Rezension: "Kalkül und Kontingenz" (2019)

Kalkül und Kontingenz. Kunstbasierte Untersuchungen im Kunst- und Theaterunterricht. Gruber, Anne/Schürch, Anna/Willenbacher, Sascha/Mörsch, Carmen/ Sack, Mira (Hg.), München, kopaed, 2019.

Es gibt nicht den richtigen Anfang: Die Suche nach dem Anfang, nach der Ordnung des Buches wird zur Erfahrung von Kontingenz. Mit Kalkül und Kontingenz liegt ein umfassendes Sammelwerk eines forschend aktionsreichen Projekts vor, das durch eine Forschungsgemeinschaft aus drei Forscher*innen und einer Gruppe von (berufstätigen) Ko-Forscher*innen aus dem kunst- theater- und musikpädagogischen Bereich umgesetzt wurde. Acht heterogene Hefte bzw. kleine Bücher mit kunstvoll arrangierten Druckformaten in einer Box geben Einblick in eine reflektierte Auseinandersetzung mit Kontingenz im Kunst- und Theaterunterricht. Ein auffaltbarer Bogen stellt die Forschungsarbeit sowie die einzelnen Druckwerke übersichtlich vor. Kalkül und Kontingenz ist der Titel eines Forschungsprojekts, das vom Schweizerischen Nationalfonds SNF gefördert wurde und das eine Forschendengruppe der ZHdK, Anne Gruber, Anna Schürch und Sascha Willenbacher gemeinsam mit den Gesuchssteller*innen des Projekts, Prof.in Carmen Mörsch und Prof.in Mira Sack ins Leben gerufen hat.

Die Publikation ist nicht nur in der Zusammenstellung der Materialien, Texte, Zitate, Bilder, die sich in den jeweiligen Heften, Büchern und Druckwerken befinden eine bewusste Aufführung von Erkenntnisgewinnung, der ein performativer drive innewohnt (vgl. Schürch 2019, in Heft: In die Schwebe zurückversetzen: S. 11-22). Darüber hinaus wird sie auf der materiellen Ebene zu einer haptischen Erfahrung: Ob es der Übersichtsbogen ist oder ein gefalteter Umschlag, der zum Einband und Buchdeckel gleichzeitig wird. Die Leser*innen werden dazu eingeladen, das publizierte Forschungsprojekt zu entfalten, auseinanderzunehmen, von vorne oder hinten zu betrachten und zu lesen.

Die Logik der einzelnen Druckwerke (Hefte), die sich in der Box zu Kalkül und Kontingenz versammeln, werden keiner normierenden Ordnung unterworfen. Während in den Erziehungswissenschaften Monographien eher eine einheitliche Form in von grossen Verlagen zur Verfügung gestellten normierten Papierformaten, -qualitäten und -grössen (von der Schriftgrösse bis hin zur begrenzten Möglichkeit, etwas einzulegen oder beizulegen) finden, tritt die Box eigenwillig entgegen, ladet zum Entdecken ein. Die Lust auf Unvorhergesehenes wird wach, ganz schleichend befinde ich mich als Leserin selbst in einem Kontingenzexperiment. Denn, wer erwartet schon, dass sich das Innenleben eines kleinen Buches lose entblättert.

Abb. 1: Gruber, Anne/Schürch, Anna/Willenbacher, Sascha/Mörsch, Carmen/ Sack, Mira (Hg.) (2019): Kalkül und Kontingenz. Kunstbasierte Untersuchungen im Kunst- und Theaterunterricht. München, kopaed. Layout: Anne Gruber und Julia Künzi. Foto: Anna Schürch

