thought?language=de (20.03.17) und Giorgio Agamben (1999): Potentialities. Collected Essays in Philosophy. Stanford/CA, Stanford University Press als strukturgebend und essentiell für Bildung und Kunst und ganz im Herzen der Academy gesehen wird: Potentialität. Sie existiert im Bereich des Möglichen, ohne Plan zu werden, und sie ist immer gleichermassen Potential etwas nicht zu tun, wie etwas zu tun. Motiviert sie Denk- und Handlungsweisen, kann sich aus ihr eine relevante Kraft entwickeln, die der fortschreitenden Marginalisierung von Bildungsräumen zu streng organisierten Training grounds, wie sie durch einfache Input – Outcome Logiken und systemische Normierungen befördert wird, entgegenwirkt.
Es ist ein zentrales Anliegen der „Angewandten“, an den notwendigen Voraussetzungen für Potentialität zu arbeiten – sie zu erhalten, wo sie beschnitten zu werden drohen und sie zu schaffen, wo es sie noch nicht gibt. Auf der Ebene der systemischen Praxis und ihrer Strukturen bedeutet dies, den eigenen Routinen, einem selbstzufriedenen Selbstverständnis ebenso wie der institutionellen Trägheit, wach und kritisch gegenüberzustehen. Wohl ist der Anspruch einer selbstreflexiven und -kritischen Praxis schnell erhoben, doch kann es sehr herausfordernd sein, diese umzusetzen. Da braucht es mitunter „die Provokation von aufschlussreichen Verhältnissen“Vgl. Jan Verwoert (2007): Frei sind wir schon. Was wir jetzt brauchen ist ein besseres Leben. In: Belzer, Heike/Birnbaum, Daniel (Hg.), kunst lehren teaching art. Städelschule Frankfurt/Main. Köln, Verlag der Buchhandlung Walther König, http://www.staedelschule.de/fileadmin/pdf/pdf_Downloads/staedelschule_kunst_lehren.pdf (26.03.17), um Erfahrungen zu ermöglichen, die Prozesse der Veränderung anstossen. In den 1990er-Jahren gingen derartig wachrüttelnde Impulse an der Angewandten von der „Freien Klasse“ aus, an deren Fragestellungen bei Un_University angeknüpft wurde. Ihre Geschichte zeigt, mit welcher Vehemenz institutionelle Macht sich durchzusetzen vermag. Trotzdem wirken ihre Ansprüche auf gewisse Weise ins Heute. Nur: die Frage nach der Fähigkeit zu lernen und zu verlernen stellt sich immer neu.
Barbara Putz-Plecko ist Vizerektorin der Universität für angewandte Kunst Wien und leitet die Abteilung Kunst und kommunikative Praxis, http://www.dieangewandte.at/
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So­phie Vö­ge­le, Phil­ip­pe Saner, No­ra Land­kam­mer, Car­men Mörsch

Ungleichheit und Normativität entüben

Ein State­ment aus Per­spek­tive des In­sti­tute for Art Ed­u­ca­tion, ZHdK zu Art Ed­u­ca­tion Re­search #13 – Un_Uni­ver­si­ty

Un_University

bedeutet für eine Kunstuniversität, sich selbstkritisch und selbstreflexiv mit den eigenen Strukturen des Lehrens und Lernens auseinanderzusetzen sowie die Möglichkeit ihrer Transformation auszuloten und anzugehen. Wie Eva Egermann in ihrem Beitrag anmerkt, geht es darum, eine „un_universitäre Denkbewegung“ einzuleiten, um normative Narrative und Repräsentationen zu verlernen. Dabei muss der Blick für das Konflikthafte und Widersprüchliche geschärft werden, um den Bewegungen und Transformationen institutioneller Normativität folgen zu können. Das „Entüben institutioneller Gewohnheiten“ (Annette Krauss) bleibt dabei eine zentrale Aufgabe.
Ein möglicher Zugang zu Un_University wurde an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) unter anderem durch das Projekt (initiiert durch das IAE, Institute for Art Education) erprobt. Ziel war es, die Institution Kunsthochschule selbstreflexiv und von innen heraus zu befragen, zu transformieren und zu demokratisieren: Inwiefern werden bestimmte Wissensformen und Erfahrungen inkludiert oder exkludiert? Welche Rolle spielen dabei die institutionellen Diskurse, die Lehrinhalte, die Aufnahmeverfahren und Leistungsbewertungen? Die gemachten Erfahrungen zeigen, dass hierarchische und zentralisierte Prozesse durch einen Ansatz der Un_University nur schwer zu durchbrechen sind. Eine Herausforderung entsteht zudem durch das Selbstbild von Kunsthochschulen als Orte der Innovation und Kritik: Kunstuniversitäten nehmen in Abgrenzung zu anderen Bildungsinstitutionen Offenheit für Neues, Kritik und Gegenrede für sich in Anspruch. Dadurch werden tatsächlich kritische Auseinandersetzungen mit den Strukturen als nicht mehr notwendig erachtet und geschlossene, konservierende Prozesse letztlich legitimiert.Vgl. Art.School.Differences. Researching Inequalities and Normativities in the Field of Higher Art Education. Schlussbericht, insbesondere die Teilkapitel 5.3. (zu Auswahlkriterien an Kunsthochschulen) und 5.5. (zu Widersprüchen in der „Auswahl der Besten“) sowie das Kapitel 6. (zu Praktiken der Auswahl über die Kunsthochschulen hinaus).

Un_University innerhalb einer Kunstuniversität muss deshalb auf verschiedenen Ebenen ansetzen: Einerseits ist es wichtig, die hegemoniale Sprache der Institution zu sprechen, d.h. akademisches Wissen anzuwenden und konventionelle, allgemein anerkannte und validierte Forschungsansätze für die eigenen Fragestellungen zu nutzen. Andererseits müssen bestehende alternative Wissensformen und Lesarten ermittelt und vernetzt werden sowie Allianzen innerhalb und über die einzelnen Institutionen hinaus gebildet werden. Praxis- und Aktionsforschung über Lehrinhalte und bestehende Strukturen gemeinsam mit Institutionsangehörigen zu betreiben ist ein möglicher Ansatz für eine langfristige Transformation von innen heraus.
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