Auf der Suche nach radikaler Gleichzeitigkeit. Miniaturtheaterlesestück
Abstract:
Das Theaterstück nimmt den Film Everything but the World der Künstler*innen-Gruppe DIS zum Ausgangspunkt, um eine Auseinandersetzung mit Bedingungen und Möglichkeiten von Gleichzeitigkeit vorzuführen. Diese wird im aktuellen Diskurs als erkenntnisstiftende Darstellungsform sowie als aus Krisen rettende Existenzweise hochgehalten. Dabei unternimmt das Theaterstück immer neue Versuche, als künstlerische Forschung selbst unterschiedliche Modi von Gleichzeitigkeit zu erzeugen und erlebbar zu machen, um die Unlösbarkeit dieser Aufgabe zu zeigen. Denn Gleichzeitigkeit ist weder künstlerisch herstellbar, noch denkbar, wahrnehmbar oder rezipierbar. Vielmehr landet sie gezwungenermaßen immer wieder in linearen Ordnungen, in denen eins nach dem anderen kommt. Es zeigt sich schließlich, dass eine radikale, nämlich quantenmechanische Gleichzeitigkeit ein Ausweg aus dem Dilemma sein könnte, wenn es darum geht, Gleichzeitigkeit zu denken und gegebenenfalls zu repräsentieren. Am Ende bleibt allerdings die Frage, ob diese Gleichzeitigkeit wirklich als Aussicht auf bessere digitale Zukünfte erstrebenswert ist. Denn ihr kommen Geschichte, Zukunft, Wandelbarkeit sowie menschliche Handlungsoptionen abhanden.

Personen:

Martina Leeker: Theater- und Medienwissenschaftlerin, Künstlerische Forschung, alternde weiße heterosexuelle Frau, Dozentin an einer Universität

Lotte Leaker: Eine Kunstfigur, selbsternannte Aktivistin für vermeintliche Aufklärung in digitalen Kulturen, Lebensmotto: Like to leak, need to leak

Fanny Cyberton: Beraterin für digitale Kulturen aus dem Jahr 2043, flammende Befürworterin der besseren digitalen Zukünfte; erscheint über das Internet

Fanny Cybertron, der Avatar von Fanny Cyberton, genannt „Der Avatar“: Nachleben menschlicher Agierender im Internet; larmoyant, konservativ, hyperkritisch

 

 

Abb. 1: Martina Leeker                                   Abb. 2: Lotte Leaker  



Abb. 3: Fanny Cyberton (oben);
Fanny Cybertron, Der Avatar (unten)



In Szene 1 – 4 ist nur Martina Leeker live auf der Bühne zu sehen. Die anderen drei Protagonist*innen erscheinen auf Monitoren.

 

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Szene 1. Recherchebewegungen während des ersten Meetings

Im Büro einer Universität. Weiße, leicht fleckige Wände, Decke versehen mit einer weißen Lamellenstruktur, kratziger grauer Teppichboden, ein metallener weißer Aktenschrank, durchgesessene schwarze Drehstühle. An der Wand steht ein größerer Tisch, der als Schreibtisch dient. Auf ihm steht ein handelsüblicher Laptop, auf dem eine Zoom-Sitzung abläuft.

Der Blick aus dem Fenster zeigt auf sehr große Kastanienbäume und einen Kanal. Gegenüber ist ein vierstöckiger, an Architekturen der 1980er-Jahre erinnernder Wohnblock.

Frühsommer, am frühen Abend.

Ein Zoom-Meeting zu einer Publikation. Die eingeladenen Autor*innen stellen sich vor. Die Herausgeberinnen erläutern ihr Konzept und zeigen einen Filmausschnitt. Es soll um Gleichzeitigkeit in digitalen Kulturen gehen, oder so ähnlich.

 

Martina Leeker: Ich kapier’ irgendwie nicht so richtig, um was es genau geht und was ich beitragen kann?

 

Der Avatar: Du musst doch eine Einladung erhalten haben und weitere Informationen.

 

Martina Leeker: Es gab ein paar Austäusche per Mail. Zum Beispiel meine Mail vom 10.4.2024: „ihr beiden lieben, gleich rückflug. nur kurz: danke für anfrage. wieder einmal ein super projekt. ich bin sehr sehr gern dabei.“

 

Der Avatar: Das heißt, du hast zugesagt, ohne genauer hinzuschauen?

 

Martina Leeker: Anscheinend habe ich dann doch nochmal mehr geschrieben, hatte aber auch schon große Zweifel. Mail vom 1.5.2024: „ich hatte bisher verstanden, dass euer projekt über die konstitution von gleichzeitigkeit als vorstellung von zeit in digitalen kulturen geht. mit der lektüre des pdf bin ich nun unsicher, ob ich das recht verstand. geht es euch um das ‚jetzt‘ als bezeichnung von zeit, oder um eine ästhetische kategorie, nämlich ein storytelling der gleichzeitigkeit durch schichtungen/montagen in einem künstlerischen produkt? mir scheint, dass euch letzteres interessiert. bisher hatte ich auf der grundlage meines verständnisses die idee, dass ich eine art interview fingiere zu zeit/radikaler gegenwärtigkeit in digitalen kulturen mit meinen drei kunstfiguren. ich muss zudem markieren, dass ich keine kunstpädagogin und keine kunstvermitterin bin. vor diesem hintergrund schwebt mir derzeit eher ein medienwissenschaftlicher (!) text vor, der einen input gibt zur lage von zeit sowie die zeitrhetoriken (begriff von claus pias) in digitalen kulturen und diese als konstitution in einer existenz in endloser gegenwärtigkeit markiert. die crux daran ist leider eine große geschichtsvergessenheit, durch die problematische denkfiguren ohne unterlass weitergegeben werden. mein eindruck ist nun aber, dass ich ziemlich falsch liege und ihr etwas anderes sucht, im fall auch eine auseinandersetzung mit dem film. mein vorschlag ist deshalb, dass ich/wir am dienstag schauen, was euch genau vorschwebt und was ich sinnvoll dazu beisteuern kann. zu einer ‚ästhetik der gleichzeitigkeit von erzählungen in digitalen kulturen‘ würde ich dann derzeit bei den kunstfiguren sowie einem lecture-performance-artigen text landen, in dem gleichzeitig existierende erzählstränge vagabundieren, die sich zudem mit dem denkbild der gleichzeitigkeit als konstitution von zeit in den medientechnologischen bedingungen digitaler kulturen befassen. Den film würde ich mithin nicht in den fokus stellen. best. martina“

