Urteil und Passivität: Überlegungen zu Bilderfahrungen als Movens für Urteilsbildung(en)

Schlagwörter: Passivität, Visuelle Bildung

Abstract:
Abstract.

  1. Ausgangslage: aktuelle visuelle Infrastrukturen als Herausforderung zu ästhetischen Urteilen

 

Wir bewegen uns im Alltag, in Schule und Forschung in Infrastrukturen, die von Bildern geprägt sind. Dass Bilder darin als einzelne vorkommen, wird zunehmend zur Ausnahme (Ganz/Thürlemann 2010: 14). Sie begegnen uns stattdessen als netzartige „Entitäten“ (Schütze 2019), die durch Copy&Paste vervielfältigt werden (vgl. Schmidt 2024: 120ff.) und eine teils virulente Distribution und mediale Transformation erfahren. Einzelbilder werden abgelöst von „Bildverkettungen" (vgl. Sabisch 2018: 232), sie tauchen als Serien, Collagen und Montagen auf (vgl. Haarmann 2019: 299-308). Unmerklich und nur im Gewicht eines Smartphones tragen wir tausende Bilder mit uns in der Hosentasche herum. In Mediatheken, Clouds, auf sozialen Plattformen und durch bildgenerierende KI-Tools sind Bilder online allerorts und in grosser Anzahl verfügbar. Sie wollen gezeigt, gepostet, geteilt werden. Nicht zuletzt tragen technologische Fortschritte, wie zum Beispiel neue Speichermöglichkeiten und Datenkompressionsmethoden, immer wieder dazu bei, dass Bilder in grösseren Mengen distribuiert und in anderen Formen rezipiert werden können (Moormann/Zahn: 14).

An der Gegenwartskunst spiegeln sich diese infrastrukturellen Transformationen und die zunehmend heterogenen und agilen Bildumgebungen besonders deutlich wider. Künstlerische Arbeiten tauchen in Versionen und Variationen auf. Daten werden open access gestellt, sodass künstlerische Arbeiten potenziell in andere Bereiche der Pop- und Subkultur diffundieren. Beispielhaft für künstlerische Arbeiten, die diese Signatur des Postdigitalen tragen, kann Oliver Laric genannt werden. Laric stellt seine 3D-Scans von antiken Skulpturen online zur weiteren Verwendung kostenlos zur Verfügung, wodurch diese beispielsweise in einem Musikvideo von Nicki Minaj ebenso auftauchen wie als grossformatige Animation auf der Bühne des Eurovision Songcontests (vgl. Böhme 2025: 82). Larics Arbeit steht stellvertretend für Bildkulturen, in denen sich Bilder andauernd vervielfältigen und durch mediale Übersetzungen in unterschiedlichen Aggregatzuständen online und offline koexistieren (ebd.: 86). 

Fortlaufend fordern diese komplexen Infrastrukturen des Visuellen Einschätzungen und Bewertungen heraus, um sich als Betrachter*innen darin (neu) orientieren und zwischen verschiedenen Versionen, Medialitäten und Bildkontexten navigieren zu können. Zugleich schliesst daran auch die Frage danach an, wie wir vor dem Hintergrund dieser medialen Fluidität und Unübersichtlichkeit über ästhetische Urteile nachdenken können. 

 

Um mich mit dem Thema des ästhetischen Urteils zu beschäftigen, setze ich nicht direkt im Kunstunterricht und in dortigen Bewertungssituationen an, sondern richte die Aufmerksamkeit zunächst auf die Passivität, die uns Bilder in derart komplexen Bildumgebungen zumuten. Beispielhaft und ausgehend von einer empirischen Fallstudie zu visueller Responsivität werde ich an einer skulpturalen Arbeit von Oliver Laric zeigen, dass in der Auseinandersetzung mit Bildmaterial pathische Dimensionen wirksam sind, die sich einem bewussten Urteilen-Können potenziell entziehen. Heterogene Bildkonstellationen, wie sie uns natürlich nicht nur, aber besonders deutlich in der zeitgenössischen Kunst begegnen, bilden den Ausgangspunkt und sind gewissermassen das Brennglas, um dem Prozessieren des Urteils auf die Spur zu kommen. Das ästhetische Urteil wird nicht im aktivischen Sinne als Vermögen oder Befähigung und auch nicht von seinen Resultaten her befragt, sondern vielmehr mit Blick auf seine komplexe Prozesslogik.

 

  1. Bildkompetenz: Konturen und Einwand

 

Prominent und tradiert im kunstpädagogischen Diskurs ist, wenn man sich mit dem Konnex von Bildern und Bildung beschäftigt, der Begriff Bildkompetenz. Vor dem skizzierten Hintergrund heterogener Bildformationen mag dies aus pädagogischem Blickwinkel durchaus nachvollziehbar erscheinen: Wie umgehen mit Bildern, die uns in unzähliger Menge umgeben, die in personalisierter Form, z. B. als Werbung, an uns herantreten und die fortlaufend durch veränderte mediale Beschaffenheiten nach neuen Bild- und Reflexionspraktiken verlangen? Wie können wir uns zurechtfinden innerhalb komplexer Medienökologien (vgl. Zahn 2020), die sich durch vielschichtige und hochfrequente Bildphänomene und Distributionsmechanismen auszeichnen?

 

Es mag insofern auf den ersten Blick sinnvoll sein, sich zu fragen, wie wir Das hier formulierte Wir meint auf einer grundlegenden Ebene potenzielle Betrachter:innen, die sich im Alltag, in Bildung und Forschung mit Bildern auseinandersetzen, ohne diese in der Vorstellung einer Betrachter*innengemeinschaft zu amalgamieren. Die versammelten Fragen adressieren ein grundlegendes Eingebettet-Sein in mediale Infrastrukturen bzw. Technosphären und gegenwärtige Bildkulturen. Sie betreffen unterschiedlich situierte Betrachter*innen. Dadurch adressieren sie nicht nur kunstpädagogische Praxis und deren methodische Gestaltung im engeren Sinne, sondern auch den alltäglichen Bildkontakt außerhalb pädagogischer und schulischer Situationen. Ich selbst schreibe aus kunstpädagogischer und hochschuldidaktischer Perspektive und blicke vor phänomenologischem und medienphilosophischen Theoriehintergrund und mit einem kritischen Bildungsverständnis auf Bilder. als Betrachter*innen kompetent mit der „sea of data“ (vgl. Steyerl 2016) umgehen und uns als Betrachter*innen in die Position des Agens (zurück-)versetzen können, die uns durch datengetriebene Technologien streitig gemacht zu werden scheint (vgl. Schütze 2019). Vertreter*innen, die angesichts der Bilderfülle für eine souveräne Positionierung der Betrachtenden argumentieren, finden sich beispielsweise im Sammelband Bildkompetenz – Eine kunstdidaktische Perspektive (Bering/Niehoff 2014) und aktuell im Kontext des Forschungsverbundes IMAGO. https://www.imago-kunstpaedagogik.de/ [12.06.2025]. Hier spielen „visual literacy“, „Bilderleben und Verstehen“, Kirschenmann, Johannes/Schulz, Frank (1999): Bilder erleben und verstehen. Einführung in die Kunstrezeption. Leipzig, Klett. „Bildverstehen“, Christiane Schmidt-Maiwald/Glas, Alexander (Hg.) (2018): Bildverstehen. IMAGO Zeitschrift, Bd. 6/2018. „Bildhandlungen und ihr Sinn“ Sowa, Hubert/Uhlig, Bettina (Hg.) (2006): Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik. Ludwigsburg: Verlag der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. oder „Methoden der Bilderschließung“ Christiane Schmidt-Maiwald (Hg.) (2018): Bildverstehen und die Methodik der Kunstbetrachtung. In: dies./Glas, Alexander (Hg.) (2018): Bildverstehen. IMAGO Zeitschrift, Bd. 6/2018. S. 9.  eine hervorstechende Rolle. Die Reihe der Formulierungen beansprucht keine Vollständigkeit, sondern steht vielmehr symptomatisch für prominente Vorstellungen und Forderungen, dass Bilder einem analytischen Umgang zugänglich und damit schliesslich einem – auch diagnostischen – Wissen verfügbar gemacht werden können und sollen (vgl. Johns 2021: 445ff.). Vor dem Hintergrund aktueller Bildkulturen und zunehmend opaker Prozesse der Bildproduktion und -verbreitung stellt sich jedoch die Frage, ob ein derart starker Bildkompetenzbegriff nicht einer Illusion von Verfügbarkeit zuarbeitet, die aus technologischer Perspektive im Grunde nicht mehr zu halten ist. Denn gerade angesichts dynamischer Bildumgebungen und datengetriebenen (Bild-)Technologien erscheint ein aktivischer Bildkompetenzbegriff, wie er sich hier nur andeuten lässt, zwar auf den ersten Blick attraktiv, weil er Sicherheit und Steuerung verspricht, erscheint aber zugleich auch fragwürdig, weil er ausblendet, dass wir es zunehmend mit Bildumgebungen und Bildkonstellationen zu tun haben bzw. bekommen, die wir in ihren Distributionslogiken und -geschwindigkeiten sowie versteckten Mechanismen und Algorithmen nicht mehr beherrschen und verstehen können (vgl. Niederberger 2023 Ich beziehe mich auf den Vortrag Die kulturelle Form des Users. Datengetriebene Infrastrukturen und Subjektivität, den Shusha Niederberger als Keynote auf der Jahrestagung der Sozietät für Kunst Medien Bildung an der Universität Potsdam am 21.09.2023 gehalten hat., vgl. Böschen i.E.).

 

Gerade den pathischen Dimensionen im Bildkontakt mehr Aufmerksamkeit zu schenken, kann als Antwort auf eben jene Veränderungen von Bildkulturen und medialen Infrastrukturen verstanden werden. Das Bemühen um die passivischen Seiten der Erfahrung spielt im jungen Diskurs der Visuellen Bildung eine zentrale Rolle, indem Bilder als Produkte responsiver Prozesse untersucht werden (vgl. Sabisch 2018: 21-32, siehe dazu auch die Publikationsreihe des DFG-Projekts Visuelle Bildung Die Reihe Visuelle Bildung wird von Andrea Sabisch, Jörg Sternagel, Volkmar Mühleis und Katja Böhme herausgegeben und erscheint im Textem Verlag in Hamburg. 2025 erscheinen die ersten fünf Bände: Responsive Bildarbeit (Bd. 1), Responsive Raumbildung (Bd. 2), Screening Objects – Objekts on Screen (Bd. 3), Ethisches Sehen (Bd. 4) und Bilder im Entstehen (Bd. 5).). Es geht dabei nicht um die Frage, wie wir mit Bildern möglichst kompetent und souverän umgehen lernen, sondern in welcher Weise Bilder – anders als beispielsweise Sprache – uns in unserem Wahrnehmen und Denken ausrichten und wie sie sich in ihrer medialen Präsenz an unseren Erfahrungsprozessen beteiligt zeigen. Bilder treten aus dieser Perspektive als wirkmächtige Entitäten auf, die uns als Betrachter*innen eine gewisse Passivität zumuten (vgl. Busch 2012). Sie „infizieren“ unseren Blick (Pazzini 2015: 199), sie konstituieren sich als solche erst im Antworten der Betrachter*innen und eben nicht durch Versuche, sich verfügbar zu machen. Einen aufschlussreichen Text über die methodische Verfügbarmachung von Bildern durch Einzeichnungen hat Mira Fliescher vorgelegt. Sie zeigt an dem Gemälde Gefangennahme von Giotto di Bondone, wie Max Imdahl durch lineare Einzeichnungen und Einkreisungen den Blick auf das Bildgeschehen lenkt und zuallererst im Grunde dadurch Deutungen hervorbringt. Sie spricht von (Ver)Zeichnungen und punktiert damit das Problem, dass hier eine methodische Zurichtung und Deutung des Bildes stattfindet, die eine Autorität beansprucht, gleichwohl sie sich nicht in ihrer Konstruiertheit kritisch selbst befragt (vgl. Fliescher 2018: 269-279). Was erfahren wir über Bilder, uns selbst und andere, wenn wir auf diese (gestalterisch-praktisch, spontan assoziierend usw.) antworten? Antworten meint hier gerade nicht das Beantworten einer Frage im Sinne einer Schließung, sondern es ist nach Bernhard Waldenfels ein Antworten, das einer Reflexion, der Übersetzung in Sprache und Erklärungen zuvorkommt. Im Antworten können wir so zu allererst aufmerksam darauf werden, was uns trifft und angeht – noch bevor wie dies explizieren und sprachlich mitteilen können (vgl. u.a. Waldenfels 2002: 59).




 

  1. Fragen

 

Auf den spezifischen Kontext dieses Themenheftes bezogen frage ich mich, welchen Beitrag ein responsives Verständnis von Bild-Betrachter*innen-Beziehungen für ein Nachdenken über ästhetische Urteile bieten kann? Welche theoretischen aber auch pädagogisch-praktischen Perspektiven können gewonnen werden, wenn sich ästhetische Urteile innerhalb eines pathischen Geschehens entwickeln und das urteilende Subjekt sich dabei in einer möglicherweise ungewohnt passivischen Verfassung wiederfindet? Kann dann beispielsweise noch die Rede davon sein, ein Urteil zu fällen? Oder fällt bzw. stösst es uns vielmehr – zumindest in Teilen – zu?

 

  1. Empirische Annäherung

 

Um sich diesen Fragen anzunähern, werde ich entlang eines Beispiels argumentieren. Es ist ein kleiner Auszug aus einer empirischen Fallstudie, die ich 2022–2025 im Rahmen des erwähnten DFG-Projektes Visuelle Bildung an der Universität Hamburg entwickelt habe. In der Fallstudie waren Studierende der LUCA School of Art Gent/Brüssel eingeladen, sich mit der skulpturalen Arbeit Metamorphoses (2021) von Oliver Laric am Strand von Middelkerke (Belgien) auseinander zu setzen. Die Arbeit besteht aus fünf Bronzefiguren, die in gleichmässigen Abständen auf einer Länge von ungefähr sieben Metern nebeneinander stehen. Die linke Figur sieht wie eine überdimensionierte Kröte aus. Am anderen Ende befindet sich eine Bronzefigur, die einen quadratischen, gewöhnlichen Tisch darstellt. Dazwischen findet ein Morphing, eine fluide Formengebung statt, die sich in drei Zwischenzuständen manifestiert. Frosch- und Tischanteile sind darin in jeweils anderen Verhältnissen enthalten. Eine Stunde untersuchten die Studierenden die künstlerische Arbeit vor Ort, indem sie selbst mit einem Tablet Bilder und Videos von der Arbeit und in deren Umgebung aufnahmen. Im bildlichen Antworten setzten sie sich dazu visuell ins Verhältnis, befragten den räumlichen Kontext, die Materialität und die Zeitlichkeit. Anschliessend fand in der Hochschule ein Inter-view Zum Format des Inter-views (Schreibweise mit Bindestrich) siehe Böhme 2025: 201f. mit den Studierenden statt – ein Gespräch, in dem sich die Reflexion der eigenen Erfahrung und die Deutung der künstlerischen Arbeit im Zeigen von Bildern und Videos entfaltete.

Aus dem Inter-view greife ich einen kurzen Ausschnitt heraus. Es handelt sich um den ersten Redebeitrag eines Studierenden. Er zeigt zwei Bilder und entwickelt eine erste Deutung von Metamorphoses. Auf dem ersten Bild, das er zeigt, wird die gesamte Arbeit schräg von der Seite aufgenommen. Das zweite Bild wird aus einer anderen und experimentelleren Perspektive aufgenommen, indem die Krötenfigur von hinten und steil von unten fotografiert wird. Durch die Weitwinkeloptik des Tablets wirkt die Figur in ihren Proportionen verzerrt. Während es mir in der Fallstudie vor allem um die medialen Übersetzungsprozesse zwischen der skulpturalen Arbeit und ihrer fotografischen, bzw. videografischen (Re-)Präsentation auf dem Screen geht (vgl. Böhme 2025: 15f.), interessiert mich nun an derselben Begebenheit, wie sich der Student in Gegenwart und mithilfe seiner Bilder deutend und mehrfach wertend in Beziehung setzt zu Larics Arbeit. Dabei erscheinen gerade auch die nicht-sprachlichen Anteile, d.h. Gesten, Blicke und affektive Tönungen, bedeutsam, um sich dem ästhetischen Urteil in seiner komplexen Prozesslogik anzunähern.


 

„Like, really reminded me [lehnt sich zurück und streicht sich durchs Haar] or maybe I should show a picture of them. (.) It could be interesting, but it’s hard to… It’s just a normal picture (..) of the work [er zeigt ein Bild, Abb. 1], complete with you standing next to it. [lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und schaut an die Decke] (..) But (.) it really reminded me of, like, the evolution theory of [lebhafte Gestikulation setzt ein, Hände bewegen sich viel hin und her oder drehen sich leicht] aquatic animals. Everything first started in the ocean and then aquatic animals came to land also like this little frog coming from the sea almost, and starting to evolve like evolution happens and evolving into a table, (.) which was like my first [fasst sich an Nase, Wange, Kiefer] obvious thought. And I was also thinking maybe (.) in 500 years, we don’t know how this is going to evolve. Maybe actually it will start to look more and more [richtet sich ruckelnd etwas auf] like the tables will start to look more and more [Wiederholung der vorigen Geste] like other things. And so. [Hand an Kinn, Arme verschränkt, blickt ins Leere] So that I thought was quite interesting. And it was the first thought I had. And then also [wischt auf Tablet] (...) adding on to it. Ah (unv.) ah, I’m not on the (.) bip bip bip bip bip [Wählt ein Bild auf Tablet, Abb.2] (..) this one (.) picture of the frog [fährt sich durch die Haare, dann vorstrebende Gesten mit den Armen] going towards t h e like the ugly apartment buildings, the epitome of humankind (.) and going away from the sea, which I think also was like an important decision in which way you face thee, the frogs. So they were really, for me [berührt sich mit den Fingerspitzen beider Hände an der Brust, dann Geste weg von ihm] at least, coming out of the sea and going towards like this human [verschränkt Arme vor der Brust, löst sie aber gleich wieder] human world and being more standardised and (.) more functional in a sense. (..) Yeah.

St3: (.......) Iethe picture [Lacht, beugt sich langsam weit nach vorne, lehnt sich wieder zurück und fasst sich an den Hosenbund].

I: (.) Reminds me of a human.

St1: Yeah [Steht leicht auf und schaut von oben auf sein Tablet, setzt sich dann zurück auf den Stuhl] // St2: Like a crawling human [macht passende Bewegung mit den Händen auf dem Tisch, lacht etwas] //

St1: Yeah.“ Dieser Ausschnitt ist der Fallstudie Screening Objects – Objects on Screen entnommen (Böhme 2025: 155f.).

 

Während er die beiden Bilder zeigt (Abb. 3. und 4), teilt er seine Eindrücke, Deutungen und Fragen mit. Er habe direkt an die Evolutionstheorie gedacht und sich gefragt, wie sich die dargestellte Transformation von Frosch zu Tisch in den nächsten 500 Jahren weiterdenken lässt. Ausgehend von der ambigen Bildlichkeit der Bronzearbeit – fluide und zugleich stillgestellt – wirft der Student die Frage nach weiteren Transformationen auf. Vielleicht wird aus dem Tisch eine andere Form hervorgehen, die wir heute vor der Arbeit von Laric stehend noch nicht kennen und erahnen können. Vor dem Hintergrund von KI-Technologie und zukünftigen Materialien und Verarbeitungsweisen erscheint die Frage des Studierenden durchaus nachvollziehbar. In seinem offensichtlichen Interesse und der spekulativen Leerstelle, die hier entsteht, spiegeln sich Kontingenz und Opazität wider, wie sie medialen Infrastrukturen und technologischen Entwicklungen gegenwärtig eingeschrieben sind. Der Student scheint sich für etwas zu interessieren, das die skulpturale Arbeit im Grunde gar nicht zeigt. Er greift mit seiner Frage, was in den nächsten 500 Jahren aus dem Tisch werden könnte, das im Grunde absurde Morphing zwischen Tier und Gegenstand auf, und setzt es über die aufgereihten Figuren hinausgehend als offene Frage fort. Dabei entwickelt sich keine konkrete Vorstellung einer bestimmten, nächsten Form, sondern es öffnet sich ein Denkraum für mögliche Transformationen und Antwortversuche. Im gesamten Redebeitrag ist eine Vagheit im Spiel, die auch das Zeigen des zweiten Bildes zu motivieren scheint. Mit dem zweiten Bild gerät eine weitere, weniger offensichtliche Hybridisierung in den Blick. Aus insgesamt 71 Bildern und Videos wählt der Student eine Abbildung aus, auf der die von hinten fotografierte Kröte merkwürdig menschlich anmutet, und verknüpft sie mit der zuvor skizzierten Deutung. Anders als in der ersten Aufnahme, tritt hier die „ugly“ Häuserfassade im Bildhintergrund in Erscheinung, auf den sich die Kröte, aus dem Meer kommend, zuzubewegen scheint. Die amorphe Form der Kröte trifft, bemerkt er, auf eine Architektur, die sich durch Standardisierungen auszeichne. Je nach fotografischem Standort führt das Morphing der skulpturalen Arbeit zu anderen Kontrastierungen, Assoziationen und narrativen Verknüpfungen. Die Bilder wecken Erinnerungen, Deutungen bleiben vorsichtig („for me at least“). Die Bewegung des Morphings, das sich anhand der beiden Fotografien seitwärts und vorwärts weiterdenken lässt, scheint gerade am Ende des Redebeitrags mit einer raumgreifenden Gestik einherzugehen. Nicht nur der Student, der seine Bilder zeigt, sondern auch die anderen lehnen sich vor- und zurück, stehen kurz auf und setzen sich wieder hin, ahmen mit den Händen kriechende Bewegungen nach. Es wird mehrfach gelacht. „I like the picture“, bekräftigt die Studentin.

 

  1. Urteils(um)bildungen

 

Was lässt sich an diesem Auszug für das Nachdenken über ästhetische Urteile ziehen? Werden ästhetische Urteile prozesshaft verstanden, d.h. als fortlaufende Neukonfigurationen dessen, was sicher geglaubt und vermeintlich gewusst ist, dann deuten sich an diesem Ausschnitt verschiedene Dimensionen an, die am Prozessieren des Urteils potenziell mitwirken:

– Die Auseinandersetzung mit Metamorphoses lässt sich als eine Arbeit am Singulären beschreiben. Es geht nicht um den Versuch, sich über die künstlerische Arbeit abstrahierend zu verständigen, sondern das Sprechen bleibt gebunden an die gezeigten Bilder. Diese bieten jeweils eigene Perspektiven auf die dreidimensionalen Objekte im Raum an und bringen somit unterschiedliche Versionen und räumliche Kontextualisierungen der Arbeit zur Anschauung. Es entwickeln sich trotz bzw. über den Bezug zu Aspekten, die (teilweise nur) durch die Fotografien sichtbar werden, übergeordnete Fragestellungen und Einschätzungen.

– Der kurze Auszug gibt Einblick in einen Prozess, der einen fragmentarischen, fragenden und assoziierenden Duktus hat. Es gibt kein Urteil, das zu Beginn steht und das nachfolgend begründet wird. Es ist ein Prozess, in dem durchaus eine teils wertende Auseinandersetzung mit der künstlerischen Arbeit stattfindet und in dem Moment persönlicher Affizierung deutlich zur Sprache kommen, der jedoch zugleich auch Relativierungen der eigenen Deutungen und Einschätzungen enthält. Insofern ist es ein brüchiger Prozess, der sich nicht vom apriori gefällten Urteil ausgehend entwickelt.

– Anstatt eine Deutung zu pointieren, erzeugt eine suchende und fragende Auseinandersetzung mit der künstlerischen Arbeit die Auffächerung möglicher Deutungen. Anstelle einer Reduktion auf eine überzeugende (Be-)Wertung steht das Ausloten von Komplexität. 

– Das Gespräch entspinnt sich spontan. Es wird darin ein Sprechen kultiviert, das nicht nur auf die Vermittlung von Inhalten und Überzeugungen zielt, sondern auf den Mitvollzug der jeweils verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Deutungen. Sprache spielt dabei auch in ihren affektiven Dimensionen und ihren sinnlichen Tönungen eine bedeutungsstiftende Rolle, indem sie ästhetische und affektive Bezogenheiten zwischen Betrachter*innen und Bildern zugänglich machen kann.  

– Auch nicht-sprachliche Anteile in urteilsbildendenen Prozessen können zu einem differenzierteren Verständnis beitragen, indem Aspekte einer künstlerischen Arbeit durch die Verkörperung und gestische Nachahmungen auf andere Weise der Reflexion zugänglich werden (vgl. Sabisch 2018: 291-295). Gestisch kann etwas thematisch werden, was unter Umständen nicht (ohne Weiteres) gesagt werden kann. 

– Urteilsbildende Prozesse sind nicht zwangsläufig als individuelle Prozesse zu denken. Wie in dem Gesprächsauszug können sie in Gemeinschaft stattfinden (vgl. Laner 2021: 10f.), in denen Stimmungen, Bezogenheiten und Affizierungen potenziell anstecken. Ein Lachen springt über und bekommt dabei eine andere Färbung, eine Geste wird aufgegriffen, eine Assoziation weitergesponnen. Ästhetische Urteilsbildungen ereignen sich an der Grenze des Individuellen und konstituieren sich eher, mit Michaela Ott gesprochen, als dividuelle Prozesse (vgl. Ott 2014: 21ff.; Zahn 2017).

 

Ausgehend von diesen skizzenhaften Überlegungen erscheint es mir produktiv, ästhetische Urteile als dynamische und responsive Prozesse zu denken, die sich im Antworten auf und im Kontakt mit anderen, mit Medien und Technologien entwickeln. Ich möchte daher vorschlagen, diese performative Dimension in der Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten auch begrifflich zu explizieren, indem z.B. nicht von ästhetischem Urteil, sondern von Urteilsbildungen gesprochen wird. Etwas, das sich bildet, ist im Werden und verändert sich potenziell fortlaufend. Im Plural zu formulieren, weicht die Singularität und die immanente Zwangsläufigkeit und Festlegung auf, die mit dem Urteil möglicherweise verknüpft sind. Von Urteilsbildungen im Plural zu sprechen, macht aufmerksam auf die Variationen, die im Abwägen entstehen können und richtet die Aufmerksamkeit auf die Schattenseiten des Urteils: Zweifel, Unschärfe, Unsicherheit. Diese vermeintlichen Schattenseiten, die einem Urteil und einer Positionierung auf den ersten Blick entgegenstehen, ernst zu nehmen, mag den Blick auf die Praxis des Urteilens selbst und die dabei wirksamen Zwischenzustände des noch nicht gefundenen Urteils, des schwer Abwägbaren, des Ununterscheidbaren und Ambigen richten. Diesen Zuständen nachzuspüren und sie als Teil einer urteilenden Praxis in pädagogischen Situationen auszuhalten, mag auf Komplexitäten und dialektische Verstrickungen aufmerksam machen, die uns in einem schnell gefällten Urteil womöglich entgehen würden. Gerade das, was sich dem Urteil entzieht, weil es unverstanden bleibt oder weil es sich (noch) nicht mit dem eigenen Erfahrungsrelief (vgl. Waldenfels 2002: 101-104) verknüpfen lässt, bietet Gelegenheit zu einer vielleicht mühsameren, aber zugleich auch differenzierteren Urteilsbildung, die potenziell immer auch Urteilsumbildung sein kann (in Anlehnung an Erni 2015). Das Setting, sich bildlich antwortend mit künstlerischen Arbeiten zu beschäftigen, bietet sich meines Erachtens besonders an, um ein derart fragendes und in Teilen auch passivisches Urteilen zu üben. Denn im Antworten – z.B. mit dem Tablet vor einer skulpturalen Arbeit stehend – können wir dem Prozessieren der eigenen und fremden Erfahrung und damit auch dem Denken und Urteilen auf die Spur kommen.  

Hier deutet sich die politische Tragweite einer derart angelegten Vorstellung an. Anstatt Urteile darauf zu reduzieren, Resultate von Vermögen und Fähigkeit zu sein, die uns Handhabe, Aneignung, Bewältigung und Verarbeitung versprechen (vgl. Busch 2012: 64), zeigen sich Urteils(um)bildungen mit einer Zurückhaltung und Zurückweisung verbunden, die Raum und Zeit für Differenzierungen und Fragen lassen. Die „Freiheit zur Unterlassung“, darin folge ich Kathrin Busch (ebd.), mag auch in urteilsbildenden Prozessen wichtig sein, um urteilen als eine kritische und fragende (Diskurs-)Praxis erfahren und gemeinsam kultivieren zu können.

Urteilsbildende Prozesse, insbesondere in schulischen Kontexten, stärker in ihren passivischen Anteilen zu denken, ist nicht selbstverständlich und durchaus widerständig, bietet aber m.E. für Lehrpersonen und Schüler*innen vielversprechende Gelegenheiten, um sich reflexiv und kritisch mit dem eigenen Eingebundensein in den Unterricht, mit etablierten pädagogischen Verhältnissen und (Be-/Ab-)Wertungspraktiken zu beschäftigen.

 

 

Literatur

 

Böhme, Katja (2025): Screening Objects – Objects on Screen. (Visuelle Bildung, Bd. 3). Hamburg, Textem Verlag.

 

Böschen, Jasmin (i.E.): Film-Bildung mit dem Smartphone. Medienästhetische Annäherung an eine neue Bildlichkeit.

 

Ganz, David/Thürlemann, Felix (Hg.) (2010): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart. (Bild + Bild, Bd. 1). Berlin, Dietrich Reimer Verlag.

 

Haarmann Anke (2019): Artistic Research. Eine epistemologische Ästhetik. (Edition Transcript, Bd. 4). Bielefeld, transcript Verlag.

 

Busch, Kathrin (2012): P: Passivität. (Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden, Bd. 6). Hamburg und Halle für Kunst. Lüneburg, Textem Verlag.

 

Erni, Danja (2015): Geschmacks(um)bildungen im (Schul)alltag. In: Art Education Research, 10/2015, S. 1-7.

 

Fliescher, Mira (2018): Ver/zeichnungen. Zur Praktik visuellen Denkens anhand Max Imdahls Giotto-Bearbeitungen. In: Sabisch, Andrea/Zahn, Manuel (2018) (Hg.): Visuelle Assoziationen. Bildkonstellationen und Denkbewegungen in Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Hamburg, Textem Verlag.

Laner, Iris (2021): Sehen in Gemeinschaft – Über Wissen und Erkenntnisse im Zuge gemeinschaftlichen ästhetischen Erfahrens. (Kunstpädagogische Positionen, Bd. 54). Hamburg, Universitätsdruckerei.

 

Moormann, Peter/Zahn, Manuel (2021): Relationen und Konstellationen aktueller Mikroformate. Über die

Begriffsspanne von Digitalität mit Fokus auf den Bildungskontext. In: ders./ ders./Bettinger, Patrick/Hofhues, Sandra/Keden, Helmke Jan/Kasper, Kai (Hg.) (2021): Mikroformate. Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Phänomene in digitalen Medienkulturen (Kunst Medien Bildung, Bd. 8). München, kopaed, S. 13–32.

 

Sabisch, Andrea (2018): Bildwerdung. Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension von Bilderfahrungen. München, kopaed.

 

Schmidt, Helena (2024): «Poor images» – arme Bilder? Digitale Visualitäten in der Kunstdidaktik. (Image, Bd. 245). Bielefeld, transcript Verlag.

 

Johns, Stefanie (2021): vom zwischen aus. Weisen bildreflexiver Annäherungen an Bilderfahrung in Wissenschaft, Kunst und Vermittlung. München, kopaed.

 

Ott, Michaela (2014): Dividuationen. Theorien der Teilhabe. Berlin, b_books.

 

Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. (Theorie Bilden, Bd. 38). München, kopaed.

 

Schütze, Konstanze (2019): Bildlichkeit nach dem Internet – Kunstvermittlung am Bild als Gegenwartsbewältigung. In: Klein, Kristin/Noll, Willy (Hg.) (2019): Postdigital Landscapes. Kunst und Medienbildung in der digital vernetzten Welt, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2019. https://zkmb.de/bildlichkeit-nach-dem-internet-kunstvermittlung-am-bild-als-gegenwartsbewaeltigung/ [13.06.2025].

 

Steyerl, Hito (2016): A Sea of Data. Apophenia and Pattern (Mis)Recognition. In: e-flux journal, Ausgabe 72. http://worker01.e-flux.com/pdf/article_9006382.pdf [13.06.2025].

 

Waldenfels, Bernhard (2002): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt am Main 2002, Suhrkamp Verlag.

 

Zahn, Manuel (2020): Bildschirme – Medienökologische Perspektiven auf das (in)dividuelle Phantasma in der aktuellen Medienkultur. In: Meyer, Torsten/Sabisch, Andrea/Wollberg, Ole/Zahn, Manuel (Hg.) (2017): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2020. https://zkmb.de/bildschirme-medienoekologische-perspektiven-auf-das-individuelle-phantasma-in-der-aktuellen-medienkultur/ [13.06.2025].

 

Zahn, Manuel (2017): „Wir stammen von Animationen ab.“ Wirklichkeitserfahrung mit Ryan Trecartins Videos. In: Meyer, Torsten/Dick, Julia/Moormann, Peter/Ziegenbein, Julia (Hg.) (2016): where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. https://zkmb.de/wir-stammen-von-animationen-ab-wirklichkeitserfahrung-mit-ryan-trecartins-videos/ [13.06.2025].

 

 

 

Abbildungsverzeichnis

 

Abbildungen 1-4 basieren auf dem empirischen Rohmaterial, das im Rahmen der Fallstudie Screening Objects – Objects on Screen entstanden ist. Für diesen Beitrag wurden aus dem Videomaterial passende Screenshots extrahiert. Das Bildmaterial wird mit freundlicher Zustimmung der abgebildeten Studierenden veröffentlicht. © K. Böhme 2025.