In der vorliegenden Sammlung weben sich rote Fäden eines bildungsphilosophisch reflektierten gemeinsamen Bildungsverständnisses der Forscher*innen und Berufspraktiker*innen durch die heterogenen Publikationen: Ein gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Bildung nicht gewollt werden kann, sondern etwas ist, das passiert (vgl. Wimmer 2010). Um Bildungsprozesse aus diesem herangezogenen bildungsphilosophischen Verständnis heraus befördern zu können, ist die Notwendigkeit, dem Unerwarteten Raum zu geben, die logische Konsequenz. Mit der Frage nach der Kontingenz wird unweigerlich auch ihr Pendant das Planbare, das Kalkül aufgerufen. Aktuell erlebe ich in der Pädagogik eine wachsende Hinwendung zu den empirischen Bildungswissenschaften, die die Überprüfung von Lernleistungen oder Schulleistungen als zentrale Gegenstände beinhalten. Dies zeigt sich durch eine wachsende Anzahl an Tagungen; Lehrstühle (Professuren), die diesem Bereich vermehrt gewidmet werden und eine Zunahme an Forschungsgeldern, die für diese Richtung gesprochen werden. Die empirischen Bildungswissenschaften vermessen das Bildungsgeschehen. Doch die ‚Vermessung von Bildung’ ist im Grunde paradox. Outputorientierte Qualitätskontrollen von Lernleistungen und Leistungen der Schule stehen einem Lern- und Bildungsverständnis entgegen, das das Unerwartete und Lernen abseits von vordefinierten Zielen anstrebt. Der Wunsch nach Planbarkeit von Lernen ist nachvollziehbar, aber verhindert Bildungsprozesse, die sich auf ‚unsicherem Terrain’ bewegen. Die theoriegeleitete Auseinandersetzung mit Kontingenz stellt jedoch das Bestreben (die notwendige Illusion), mit dem Lehren ein bestimmtes Lernen zu erreichen, grundlegend in Frage und kehrt die Sicht um: Kann durch die Berücksichtigung von Unplanbarem ein Lernen als ein Bildungsprozess, der nicht Abschliessbarkeit beansprucht, eher erreicht werden? Welche Formen des professionellen Handelns befördern ein selbstständiges, kritisch denkendes Subjekt, das auch seine gesellschaftlich-institutionelle Verflochtenheit reflektieren kann?

 

Kontingenz arbeitet mit dem vorerst als ‚Störung’ von pädagogischen Abläufen erlebten unerwarteten, ungeplanten Aktionen oder Reaktionen von Schüler*innen, Kontextbedingungen usw. Wenn Pädagogik ihre Sicherheit in der Planbarkeit und Messbarkeit sucht, dann wird eine Kontingenzreduktion angestrebt. Das Forschungsprojekt Kalkül und Kontingenz hat sich der pädagogischen Schwierigkeit eines Technologiedefizites produktiv zugewendet. Das oft beschworene Technologiedefizit des Pädagogischen, das von Luhmann und Schorr 1982 benannt und oftmals zitiert wurde, verliert damit seinen Stachel. Eine ernsthafte Reflexion von Bildung als Prozess, führt zur Erfahrung, dass sie nicht linear, dass sie unabschliessbar ist und sich immer wieder der Kontrolle entzieht.

Kontingenz ist das, was unerwartet auf- und entgegentritt. Im Unterricht sind es die unerwarteten Reaktionen, Interventionen der Schüler*innen; in der Kunst die unerwarteten Re-Aktionen der Passanten (vgl. Mörsch/Evans 2019, in Heft: Nebenbei, im Kontext). Was ist, wenn die nicht passend erscheinenden Wortmeldungen, Überlegungen (wieder) aufgenommen werden und den Unterricht anreichern statt als Störmomente klassifiziert zu werden?

 

In die Schwebe zurückversetzen heisst ein Heft und es beginnt mit einem Kunstbeispiel: Es veranschaulicht Kontingenz über gescheiterte Bildungsversuche. Es könnte auch anders sein: „Keine Ordnung, kein Wissen, keine Norm und keine Bedeutung ist von abschliessender Gültigkeit; alles ist auch anders möglich,“ (Schürch 2019, in Heft: In die Schwebe zurückversetzen: S. 16) schreibt Anna Schürch einleitend zur Frage nach Kontingenz in Bildungszusammenhängen.

Die weggeworfenen Unterrichtmaterialien werden in dem am Anfang des Heftes dargestellten Kunstbeispiel wieder aufgegriffen und können Anstoss für neue Unterrichtsideen sein. Lehrer*innen konnten ihre, während 3 Wochen gesammelten, Papierabfälle auf dem Boden einer Turnhalle neu sichten und stellten fest, dass die Eindeutigkeit des Weggeworfenen verwischt. Dieses auch anders betrachten können, ‚neu’ sehen und aus der Selbstverständlichkeit und Setzung (das ist Abfall) herauslösen, wird über die verschiedenen Beiträge hinweg sichtbar.