 

Fanny Cyberton: Das ist doch ein super Thema und es trifft vorbildlich die besseren Zukünfte digitaler Kulturen. Gleichzeitigkeit ist ein Riesen-Befreiungsschlag von Zukunft, für die man immer planen muss. Man steht dann gar nicht mehr im Leben, sondern spart sich immer nur für die Zukünfte auf.

 

Lotte Leaker schnappt eine Sequenz aus dem Meeting auf, sagt lachend: Hat die jetzt gesagt: „Wissen in Bäumen“, statt in Räumen? Das ist ja witzig! Eine tiefsinnige Metapher?

 

Martina Leeker: Mist, unser Mikro war die ganze Zeit an. Wir sollten das jetzt ausschalten, sonst können alle hören, was wir sagen.  

 

Der Avatar: Echt jetzt? Sind wir nicht in deinem Kopf? Redest, oder besser, denkst du nicht mit dir selbst, leise, im Inneren? Oder hast du jetzt laut gesprochen? Oder siehst du uns hier sitzen als lebendige Instanzen, als eine Art Hologramm von verkleideten Abklatschen deiner selbst?

 

Martina Leeker: Ich weiß nicht. Ich bemerke eine gewisse Verselbständigung und Eigensinnigkeit eurerseits. Ihr geht in Denkrichtungen und Lebenshaltungen, die ich manchmal gar nicht mehr teilen kann.

 

Avatar: Was hier erscheint sind deine eigenen Gedanken. Das zu leugnen würde bedeuten, dass du uns ausnutzt, um eine gewisse Radikalisierung zu vollziehen, für die du dich dann aus der Verantwortung stiehlst, indem du uns deine problematischen Gedankenskripte zuschiebst.

 

Martina Leeker: Wo auch immer ihr hausen mögt, ihr seid auch jenseits von mir.

 

Fanny Cyberton: In euren Zukünften werdet ihr Viele sein, allein schon, weil jeder menschliche Agierende einen Avatar hat, der ein Eigenleben in den globalen Infrastrukturen des Internets führt. Vor allem aber seid ihr Viele, da ihr nur noch als Relation denkbar seid. M/Ich gibt es also nicht mehr. Aus dem M/Ich wurden posthumane, also radikal nicht-mehr-moderne und mehr-als-nur-menschliche Relationsgefüge im Sinne von Anhäufungen und Klumpungen von Denk- und Verhaltensoptionen.

 

Der Avatar: Derzeit sieht es aber noch ganz anders aus, wie markant an eurem ausfallenden Sexleben deutlich wird. Die Psychologin Juliane Burghardt sagt in n-tv: „Wenn wir uns die gesellschaftlichen Veränderungen ansehen, dann sehen wir, dass wir als Gesellschaft im Moment relativ gestresst sind, relativ viel Angst haben und uns relativ wenig miteinander verbunden fühlen.“ (Bach 2024). Mit spitzem Ton. Wenn ihr in 2043 so total verbunden seid, dann kommen auch wieder bessere Sexzeiten? Triumphierendes Lachen.

 

Martina Leeker und Lotte Leaker grinsen verhohlen. Fanny Cyberton zeigt ein wütendes Gesicht.

 

Lotte Leaker trägt sehr zügig gesprochen und bündig vor: Wartet mal. Sie haben grad gesagt, dass es um eine Künstlergruppe genannt „DIS“ geht. Hier ist ein kurzes Feature zu denen auf Arte TRACKS (2020). Sie stehen scheint’s auf eine Ästhetik der „Gedankenströme“ in ihren Arbeiten, sagt zumindest einer der Leiter, Marco Roso. Lotte kichert kindisch und sagt: Dieser Ästhetik frönen wir auch. Die Stimme der Moderatorin aus der Dokumentation wird eingespielt: „DIS produzieren surrealistische Edutainment-Inhalte.“ Lotte fährt fort: Man sieht eine Schürze und ein Plakat an einer Wand, darauf steht: „Fuck the Patriachy“ – na ja, bisschen pauschal, finde ich. Stimme, eingespielt: „Unboxing-Videos diskutieren das Thema Aktivismus. Talkshows für Kinder diskutieren das Thema Kapitalismus oder queere Kultur.“ Lotte weiter: Jetzt sieht man, wie ein Mann eine Art Maultaschen verzehrt und sich dann einen, mmh, vielleicht Alien-Embryo aus dem Mund zieht; bisschen eklig. Stimme, eingespielt: „Bildung, Wissensvermittlung für Bevölkerungsschichten, die sonst nicht angesprochen wurden. WebTV, dem Inhalte wichtiger sind als Klickzahlen.“ Lotte: Jetzt bestellt ein Koch per Telefon bei einem Lieferanten Kartoffeln mit Blut. Er sagt, er störe sich nicht am Blut, da er Vegetarier sei. Bisschen bemüht witzig, oder? Jetzt liegt in einem Animationsfilm ein halb verwester Fisch auf einem Caféhaustisch in einem typisch pariserischen Etablissment. Die eingespielte Stimme erläutert zu DIS: „… widmen sich Philosophen, nämlich Gegenstände oder Tiere, tiefschürfenden Themen wie bei einem TED-Talk.“ Lotte sagt ihrerseits: Ein Greenpeace-Aktivist fragt nun den vergammelnden Fisch nach seinem Befinden und danach, wieso die US-amerikanische Regierung als oberste Behörde für die nationale Sicherheit nicht mehr tut gegen den Klimawandel. Der halbe Fisch erklärt weitläufig, dass der Mineralölkonzern Exxon über Jahrzehnte wissenschaftliche Studien bezahlte, die den Klimawandel leugnen.

Abb. 4: Der vergammelnde Fisch. Screenshot aus dem Film von Arte TRACKS zu DIS

Abb. 4: Der vergammelnde Fisch. Screenshot aus dem Film von Arte TRACKS zu DIS


Martina Leeker verdutzt: Warum heißen die denn jetzt „DIS“?

 

Lotte Leaker spricht im Chor mit der eingespielten Stimme aus der Film-Dokumentation: „Wegen der Vorsilbe dis, wie etwa: Dissident, Diskussion oder Dystopie oder dismorphe Schultern.“ Lauren Boyle’s Statement, Gründungs- und Leitungsteam, aus dem Film wird eingespielt: „Wir erzählen heute komplexere Geschichten und stellen Querverbindungen her, die es vorher nicht gab. So schaffen wir Inhalte, die wir ‚Evergreens‘ nennen. Sie bleiben relevant. Sie sind nachhaltiger und haben langfristig eine Bedeutung. Es geht immer um die Frage, in welcher Zukunft wollen wir leben?“

 

Der Avatar: Oh je, die bildungsbürgerlichen Gutmenschen.

 

Lotte Leaker und Martina Leeker blicken den Avatar vorwurfsvoll an. Fanny Cyberton grinst.

 

Fanny Cyberton: Die Herausgeberinnen zeigen grad einen Ausschnitt aus diesem Film, um den es gehen soll. Schaut doch mal hin!

 

Martina Leeker: Der Film erinnert kolossal an die Ästhetik von Ryan Trecartin. Da ist sogar eine schauspielende Person, die auch immer in dessen Filmen ist.

 

Lotte Leaker: Das ist jetzt auch nicht verwunderlich, denn für das Projekt haben DIS mit Trecartin zusammengearbeitet. Der hat mit Regie geführt und spielt auch mit (Meixner 2023).

 

Martina Leeker: Ach so, echt? Da lag ich also gar nicht so falsch. Das heißt aber auch: „Trecartin“ ist auch nur so eine Marke, zum Zwecke eines Wiedererkennungseffektes und als Anschlussmöglichkeit für weitere Bilderströme. Der Film wirkt aber schon auch ein bisschen esoterisch, oder? Natürlich kann man von einem Ausschnitt noch nicht viel sagen, aber einen ersten Eindruck bekommt man halt schon und der deutet für mich nicht auf Gleichzeitigkeit, what ever it is, oder? Aber worum geht es dann?

 

Der Avatar: Auf der Website „Rausgegangen“ (2023) steht: „Interessiert an der menschlichen Faszination vom dystopischen Ende der Zeit, spürt der Film […] den Grenzbereichen des Möglichen nach. […] Wenn wir begreifen, dass unsere Welt nur eine Mögliche unter vielen ist, welche Welten könnten uns dann noch erwarten, nach dem Ende der Welt, wie wir sie kennen?“ Klingt eher nach dem formallogischen Aufbau einer „Und-die-Moral-von-der-Geschicht’“-Dramaturgie, als danach, sich wirklich mit den Unbillen und Abgründen von Gleichzeitigkeit auszusetzen.

 

Martina Leeker: Warum jetzt „Unbillen und Abgründe“?

 

Fanny Cyberton: Der Film ist großartig. In unserer Zeit ist das, was ihr Post-Internet-Art nennt, Gang und gäbe. Es gibt keine anthropozentrischen Filme mehr, sondern nur noch solche mit „posthuman aesthetics“ und Storytelling. Wir befinden uns nach der „Transapokalypse“ (Meixner 2023), die der Film mit dem Untergang der bis dahin bekannten Welten, Mentalitäten und Weisen des humanen Selbstverständnisses andeutet. Der Mensch hat erkannt, dass er nur ein „kleines Licht im Vergleich etwa zur Verweildauer der Dinosaurier auf diesem Planeten“ (ebd.) ist. Alles, was wir bisher über den Film und DIS erfahren haben, entspricht dem posthumanen Film der 2040er-Jahre. Tiere sprechen, menschliche Agierende sind nur noch Teil komplexer Systeme, der Ton ist nonchalant und wir blicken in Tinkerings auf Versatzstücke, die sich immer wieder neu arrangieren, weil sie in Datenbanken gleichzeitig und gleich-gültig existieren.

 

Martina Leeker: Also durch das Meeting wurde mir jetzt nicht verständlicher, um was es geht.


Abb. 5: Zeichnung von Martina Leeker während des ersten Meetings

Abb. 5: Zeichnung von Martina Leeker während des ersten Meetings

 

Szene 2. Beim Betrachten des Films

Im Arbeitszimmer einer typischen Berliner Altbauwohnung: hohe Decken, die Wände bündig zugestellt mit Bücherregalen. In der Mitte des Zimmers befindet sich ein übergroßer Schreibtisch, übersät mit Notizzetteln, die sich auch auf dem Boden verbreiten. In der Mitte des Schreibtisches ein Laptop. Am Rand des Tisches eine Karaffe mit Wasser und ein typisches Wasserglas von Ikea. Auf einem Sideboard ein Blumenstrauß, grell-rote Mini-Gladiolen, die langsam verwelken.

Der Blick geht nach draußen auf ein heterogenes Wohnviertel, in dem Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Ethnien zusammenleben. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich an der Architektur, in der eine Siedlung mit Sozialbauwohnungen – kleine Wohnungen, versehen mit Balkons – aus den 1980er-Jahren neben bürgerlichen Häusern aus der Gründerzeit steht. Im Hintergrund ist eine Kirche zu sehen sowie mehrere Baukräne. Diese Szenerie wird per Video auf die Bühne projiziert. Im Video sind einige Wohnungen mit einer Art Sprechblase markiert, die über besondere Ereignisse informieren. In einer Wohnung hat Martina Leeker etwa aus ihrem Fenster eine ältere Dame sterben sehen, die 20 Jahre lang dort lebte und oftmals mit ihrem gehörlosen erwachsenen Enkel auf dem Balkon kommunizierte. Unterdessen wohnt eine junge Familie in der Wohnung. Vergangenheit und Gegenwart werden präsent und dienen als Kulisse für den Film. 

Die Szene spielt am Übergang von Tageslicht zu Dunkelheit. Eine tropische Nacht im Juli 2024 beginnt. Die vier Protagonist*innen sitzen um den Schreibtisch herum und schauen auf dem Laptop den Film an. Die Kunstfiguren erscheinen auf Laptops, deren Bildschirmoberfläche auf Leinwände auf die Bühne projiziert wird.


Abb. 6: Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers, Abenddämmerung


Avatar: Wie findet ihr den Film?

 

Martina Leeker: Na ja, ist halt alles so drin, was heutzutage drin sein sollte.

 

Der Avatar: Damit die Leser*innen (Wer hat das jetzt gegendert?) des zu schreibenden Textes für das zu erscheinende Buch auch folgen können, müsste man dann sicher was zu dem Film sagen.

 

Martina Leeker: Oh no, wieder eine Art Fleißarbeit. Zusammenfassungen wurden doch sicher schon 100 x ersonnen und im Internet abgelegt.

 

Lotte Leaker: Eine solche Zusammenfassung würde uns jetzt beim Schauen sicher auch helfen. I’m lost! Hier, aus die „Springerin“ (2022): „Sapien, so heißt die Figur, eine nackte, mit Erde und Blut beschmierte Frau, die den fatalen Aufbruch aus diesem Paradies […] verkörpert. […] nicht […] kunstvoll rekapitulierte Historie, sondern ausgewählte Episoden, […] nicht […] litaneihaft heruntergebetete Verfallsgeschichte. […] Vielmehr […] bemerkenswerte Nadelstiche im wuchernden Kontext dieser Megaerzählung. […] eine Moderatorin namens Shock Jock […], die […] eine Radiosendung über die großen Fragen der Geschichte moderiert. […] ‚Castle Doctrine‘, eine im angloamerikanischen Rechtssystem verankerte Maxime, wonach es jedem und jeder ausnahmslos gestattet ist, Eindringlinge in das eigene ‚Heim‘ mit allen nur erdenklichen Mitteln abzuwehren.“ (Höller 2022)

 

Martina Leeker: Der totschlagenden obdachlosen Person wird das Recht zur Tötung zugestanden, da der Karton, ihr „Heim“, nach oben hin geschlossen war, mithin den Vorgaben eines Hauses mit vier Wänden und einem Dach entsprach.

 

Lotte Leaker weiter aus der auf dem Laptop aufgerufenen Website zitierend: „[…] Zwischenspiel in einer echten Burg […] wo eine Fremdenführerin einer augenscheinlich diversen Touri-Gruppe den Zusammenhang von Hexenverfolgung, reproduktiver (Frauen-)Arbeit und der Entstehung des Kapitalismus erklärt. […] amerikanische Burger-Kette, […] ‚White Castle‘ (1921 gegründet). Eine weiße Drive-in-Kundin beginnt, sich […] über die lange Wartezeit zu mokieren – woraufhin der afroamerikanische Angestellte Mark zu einer Rede ansetzt, welche die Themenpalette von Everything but the World nochmals in sich verdichtet: […] mit dem kapitalistischen Zeitmanagement […] dem weißen Siedlerkolonialismus […].“ (Höller 2022)

 

Martina Leeker: Mir ist noch unklar, was der Film will. Geht es um Wissensgenerierung durch eine Art Theorietheater, oder Theoriefilm. Da fand ich dann die Inszenierung „RCE“ von Sybille Berg/Kay Voges im BE besser. Im Versuch von fünf Hacker*innen-Nerds, mit einer Cyber-Attacke digitale Kulturen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, wurden eben diese Kulturen theoretisiert. Oder geht es bei Film und Theaterstück doch um künstlerische Forschung, mit der mit ästhetischen Mitteln der Zustand der Welt und Auswege aus diesem ersonnen und durchgespielt werden sollen?

 

Der Avatar: Kommt jetzt das ganze zeitgenössische Zeugs, künstlerische Forschung als anderes Denken; diese ganzen Texte und Forschungen dazu finde ich immer so langweilig. Alle sagen doch irgendwie dasselbe: Forschen mit Kunst als Erkenntnis-Apparat. Und dann ist das Unterfangen in den aktuellen Ansätzen auch immer noch dekolonialisierend, weil dem okzidentalen Denken mit seinem – vermeintlichen? – Fokus auf Vernunft und Rationalität Praxisorientierung und ein Bezug auf Ritualität und Animismus als „epistemischer Ungehorsam“ (Mignolo 2012) entgegengebracht werden. Dann ist das alles auch noch „posthuman“, weil man mehr-als-menschlich denkt und sich auf Entanglements stützt. Es sind doch seit einiger Zeit immer die gleichen Narrative, die auf jedes Thema und Beispiel aufgepfropft werden.  

 

Lotte Leaker: Das ist aber jetzt bisschen daneben, schon fast reaktionär.

 

Martina Leeker erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen: Du machst mir Angst. Ich würde es nie so ausdrücken und ich sehe es auch nicht so wie du. Das ist Avatar-Denken, der sich anscheinend aus den menschlichen Hinterlassenschaften im Internet etwas Eigenes zusammenbastelt, ohne weiter drüber nachzudenken. Das geht weit über die von mir so gepriesenen erkenntnisfördernden Überspitzungen hinaus, für die ich dich, euch alle drei, erfunden habe.

 

Der Avatar: Es sind deine Gedanken!

 

Schweigen. Eine dicke Fleischfliege schwirrt durch den Raum.

 

Lotte Leaker: Wenn wir gleichzeitig über uns selbst nachdenken, etwas über den Film lesen, andere Bezüge herstellen, und auch noch die eigenen Befindlichkeiten auspacken, dann wird der Film an uns vorbeirauschen. Wie sollten wir dann jemals etwas über ihn schreiben können? Ich fand’s übrigens irre, wie Kay Voges in „RCE“ den 700-seitigen Roman von Sybille Berg auf 90 Minuten gebracht hat.

 

Martina Leeker: Nochmal zum Film und zum zu schreibenden Text: Es soll ja darum gehen, sich mittels des Films mit dem Thema Gleichzeitigkeit auseinanderzusetzen.

 

Der Avatar: Wir reden hier doch gar nicht über den Film und dessen Bezug zu Gleichzeitigkeit. Vielmehr nutzen wir dessen Rezeption als Aufhänger für ausufernde und sich verselbständigende Assoziationsketten zu Gleichzeitigkeit im Allgemeinen. Wir spielen, wie wir drei Figuren im Körperkopf einer menschlichen Agierenden immer schon direkt wieder etwas anderes generieren in diesem Vorgang.

 

Fanny Cyberton: Ich würde es so zusammenfassen: Indem wir darüber sprechen, wie wir einen Text über einen Film verfassen, den wir gar nicht beschreiben, unternehmen wir einen parallelen Prozess zum Publikationsvorhaben. Denn auch in ihm wurde dem Film ein Thema auferlegt, nämlich: Gleichzeitigkeit als epistemische Einstellung in digitalen Kulturen zu erkunden.

 

Szene 3. Die Einkreisung der Idee

Im Wartezimmer einer orthopädischen Arztpraxis. Ca. zehn weitere Wartende sind anwesend. Die Wände sind weiß gestrichen. An ihnen hängen die üblichen Drucke von Gemälden, die weder zu schreckliche noch zu anspruchsvolle Kunst sind. Die Stühle stehen an der Wand entlang. In der Mitte des Wartezimmers stehen niedrige Tische, auf denen die üblichen Zeitschriften liegen: Modezeitschriften, Apotheken Umschau, der Spiegel, die Bunte.

Der Arztbesuch ist belastend, da das weitere Vorgehen im Rahmen einer Heberden-Arthrose an den Händen von Martina Leeker besprochen werden soll. Diese wird perspektivisch die Beweglichkeit der Finger extrem einschränken und große Schmerzen verursachen. Da damit voraussichtlich das Tippen erschwert, vielleicht sogar verunmöglicht wird, umweht der Zustand der Finger seit einiger Zeit alle Gedanken und Tätigkeiten von Martina Leeker.

Die vier Protagonist*innen sitzen nebeneinander in einer Ecke des Wartezimmers. Die Kunstfiguren erscheinen wieder auf Laptops, die auf den Stühlen stehen, und ihr Bild wird auf die Bühne projiziert. Martina Leeker hat einen Ausdruck des Abstracts für den Beitrag in der entstehenden Publikation zum Film bei sich und stellt es den Kunstfiguren vor.

 

Martina Leeker: Ich habe das Abstract ausgedruckt, das man im Juni 2024 einreichen sollte. In der Mail steht: „das folgende schwebt mir vor: titel: so what, followed by a moment of fatigue. form: ein miniatur-theaterstück. personen: martina leeker, the scholar; lotte leaker, an activist: like to leak, need to leak; fanny cyberton, a consultant for digital cultures, coming from the year 2043; fanny cybertron, the tearful avatar. inhalt: das theaterstück beschreibt den prozess der forscherin martina leeker zur wissensgewinnung über den film EVERYTHING BUT THE WORLD (DIS 2022) unter der perspektive des themas gleichzeitigkeit und deren spezieller verortung in den gleichzeitigkeiten digitaler kulturen. diese funktionen zeigen sich etwa in der google-suche oder in outputs via KI. bei der recherche wird die forscherin unterstützt und zugleich behindert durch 3 gestalten, nämlich Lotte Leaker, Fanny Cyberton und Fanny Cybertron. verhandelt werden im gespräch die themen: (1) aufgabenstellung der hg., (2) wissensgenerierung mit hilfe des internet, (3) künstlerische forschung, (4) gleichzeitigkeit als rahmung von wissensgenerierung in digitalen kulturen, (5) nicht-repräsentatierbarkeit von gleichzeitigkeit. am ende bietet der text selbst in seiner form eine möglichkeit die un/möglichkeit von gleichzeitigkeit zu erfahren und zu reflektieren. so long. martina“

 

Der Avatar: Klingt doch ganz ok.

 

Fanny Cyberton: Ich kann es mir jetzt nicht so gut vorstellen, aber erstmal ausprobieren.

 

Lotte Leaker: Ich kann erstmal nichts dazu sagen.

 

Szene 4. Eskalation der Reflexion

Arbeitszimmer, wie in Szene 2. 

Es ist später Nachmittag, Anfang August 2024. Im Zimmer ist es heiß. Von draußen gelangen laute Geräusche von einer Baustelle in das Zimmer. Da Gasrohre ausgewechselt werden, dringt immer wieder entfernter Gasgeruch zu den vier Protagonist*innen, die um den Schreibtisch herum zusammensitzen. Wie bisher erscheinen die Kunstfiguren auf einem Laptop, Projektion der Bilder auf die Bühne.

Die Stimmung ist gedämpft und bedrückt. Die vier Protagonist*innen besprechen die Eindrücke nach der ersten Lektüre des Stückes.


Abb. 7: Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers, tags

Abb. 7: Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers, tags


Der Avatar: Wir haben unser Theaterstück jetzt gelesen und ich denke, an den Versuchen zeigt sich, dass das Projekt einfach mal gescheitert ist. Ich beziehe mich nicht auf die literarische Qualität oder das Konzept, die sicher sehr fragwürdig sind, sondern darauf, dass es, wie nun deutlich wird, die von uns angestrebte und im Buchprojekt avisierte Gleichzeitigkeit gar nicht geben kann. Egal was wir ausprobierten, wir landeten immer in linearen Anordnungen. Paradigmatisch und geradezu erschlagend ist doch die erste Szene mit der Beschreibung des Zoom-Meetings zum Projekt. Während wir miteinander sprachen, stellten die anderen Autor*innen im Meeting zur gleichen Zeit ihre Konzepte und Zugangsweisen vor, die Herausgeberinnen erklärten mit viel Akribie ihr Anliegen und wir navigierten zur gleichen Zeit auf der Suche nach Informationen, mit denen unsere Wissenslücken geschlossen und unser Unverständnis behoben werden sollten, im Internet umher. Wir haben uns viel Mühe gegeben, diesen Zustand der Gleichzeitigkeit im Text herzustellen, indem wir umfänglich und plastisch die Arbeit von DIS auf die Bühne zauberten, die als Atmosphäre und Bilderwelt gleichsam stehen bleiben und immer präsent sein, also alles umwehen sollte, während andere Dinge geschahen. In der Szene aber folgt dann erbarmungslos eins nach dem anderen. Selbst in der Situation des Meetings gab es keine Gleichzeitigkeit. Auch wenn die verschiedenen Ereignisse vielleicht gleichzeitig waren, wir waren selbst als vervierfachte Erscheinung nicht in der Lage, sie als solche wahrzunehmen und zu verarbeiten. Es ist regelrecht zum Verzweifeln: Vom Denken bis hin zu jeder Form von dessen medialer Repräsentation herrscht Linearität. Das trifft auch dann zu, wenn Gefühle Gedanken begleiten, oder umgekehrt. Sie können zwar gleichzeitig sein, aber sie bleiben doch in der Reflexion ans Lineare gebunden. Ich bin völlig zerrüttet ob dieses Ergebnisses.

 

Martina Leeker: Da muss ich dem Avatar beipflichten. Es kann ja sein, dass in unserem Stück oder in dem Film von DIS viele Erzählstränge entworfen und verfolgt werden, die dann gleichsam gleichzeitig in den Köpfen der Betrachtenden schweben, mäandern, kreisen. Aber sie sind nicht gleichzeitig. Ich meine eine radikale (!) Gleichzeitigkeit, in der vieles zugleich, also parallel präsent ist, vielleicht wie in einem Splitscreen. Im Denken, in Sprache, in der Literatur, im Film geht das nicht.

 

Fanny Cyberton: Deine Hände sehen jetzt aber wirklich schlimm aus. Schief und geschwollen. Tut es weh? Wirst du den Text für dieses Buch überhaupt noch tippend überarbeiten können?

 

Martina Leeker: Ach, lass!

 

Langes Schweigen. Man hört das dröhnende Hämmern der Maschinen von der Baustelle.

 

Lotte Leaker: Im Splitscreen ist das mit der Gleichzeitigkeit auch nicht einfach. Ihr erinnert euch an den Film „Bettgeflüster“ von 1959, mit Rock Hudson und Doris Day. Bilder von Splitscreens aus dem Film werden auf der Videoleinwand eingeblendet. Man kann die Situation in den Splitscreens nicht auf einen Blick erfassen, sondern schaut zunächst auf den linken, dann auch auf den rechten Teil des Bildes. Es soll zwar suggeriert werden, dass Mann und Frau zur gleichen Zeit beispielsweise in ihren Badezimmern in der Wanne liegen und miteinander telefonieren. Der Splitscreen löst diese Gleichzeitigkeit im Ansinnen, sie zu repräsentieren, aber paradoxerweise auf.

Abb. 8: Splitscreen aus „Bettgeflüster“, No. 1

Abb. 8: Splitscreen aus „Bettgeflüster“, No. 1


Abb. 9: Splitscreen aus „Bettgeflüster“, No. 2

Abb. 9: Splitscreen aus „Bettgeflüster“, No. 2


Martina Leeker: Wenn man die Bilder von links nach rechts liest, unterstützt das kinematografische Setting auch noch die medientechnologische Bedingung der Schriften, die von links nach rechts geschrieben werden (de Kerckhove 1995). Sie führten zum Herausreißen oraler Kulturen aus der Gleichzeitigkeit ihrer Performances, mit denen sie ihre Gemeinschaft erzeugten, ordneten und zu konservieren versuchten.

 

Der Avatar: Ich habe im Internet einen Film gefunden, der mit einem Splitscreen sehr nah an die von euch herbeigesehnte Gleichzeitigkeit herankommt. Es ist ein Fernsehfilm aus diesem Sommer: „Überväter“ (Gangloff 2024). Bilder von Splitscreens aus dem Film werden auf der Videoleinwand eingeblendet. Diese Splitscreens funktionieren besser in Gleichzeitigkeit, weil sie eine Art Dopplung füreinander sind und also nicht zusammengedacht werden müssen.




Abb. 10–12: Splitscreen aus „Überväter“.

Abb. 10–12: Splitscreen aus „Überväter“.


Martina Leeker: Unsere Erfahrung widerspricht völlig dem aktuellen Stand in der Medienwissenschaft. Malte Hagener behauptet zum Beispiel in seinem jüngsten Buch, so laut der Zusammenfassung: „Splitscreens werden als Symptom und Symbol einer breiteren Veränderung der Medienkultur eingeordnet – weg von Konzentration und stabiler Subjekthaftigkeit, hin zu Flexibilität, Modularität, Echtzeit und Feedback“ (Hagener 2024). Vielleicht meint er mit Echtzeit Gleichzeitigkeit. Dabei wissen wir doch, dass Echtzeit als medientechnologisch implementierte (Kittler lässt grüßen) Gleichzeitigkeit wegen der Verzögerungen in der Übertragung schlicht nicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund könnte man unseren Stücktext als Künstlerische Forschung verstehen. Der Avatar rollt beim Hinweis auf Künstlerische Forschung theatralisch und weithin sichtbar mit den Augen. Wir wollen Gleichzeitigkeit erproben und gelangen dabei dann zu einer profunden medienwissenschaftlichen Erkenntnis, die eben erst aus dem künstlerischen Versuch, dem literarischen Schreiben, entstand. 

 

Fanny Cyberton: Ihr müsst an einer ganz anderen Stelle ansetzen, um euch der Gleichzeitigkeit anzunähern. Das Theaterstück „Parallelwelt“ (2018) von Kay Voges thematisiert eure radikale Gleichzeitigkeit und setzt sie auch technologisch um. Es werden Bilder und Szenen aus dem Stück in der Videoprojektion eingeblendet. Das Stück erzählt die Geschichte vom Leben und Sterben des Protagonisten Fred, wobei an zwei Orten zur gleichen Zeit gespielt wird; im Berliner Ensemble wird Fred geboren, während er im Schauspiel Dortmund stirbt. Als Fred sowohl in Dortmund als auch in Berlin ungefähr in der Mitte des Stückes heiratet, treffen die beiden Zeitschienen aufeinander. Die getrennten Räume fließen im Denkhorizont der Quantenphysik ineinander, wenn die beiden Bräute erkennen, dass sie zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten existieren und agieren.

Abb. 13: „Parallelwelt“, Begegnung der Bräute

Die drei anderen zeitgleich: Aha.

 

Fanny Cyberton: Es gibt mithin die radikale Gleichzeitigkeit, in der Linearität sowie die Zeitenfolgen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind. Alles ist jetzt, zugleich, parallel. Diese radikale Gleichzeitigkeit ist allerdings für euch noch kaum denkbar, denn sie löst alles auf, was für euch noch gilt. Wo im Mikrokosmos alles gleichzeitig ist und von Standpunkten und Beobachtungen abhängt, da gibt es keine Entitäten, Individualitäten und Subjekte mehr. Dies entspricht auf der technologischen (Hagen 2002) und epistemologischen Ebene dem Zustand eurer besseren Zukünfte in digitalen Kulturen, die zu einer kompletten Posthumanität gelangt sind. Sie konstituieren sich aus Ko-Existenz, Unkontrollierbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Unbestimmtheit, Unüberschaubarkeit, Kontingenz, Unabschließbarkeit; entsprechen mithin einer radikalen Präsenz. Radiale Gleichzeitigkeit hat keine Geschichte mehr, denn das Vergangene ist immer auch jetzt. Sie kennt keine Zukunft, da durch Vorhersagen im Jetzt gehandelt wird und Probleme behoben werden. So haben wir den Klimawandel gestoppt und eure ungerechten Gesellschaftsformen beendet.

 

Der Avatar: Diese radikale Gleichzeitigkeit ist das Ende dessen, was man bisher als Menschheits- und Weltgeschichte dachte?

 

Fanny Cyberton: Richtig.

 

Lotte Leaker: Wollten wir das mit unserem kleinen Experiment anzetteln?

 

Der Avatar: Die angepriesene schöne Aussicht ist allerdings aus medienhistorischer Sicht problematisch, denn sie erhebt unreflektiert den Zustand von Zukunft in digitalen Kulturen in deren Zeitrhetoriken zum Status quo (Pias 2019a, derselbe 2019b). Sie erzeugen in der Tat seit den 1950er-Jahren einen gnadenlosen Präsentismus, da die technologische Zukunft, mit Claus Pias, nicht offen, sondern immer schon eingetreten ist. Diese Sicht ist ein Kind des Kalten Krieges, in dem es um einen Wettlauf um die technologische Vormachtstellung zwischen Ost und West ging. Er dauert bis heute an, so Pias, als ein Kampf um die Vormachtstellungen zwischen westlichen Staaten und China.

 

Lotte Leaker: Mit Wendy Chun kann man anführen, dass der Abgesang auf Geschichte und Vergangenheit technologisch bedingt ist, da die Prognosen von Empfehlungsalgorithmen für die Zukunft immer aus der Vergangenheit stammen und die erhobenen Daten zum Status quo machen (Chun 2021). Diese Politik der Daten ist fatal, denn Veränderung wird damit unterlaufen (ebd.).

 

Martina Leeker: Ich würde mit Ludger Schwarte anbringen, dass wir erst durch ein Verständnis von Zukunft, die nicht wissbar und nicht kontrollierbar ist, überhaupt eine Zukunft haben (Schwarte 2024). Denn das ewige Jetzt ist eine Politik des Festhaltens zum eigenen Nutzen. Zukunft als Unvorhersehbarkeit zu denken würde dagegen erst dazu führen, dass man sich in der Gegenwart verantwortungsvoll für das Morgen verhält.

 

Fanny Cyberton: Eure Argumente amüsieren mich, da ihr euch damit vor allem gegen das noch Undenkbare stellt, dem euer M/Ich zum Opfer fallen wird. Für eure Zukunft gilt die Formel: radikale Gleichzeitigkeit = radikales Jetzt = radikale, d.h. das Selbst aufgebende Verwobenheit in techno-ökologischen Relationen.

 

Szene 5. White Cube

Dunkel. Wenn das Licht angeht, sieht man einen weißen, zu allen Seiten geschlossenen Kubus. Nur dessen Vorderseite ist mit einem weißen, halbtransparenten Stoff versehen. Im Kubus sitzen die vier Protagonist*innen auf weißen Würfeln aus Plastik. Sie sind diffus erkennbar. Sie schauen zum Publikum. Ob der verschwommenen Sicht bleibt unklar, welche Figuren live anwesend sind, und welche Projektionen sind. Auf die weiße Stoffverkleidung wird ein Text projiziert. In einer Audioeinspielung wird der Text zugleich mit leiser Stimme vorgelesen.    

 

Martina Leeker: Wie konnte dieses Theaterlesestück so enden? Sind unsere Sorgen nur unserer Unfähigkeit geschuldet, anders zu denken? Sind die medienhistorischen und medienwissenschaftlichen Betrachtungen von mir, von Lotte und dem Avatar veraltet und können digitale Kulturen nicht mehr beschreiben? Ist die Idee von einer offenen und unvorhersehbaren Zukunft eine historisch verortete und medientechnologisch induzierte Denkfigur, die unterdessen nicht mehr angeführt werden kann? Sind die Ausführungen von Fanny Cyberton schlicht zerstörerisch technoid, weil sie mit der bedingungslosen Verwebung in eine höhere Ordnung vor allem der Unterwerfung menschlicher Agierender unter technologische Politiken zuarbeiten? Oder entspricht die quantenmechanische Sicht der Ontologie einer endlich harmonischen Ko-Existenz in Multiplizität? Wer hat all dies gedacht: Martina Leeker, jede der Figuren, alle zusammen? Kann Martina Leeker zugleich all diese Positionen sein, denken, verkörpern? Wer ist und wo?

 

 

Black

 

 

 

Referenzen

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Chun, Wendy Hui Kyong (2021): Discriminating Data. Correlation, Neighborhoods, and the New Politics of Recognition. Cambridge, MA/London, MIT Press.

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https://www.tittelbach.tv/programm/fernsehfilm/artikel-6611.html [1.8.202].

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Kerckhove, Derrick de (1995): Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer. München, Fink Verlag.

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Mignolo, Walter (2012): Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien/Berlin, Verlag Turia + Kant.

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Schwarte, Ludger (2024): Ludger Schwarte, im Interview mit Paul Roßmüller: „Wir brauchen ein anarchisches Verhältnis zur Zukunft“. In: Philosophie Magazin, 24. Juli. https://www.philomag.de/artikel/ludger-schwarte-wir-brauchen-ein-anarchisches-verhaeltnis-zur-zukunft [26.07.2024].


Abbildungsnachweis

Abb. 1 – 4: Screenshots, Martina Leeker

Abb. 5: ARTE Tracks, DIS, Screenshot Martina Leeker
https://www.youtube.com/watch?v=dNg_lRSaPNQ [4:11 min.]

Abb. 6: Foto Martina Leeker

Abb. 7: Foto Martina Leeker

Abb. 8: Screenshot, Martina Leeker
https://www.youtube.com/watch?v=Ml5wM4zBbv8 [0:01 min.] 

Abb. 9: Screenshot aus dem Internet
https://i.ytimg.com/vi/MPyHAsdnX7Q/sddefault.jpg

Abb. 10 – 12: Screenshots, Martina Leeker
https://www.zdf.de/filme/filme-sonstige/uebervaeter-100.html

Abb. 13: Trailer "Die Parallelwelt" - Schauspiel Dortmund
https://www.youtube.com/watch?v=gNWfu8GEhek [0:44 min.]






Kurzbiografien der Autor_innen: