Nichts ist langweiliger, als ein gewöhnliches Leben zu führen, das einem von anderen aufgezwungen wird. Dazu gehört auch, die Räume der eigenen Umgebung so zu akzeptieren, wie sie von anderen gebaut und in ihrer Nutzung vorbestimmt sind. Sich einen Raum oder Ort anzueignen bedeutet beispielsweise auch, ihn sich und anderen fremd zu machen. Dies gilt insbesondere für den Lebensraum, in dem man selbst wohnt und den man tagtäglich ganz selbstverständlich nutzt. Die Frage ist also, wie genau dieser Lebensraum zum Freiraum werden kann, und die Antwort liegt wohl im Spiel. Denn in „der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung" (Huizinga 1939: 20). Ein Hinweis auf die transformative Kraft spielerischer Raumaneignung.
Im folgenden Text möchte ich die Verbindungen zwischen spielerischer Raumaneignung, künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum und partizipativer Kartografie anhand ausgewählter Beispiele untersuchen. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie diese Ansätze gemeinsam zur Förderung eines Verständnisses von Baukultur beitragen können. Besonders im Fokus stehen dabei die Perspektiven und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen.
Spielerische Raumaneignung
Die Art und Weise, wie jemand den eigenen Lebensraum nutzt, setzt ein bestimmtes Raumverständnis voraus, das sich im Laufe des Lebens verändert bzw. herausbildet.
Nach Piaget, Inhelder und Szeminska (1948) entwickelt sich im Alter von zwei bis sieben Jahren das topologische Raumverständnis, bei dem räumliche Beziehungen von der eigenen Position im Raum aus erfasst werden. Bis etwa zum elften Lebensjahr bildet sich das projektive Raumverständnis heraus, bei dem Beziehungen, wie z.B. Entfernungen, von anderen Fixpunkten als dem eigenen aus verstanden werden können. Daran schliesst sich die Entwicklung des euklidischen Raumverständnisses an, das es ermöglicht, verschiedene abstrakte Elemente, wie sie z.B. auf klassischen Landkarten zu finden sind, miteinander in Beziehung zu setzen.
Es ist schwierig zu bestimmen, ob die verschiedenen Raumverständnisse, die ein Individuum im Verlauf seines Lebens entwickelt, sich gegenseitig ablösen, oder ob sie gleichzeitig im Individuum bestehen bleiben und wirken. Es lässt sich jedoch konstatieren, dass die euklidische Vorstellung eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, die gebaute Umwelt als Ausdruck bestimmter Vorstellungen anderer mittels Abstraktionsvermögen anzuerkennen. Im Laufe unseres Lebens erwerben wir die Fähigkeit, unseren Lebensraum losgelöst von unseren eigenen Perspektiven, Bedürfnissen und Bedingungen zu betrachten und lernen, dass es nicht nur ein Verständnis von Raum gibt. Dies bedeutet jedoch nicht, das eigene Raumverständnis aufzugeben. Vielmehr geht es darum, andere Sichtweisen in Differenz zur eigenen anzuerkennen und sich gegebenenfalls mit anderen auf gemeinsame Regeln für ein Miteinander in diesem Raum zu verständigen.
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der ‚Raumaneignung‘ zu verstehen. Er kann entweder als Aushandlungsprozess verstanden werden, in dem ein Raum oder Ort in einer Weise interpretiert, genutzt oder umgestaltet wird, die von seinen ursprünglichen Gestalter*innen so nicht vorgesehen war. Oder Raumaneignung impliziert die Reaktivierung der bereits erwähnten frühkindlichen Raumverständnisse, in denen Raum stets in Bezug auf sich die eigene Position oder einen anderen signifikanten Bezugspunkt verstanden wird. Dabei werden das topologische und projektive Raumverständnis wirksam.
Die Aneignung von Raum kann jedoch über die Individualisierung oder ‚Infantilisierung‘ von Raum hinausgehen und ein neues Verständnis davon beinhalten, wie das verkörperte Wissen von Individuen, aber auch von systemisch marginalisierten Gruppen, etablierte und akzeptierte Raum- und Nutzungsverhältnisse in Frage stellen kann.
Ein exemplarisches Beispiel für die spielerische Aneignung von Raum ist das Projekt Bauvorhaben Mitmachstadt der Gruppe Leut'Werk aus den Jahren 1979–1981 (vgl. Abb. 1). Im Rahmen von Kulturfesten wurde in mehreren westdeutschen Städten jeweils mehrere Tonnen Lehm in den öffentlichen Raum gekippt (vgl. Hummel 2023: 75). Die Öffentlichkeit war über die Dauer mehrerer Tage eingeladen, sich an der Errichtung einer Stadt zu beteiligen und sich auf diese Weise in einem spielerischen Prozess mit baukulturellen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Die dort errichteten Miniaturstädte waren nicht nur ein Abbild der realen Umgebung, Diskurse und Interessen, sondern auch ein Aushandlungsprozess utopischer Visionen derjenigen, die in den gängigen städtebaulichen Diskursen und Entscheidungsfindungen nicht zu Wort kommen (vgl. Hummel, im Erscheinen). Auf Initiative von Claudia Hummel wurde das Projekt im Jahr 2015 an der Berliner Stadtgrenze unter dem Titel Mitmachstadt Bernau erneut durchgeführt, diesmal in einem Innenraum (vgl. Abb. 2), mit rund tausend Teilnehmenden und über einen Zeitraum von drei Monaten. Auch hier wurde die Frage aufgeworfen, wie die eigene Stadt aussehen könnte. Aufgrund der nacheinander aktiven Baumeister*innen – in erster Linie Kinder, aber auch Erwachsene – wurde Bestehendes immer wieder umgebaut oder abgerissen. Es kam jedoch auch vor, dass Kinder, die unter der Woche mit ihrer Schulklasse gekommen waren, am Wochenende wiederkamen, um den Abriss ihrer Bauten zumindest teilweise aufzuhalten (vgl. Hummel 2020: 77 ff.).
Die spielerische Aneignung kann dabei helfen, einen vertrauten Ort neu zu interpretieren, indem Regeln und Konventionen hinterfragt werden und neue Nutzungsweisen entstehen, die mit den eigenen Bedürfnissen in Verbindung gebracht oder mit neuen, spannenden Herausforderungen aufgeladen werden. Es geht also auch um das Entdecken und Erforschen von städtischen (und ländlichen) Räumen, die im Alltag oft übersehen oder als ‚nicht nutzbar‘ wahrgenommen werden.
Die transformative Kraft dieser spielerischen Ansätze liegt darin, dass sie eine alternative Perspektive auf den Raum eröffnen. Wo vorher nur funktionale Gebäude, Verkehrswege und Plätze gesehen wurden, entstehen im Spiel neue Bedeutungen und Nutzungsmöglichkeiten. Die spielerische Aneignung von Raum kann in diesem Sinne als eine erfinderische Form des Widerstands gegen die festen Strukturen verstanden werden, die das moderne Stadtbild prägen. Sie gibt dem Individuum die Macht, den Raum zu verändern und ihm eine neue Bestimmung zu geben.
Dies steht insbesondere in einem starken Widerspruch zu den fehlenden Möglichkeiten und verfügbaren Räumen, in denen Kinder heute noch unreglementiert, unbegleitet und unbeaufsichtigt spielen können, wie beispielsweise in Kinderrepubliken oder auf Robinsonspielplätzen. Das Projekt Mitmachstadt beschreibt dieses Spannungsverhältnis, das Jean-Paul Sartre (2009: 480) als Wechselspiel zwischen „Für-sich-sein“ und „Für-andere-sein“ beschreibt. Wenn Kinder unbeobachtet spielen, entfaltet sich ihre Selbstwahrnehmung ganz natürlich und ungehindert; sie handeln frei von vermeintlichen Erwartungen oder Urteilen anderer. Wenn sie aber beobachtet werden und sich dessen bewusst sind, beginnt das ‚Anderssein'. Der Blick der Anderen zwingt zum Nachdenken, zum Hinterfragen der eigenen Wirkung auf die Anderen, was zur Selbstvergewisserung führen kann. In einem Spiel, dessen Inhalte wiederum mit anderen ausgehandelt werden, kann die soziale Interaktion aber auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion und auch zur Abgrenzung vom Urteil anderer ermöglichen.
Künstlerische Interventionspraxis im öffentlichen Raum
Neben der spielerischen Aneignung von Raum ist die künstlerische Intervention eine Möglichkeit, bestehende Orte zu hinterfragen und zu verändern. Künstlerische Interventionen bedienen sich oft ungewöhnlicher Hintertüren, Techniken und Inszenierungen, um den öffentlichen Raum neu zu definieren, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Tehching Hsiehs One Year Performance 1981–1982 (Outdoor Piece) ist eine radikale künstlerische Arbeit, bei der er einer konkreten Regel folgte: Ein Jahr lang lebte Hsieh ohne Obdach und Schutz im öffentlichen Raum von New York City (vgl. Abb. 3). Er beschloss, kein Gebäude zu betreten und sich nirgendwo unterzustellen, wodurch er den Witterungsbedingungen vollständig ausgesetzt war. Diese Arbeit unterstreicht die Zerbrechlichkeit sozialer und räumlicher Privilegien. Was wie ein Selbstexperiment anmutet, verdeutlicht zugleich die Unsichtbarkeit marginalisierter Erfahrungen im urbanen Kontext. Für das Publikum wurde die Performance zur Quelle von Irritation, Empathie und Reflexion. Auch hier erfolgt eine Umwertung des Gewohnten. Durch die Zuspitzung einer bestimmten Erfahrungsqualität, die mit allen Konsequenzen durchexerziert wurde, kann diese auch von unbeteiligten Personen nachvollzogen werden. „You have to make the art stronger than life, so people can feel it.” (Hsieh 2009)
Im Jahr 2003 errichtete die italienische Künstler*innengruppe 0100101110101101.ORG in Zusammenarbeit mit der Wiener Medieninstitution Public Netbase auf einer Verkehrsinsel am Karlsplatz eine ‚Infobox', die wie eine Marketingaktion von Nike wirkte (vgl. Abb. 4). Vgl. https://0100101110101101.org/nike-ground/ [14.11.2024] Der Name des Karlsplatzes wurde durch ‚nikeplatz‘ ersetzt und das Nike-Logo sowie Pläne für eine grosse Nike-Skulptur waren zu sehen. Die Aktion, die in den Wiener Medien und der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit und Proteste sorgte, entpuppte sich im Nachhinein als Kritik an der Privatisierung des öffentlichen Raums und dem Einfluss von Konzernen auf städtische Orte. Obwohl Nike gegen Public Netbase klagte, wurde das Kunstprojekt nicht verboten. Das Beispiel zeigt, wie künstlerische Interventionen das Verständnis für Baukultur fördern können, indem sie auf ironische Weise auf die Kommerzialisierung und Vereinnahmung öffentlicher Räume durch Unternehmen hinweisen. Durch die vorgetäuschte Aktion am Karlsplatz wurden die Bürger*innen dazu gebracht, über den bereits bestehenden Einfluss von privaten Firmen auf städtische Strukturen und den öffentlichen Raum nachzudenken. Erst durch die Verfremdung und die gewohnte Umgebung wurden unterschwellige Interessen und Ängste sichtbar und verhandelbar.
Partizipative Kartografie und Raumverständnis
Ein weiterer Zugang zur Aneignung von Raum ist die Kartografie. Kartografie ist traditionell ein Instrument der Macht. Die Herstellung von Karten basierte lange Zeit auf technischem und geographischem Wissen, das nur einem kleinen Kreis, insbesondere militärischen oder staatlichen Institutionen, zugänglich war. Seit den 1980er Jahren wird von Vertreter*innen der kritischen Kartografie hinterfragt, ob Karten als objektive Darstellungen der Realität verstanden werden können. Karten werden von ihnen als diskursive Konstrukte betrachtet, die soziale und räumliche Vorstellungen erzeugen und verstärken. Brian Harley (1989) hat, beeinflusst von Michel Foucault, die Disziplin geprägt, indem er Karten als ‚Macht-Wissen-Komplexe‘ interpretierte, die soziale Realitäten widerspiegeln und formen. Karten werden hier weniger als neutrale Dokumente verstanden, sondern als Verknüpfungen von Informationen, die bestimmte Inhalte hervorheben und andere ausblenden, was politische Implikationen hat.
Experimentelle Ansätze brechen mit kartografischen Konventionen, indem sie subjektive Perspektiven auf den Raum zulassen und fördern. Insbesondere die partizipative Kartografie hat sich als eine Methode entwickelt, die Macht des Kartierens in die Hände marginalisierter Gruppen zu legen. Dies ermöglicht beispielsweise indigenen Gemeinschaften, ihr Raumverständnis, ihr Wissen, ihre Perspektiven und Interessen durch gemeinschaftliche Prozesse für die eigene Gruppe und für andere sichtbar zu machen. Solche Karten helfen nicht nur, kulturelles Wissen zu bewahren, sondern auch politische Anliegen und Landrechte zu dokumentieren. Dadurch entsteht ein emanzipatorisches Potenzial, das diesen Gruppen mehr Einfluss und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Diskurs verschafft und zur Anerkennung ihrer Ansprüche beiträgt (vgl. kollektiv orangotango 2019).
Spätestens seit den 1970er Jahren sind Karten auch in der Kunst ein wichtiges Thema und Medium (vgl. Watson 2018). In der Kunst wurden und werden die Materialität der Karte und die Konventionen des Mediums immer wieder hinterfragt. So haben beispielsweise Künstler*innen wie Janet Cardiff und George Bures Miller audio walks entwickelt, bei denen die Teilnehmer*innen durch einen Raum oder eine Stadt geführt werden, während sie eine Klanglandschaft hören, die Erinnerungen, Geschichten und Emotionen vermittelt. Dadurch wird der Raum auf eine intime und individuelle Weise erfahrbar, die sich deutlich von einer klassischen Stadtführung oder einem konventionellen Stadtplan unterscheidet. Solche Karten zeigen, dass Räume nicht statisch oder objektiv ‚gegeben‘ sind, sondern durch individuelle und kollektive Erfahrungen ständig neu konstruiert werden.
Diese Formen der partizipativen Kartografie bzw. künstlerische Zugänge dazu sind im Bildungskontext besonders interessant, da sie Kinder und Jugendliche dazu anregen, sich mit ihrem Lebensraum auseinanderzusetzen, sich das Gewohnte fremd zu machen, es kritisch zu hinterfragen und umzugestalten. Durch die subjektive Kartierung des eigenen Raumes erfahren sie schon früh im Leben, dass Orte durch soziale Interaktionen und Erfahrungen geprägt werden und dadurch einen individuellen Wert erhalten. Im Rahmen des Projekts Commoning ländliche Baukultur, an dem ich als Künstler über mehrere Monate im Jahr 2023 beteiligt war und das von der Pädagogischen Hochschule Schwyz initiiert wurde, geht es darum, Kinder für das baukulturelle Erbe und mögliche Zukunftsperspektiven ihrer Gemeinde Pfäffikon zu sensibilisieren. Die Kinder der 3. Klasse erkundeten mit vorgegebenen und eigenen Fragen ihren Lebensraum, sammelten Spuren, trugen diese zusammen und wählten in einem mehrteiligen Prozess verschiedene Orte aus, die für sie in ihrer jetzigen oder veränderten Form eine Bedeutung haben. Diese Orte wurden dreidimensional rekonstruiert und auf einer selbst erstellten Karte in der Grösse des Klassenzimmers platziert. Im Anschluss wurde das Ergebnis fotografiert und als Faltplan mit Beschreibungen an Politiker*innen übergeben (Abb. 5). Vgl. dazu auch den Beitrag von Weniger/Pinheiro Batista/Kolb in der gleichen Ausgabe dieses e Journals.
Im Folgenden eine Auswahl von Fragen, die wir den Kindern vorgeschlagen haben, mit denen sie auf Ortserkundung gingen. Es ging darum, auf gemeinsamen Spaziergängen den gewohnten öffentlichen Raum fremd zu machen, also in die gewohnte Wahrnehmung zu intervenieren:
Wo ist es am wärmsten? • Wo ist es am kältesten? • Wo ist es am windigsten? • Wo ist es am lautesten? • Wo ist es am ruhigsten? • Wo darf ich nicht rein? • Welcher Ort ist für niemanden zugänglich? • Wo dürfen auch Erwachsene nicht hin? • Wo riecht es gut? • Wo stinkt es besonders? • Welcher Ort macht andere Menschen traurig? • Welcher Ort macht mich traurig? • Wo würde ich mich gerne hinlegen? • Wo fühle ich mich unwohl? • Wo ist es am langweiligsten? • Welchen Ort verstehe ich nicht? • Wo würde ich gerne rein/drauf/drunter gehen? • Wo möchte ich meinen Geburtstag feiern? • Welchen Ort finde ich hässlich? • Wo finde ich es besonders schön? • Welcher Ort hat ein Geheimnis? • Wenn ich einen Ort zum Schmelzen bringen könnte (ja, zum Schmelzen, im Sinne einer Superkraft), welcher wäre das? • Welchen Ort sollte man nur rennend erleben? • Welchen Ort sollte man ganz langsam erleben? • Welchen Ort würde ich gerne von oben sehen? • Welcher Ort macht mir Angst? • Welchen Ort würde ich gerne beobachten, wenn ich unsichtbar wäre? • Welcher Ort ist für meine Eltern wichtig? • Wo könnte ich etwas verstecken? • Wo würde ich mich verstecken, wenn ich nicht will, dass mich jemand findet? • Wo fühlen sich Tiere besonders wohl? • Welcher Ort hat eine lange Geschichte? • An welchem Ort könnte es Geister oder andere Wesen geben? • An welchem Ort gibt es keinen Handyempfang? • Wo kann man besonders tief in die Erde schauen? • Welchen Ort kann man nur selten betreten? • Wo hört man besonders viele Sprachen? • Welcher Ort wird nie sauber gemacht? • Welchen Ort würde ich am liebsten aufessen? • Welcher Ort sieht gut auf einer Postkarte aus? • Wo habe ich mich schon einmal verlaufen? • Welchen Ort würde ich jemandem zeigen, der zum ersten Mal in Pfäffikon ist? • Welcher Ort gibt mir Hoffnung? • Welcher Ort würde meinen Grosseltern gefallen? • Welchen Ort könnte man besonders gut bemalen (unabhängig davon, ob es erlaubt ist oder nicht)? • Welcher Ort hat eine Geschichte, die noch keiner gehört hat (und die ich mir erstmal ausdenken muss)? • Von welchem Ort habe ich schon mal geträumt und warum? • Welchen Ort kenne ich besser aus dem Internet als in echt? • Welcher Ort ist in meiner Vorstellung besser als in echt? • Komplizierte Frage: Wenn ich selber mal Kinder haben würde, welcher Ort könnte für die mal ganz wichtig werden, der jetzt noch gar nicht wichtig erscheint?
Die Fragen zielten in erster Linie darauf ab, Gefühle und Bedürfnisse anzusprechen und diese mit realen und teilweise imaginären Orten in Verbindung zu bringen. Sie können bestehende Gedanken aufgreifen, laden aber auch dazu ein, ganz neue Verbindungen herzustellen und so den Lebensraum in Zukunft anders zu betrachten und zu begehen. Die Erstellung einer gedruckten Karte war von entscheidender Bedeutung, da es das Ziel war, die Perspektiven der Kinder auf den Raum, die sich von denen der Erwachsenen deutlich unterscheiden können, für die Erwachsenen erfahrbar zu machen.
Abschliessende Überlegungen
An dieser Stelle möchte ich auf das Potenzial, aber auch auf die Risiken spielerischer und künstlerischer Ansätze im Umgang mit Raum eingehen.
Wie bereits beschrieben, bietet das Spiel die Möglichkeit, neue Regeln aufzustellen und innerhalb dieser einen veränderten Blick und einen sozialen Aushandlungsprozess auf die gewohnte Umgebung zu ermöglichen. Hier liegen Spiel und Kunst nahe beieinander. Insbesondere künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum, aber auch experimentelle, insbesondere partizipative Kartierungspraktiken können die Wahrnehmung von Raum nachhaltig verändern. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass hier die Gefahr besteht, dass bestimmte Raumbilder einfach reproduziert werden, weil eben nicht ganz klar ist, ob sich nicht wieder bestimmte Erwartungshaltungen in die Raumwahrnehmung einschleichen. Die Teilnehmenden der Mitmachstadt haben nach einer Diskussion gesagt: „Frau Hummel, wir haben abgestimmt. Wir wollen keine Wohnungen bauen, sondern einen Vergnügungspark“. Gebaut wurden eine Konzertbühne, ein Sportplatz und Filmstudios aus der Serie SpongeBob Schwammkopf (vgl. Hummel 2020: 79). Ähnliches geschah bei dem Projekt in Pfäffikon. Es gibt also keinen unbeeinflussten Blick auf die Stadt oder Gemeinde, sondern immer auch eine Erzählung der Inhalte und Medien, die die Beteiligten konsumieren. Dies geschieht insbesondere in dem oben erwähnten Wechselspiel zwischen „Für-sich-sein“ und „Für-andere-sein“. Hier unterscheidet sich die künstlerische Intervention von der Form des freien Spiels. In der Kunst sind die Verfremdungen und Antworten auf die Umgebung immer auch Zuspitzungen bestimmter stadträumlicher Fragestellungen.
Die partizipative Kartierung wiederum ist eine Möglichkeit, subjektive Raumwahrnehmungen mit anderen Raumwahrnehmungen in Beziehung zu setzen, sie also zu pluralisieren. Spielerische Raumaneignung, künstlerische Intervention und partizipative Kartografie verdeutlichen, dass Baukultur neben der physischen Gestaltung von Gebäuden, Plätzen etc. immer auch die soziale und kulturelle Auseinandersetzung der*des Einzelnen mit Raum ist. Gerade in diesem Wechselspiel sehe ich besondere Möglichkeiten für Künstler*innen, Kinder und Jugendliche, den gewohnten Raum nicht nur anders zu begreifen, sondern auch sich selbst mit ihren Perspektiven auf ihn sichtbar und diskutierbar zu machen. So wird deutlich, dass Räume nicht unveränderlich und starr sind, sondern dass sie durch künstlerisches Handeln und Reflektieren immer auch ihre eigenen Verständnisgrenzen aufzeigen und im besten Fall neu interpretiert und gestaltet werden können.
Literatur
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Hummel, Claudia/Cheng, Anchi/Gramming, Moritz (2020): Geräteturnen. In: Winkel, Mirko (Hg.): Rausgehen! Reingehen! Über Haltungen und Handlungsformen in Theater, Kunst und Pädagogik. ORT, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. S. 74-85.
Hummel, Claudia (2023): Von marxistisch informierter Spielzeugkritik zur Katastrophenwerkstatt. In: Guhl, Regina/Hilliger, Dorothea/Winkel, Mirko (Hg.): Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik. Berlin, Theater der Zeit. S. 75-82.
Hummel, Claudia (im Erscheinen): MITMACHSTADT – EINE WIEDERAUFFÜHRUNG. In: Leko, Kristina et al. (Hg.): Kontext Labor Bernau.
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