 

In Chewing Reality von Christin Glauser und Simon Harder wird in einem 8-wöchigen Projekt im Kunstunterricht eine Zwischenwelt, die durch Glitzervorhänge von allen Schüler*innen betreten werden konnte, geschaffen: Es ist ein Austritt aus der (Hetero-)Normativität und ein Eintritt zu Möglichkeiten der produktiven Irritation. Die am Kurs teilnehmenden Schüler*innen haben sich an diesem Ort getroffen und mit Videos, Vorträgen und künstlerischen Arbeiten beschäftigt, die dann wiederum für alle zugänglich waren. Sie selbst hatten den Auftrag, einen Audiobeitrag zu erstellen, der ein Stimmlos vertont. Die inhärente Paradoxie des Auftrages an die Schüler*innen, ein Stimmlos als Audiobeitrag zu gestalten, spiegelt die Spannung von geschlechtlichen Entwürfen jenseits der heteronormativen Ordnung wider, die in die Unsichtbarkeit und Sphären des Stimmlosen geraten. Neben den inhaltlichen Zielsetzungen und dem konkreten unterrichtsmethodischen Zugang wird der Forschungsfeldzugang des Aktionsforschungsprojektes genau beschrieben und auch die konkrete Umsetzung (Zeitdauer, Ablauf, Aufgabenstellungen sowie Ergebnisse). Die Reflexion auf das Forschungsprojekt (die Auswertung) wird durch einen Dialog zwischen den Forscher*innen präsentiert: Auswertungsgrundlage waren nicht nur die Gespräche der Autor*innen, sondern auch die Präsentationen der Schüler*innen sowie ihre Gespräche darüber. Ein*e Schüler*in fasst es so, dass es um ein inhaltliches Statement, ein Sich-Involvieren ging.

Eine implizite Frage der Komposition der vorliegenden kunstbasierten Untersuchungen könnte lauten: Wie lässt sich die schulisch geformte Pädagogik von Kontingenzexperimenten erweichen? Einige der Publikationen in der Box eröffnen Einblicke und das Verständnis, wie Kontingenz im jeweiligen Unterricht bewusst zur Aufführung gebracht wurde. Die bewusste Veränderung pädagogischer Praxis wurde durch eine theoretisch reflektierte Auseinandersetzung mit Kontingenz eingeleitet.

 

Ein Theaterpädagoge, Simon Kramer, hat in seinem Kursbuch Schule. Schule wird gemacht beispielsweise seine Rolle als Lehrer ins Visier genommen und hier Normen aufgebrochen: In der Entwicklung eines Theaterprojekts veränderte er die Rolle als Lehrer, indem er unterschiedliche Varianten seines professionellen Selbst inszenierte – wobei die Aufführung von Schule vor 50 Jahren die provokanteste Form fand. Hier brachte der durch den Autor verkörperte Lehrer einen autoritären Erziehungsstil zur Aufführung, der die Normalität der Schule durch eine Wiederaufführung von historisch als überholt geltenden Disziplinarmassnahmen und Ritualen der zentral und souverän agierenden Lehrperson sichtbar macht. Schüler*innen wurde durch die nicht direkt angekündigte dramaturgische Ausgestaltung der eigenen Rolle mehr oder weniger die Möglichkeit gegeben, beim ‚Schultheater’ auch ihre Rollen neu zu gestalten, indem sie kreative Formen des Umgangs mit der Performanz ihres Lehrers fanden. Jedoch wurde diese Gelegenheit nicht von allen Schüler*innen ergriffen. Die Ergebnisse der selbsterforschenden Arbeit von Simon Kramer mündeten in ein Kursbuch Schule, das Schule in der Publikation performiert: Statt mit einer Einleitung beginnt das Heft von Simon Kramer mit „Rätsel[n] und Arbeitsaufträge[n]“ (Kramer 2019, in Heft: Kursbuch Schule. Schule wird gemacht: S. 6-13). Das Heft fragt: Woran erkenne ich, dass Schule stattfindet? Erste Antworten kommen von befragten Schüler*innen. Danach folgen die nächsten Arbeitsaufträge an die Leser*innen der Publikation: Die Arbeitsaufträge sind im Modus eines Lehrmittels verfasst, wobei jedoch die Reflexion des Schulemachens zum zentralen Gegenstand wird. Erst danach folgen essayistisch verfasste Reflexionen des Autors auf seinen Gegenstand, der Befragung der Schule als formende Institution: Beim Theaterprojekt in einer 6. Klasse beschreibt er seine als Lehrer eingenommene Rolle mit der Figur eines Tricksters, der „die erlernten Erwartungen der Schüler*innen an Schule“ (Kramer 2019, in Heft: Kursbuch Schule. Schule wird gemacht: S. 21) bewusst irritieren möchte, um die Schüler*innen zu einer selbstbestimmteren Ausgestaltung ihrer eigenen Rolle zu führen.

 

Nebenbei, im Kontext verortet Carmen Mörsch die Arbeit von Garth Evans, die Einblick gibt in einen intensiven Austausch. Die Beschreibung des Symposiums Work in Condradictions kann als Einleitung oder im Nachklang gelesen werden. Nebenbei, im Kontext hat man als Leser*in teil an einem kontingenten Bildungsgeschehen, das sich im briefbasierten Dialog vollzieht. Deutlich wird hier die Verstrickung des Künstlers in die eigene Biographie – eines Arbeiterkindes aus Manchester, der in die Kunstwelt übergetreten ist, jedoch eine gewisse Zerissenheit – Ambiguität zwischen Kunst und Zugehörigkeitssuche zur Arbeiterklasse nie mehr los wird. Der A-Course ist Garth Evans kunstpädagogisches Vermächtnis, der Kontingenz im individuellen künstlerischen Arbeiten zur Entfaltung bringen will: Es ist das konsequente Verlassen eines Beurteilens oder Bedeutung-Gebens durch den Lehrer / den Kursleiter. Ziel: die eigene künstlerische Identität finden.

 

Von der Lektüre können Erziehungswissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Student*innen und Kunst-, Theater- und Musikpädagog*innen besonders profitieren. Diese Publikation gibt einen Einblick in ein Forschungsprojekt, wo es gelungen ist, dass Berufspraktiker*innen in die forschende Tätigkeit umfassend involviert und auch zu Autor*innen von Heften und Büchern wurden. Folgende Autor*innen machten die Publikation möglich: Seraina Dür, Christin Glauser, Anne Gruber (Layout), Helen Hagenbuch, Simon Harder, Simon Kramer, Milena Meier, Sabine Mommartz, Carmen Mörsch, Roland Nyffeler, Anna Schürch, Eva Welter und Sascha Willenbacher. Es geht nicht darum, dass man Beispiele des bewussten Einsatzes von Kontingenz erhält, die man auch als Leserin (Kunstpädagogin) dann direkt umsetzen kann, sondern es geht vielmehr um eine Haltung, die mit einer Einsicht in ein bildungstheoretisches Verständnis des Lernens einhergeht, welche für den bewussten Umgang mit Kontingenz als Teil des professionellen Handelns von Lehrer*innen öffnet. Das Verunsichernde der Unverfügbarkeit des Lernens von Schüler*innen oder von pädagogischen Situationen wird nicht mit dem selbstauferlegten Zwang zu mehr Steuerung und Kontrolle über das, was gelernt werden soll, begegnet, sondern das Andere (das Dritte) wird vielmehr bewusst integriert. Herauszustreichen ist, dass ein sehr enger und intensiver Austausch zwischen Forschung und Berufspraxis in Schulen zu den durchgeführten Projekten gelungen ist, wobei theoretische Texte nicht zum beiläufigen Übel sondern zum Motor der Projektkonzepte und der empirischen Untersuchungen (Interviews, Ethnographien usw.) wurden. Ich möchte hier mit einem Zitat schliessen: „Es hätte auch anders kommen können. Es geht nicht darum, ob es dann besser gewesen wäre. Das Urteil ist suspendiert. Es geht darum, dass die Einteilung als eine mögliche, aber nicht notwendige – eben als eine kontingente – sichtbar wird. Dadurch wird das Einteilen selber als etwas Unmögliches entlarvt. Darin besteht die Dekonstruktion.“ (Schürch 2019, in Heft: In die Schwebe zurückversetzen: S. 15)

 

Literatur:

Luhmann, N./ Schorr, E. (1982): Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In: Luhmann, N./ Schorr, E. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Stuttgart, Suhrkamp Verlag, S. 11–41.

Wimmer, Michael (2010): Lehren und Bildung. Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis. In: Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (Hg.): Lehren bildet? Vom Rätsel unsere Lehranstalten. Bielefeld, transcript, S. 13-37.


Kurzbiografien der Autor_innen: