„Der Ozean hat Fieber! – Die Luft erstickt! – Die Erde bebt vor Wut!“
Spätestens seitdem 2019 viele junge Menschen zum weltweiten Klimastreik aufriefen und die Fridays-for-Future-Bewegung zunehmend mediale Aufmerksamkeit erhielt, sind die katastrophalen Auswirkungen von Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Lea Moros Produktion für junges Publikum mit dem Titel Alle Augen Staunen (6+), das begleitende Vermittlungsformat und illustrierte Poster sowie der zugehörige Instagram-Account verhandeln Natur- und Umweltphänomene sowie das Zusammenspiel zwischen Lebewesen und ihrer (Um-)Welt in unterschiedlichen Formaten und Medien, Bühnenvorgängen, Texten und Illustrationen. Alle Augen Staunen ist eine Produktion von Lea Moro in Koproduktion mit Tanz im August, HAU Hebbel am Ufer und dem Tanzhaus Zürich. Produziert wurde im Rahmen des Veranstalterfonds Reso und von Residance, ein Projekt von Reso – Tanznetzwerk Schweiz. Gefördert wurde das Projekt durch den Hauptstadtkulturfonds, die Stadt Zürich Kultur, die Fachstelle Kultur – Kanton Zürich, Pro Helvetia – Schweizer Kulturstiftung, die Fondation Nestlé pour l’Art, den Kulturfonds der Société Suisse des Auteurs (SSA), die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Zürich (GGKZ) sowie die Stanley Thomas Johnson Stiftung. Das Vermittlungsformat wurde unterstützt durch die Oertli Stiftung und Faber Castell. Die Tanzproduktion Alle Augen Staunen transponiert Themen zu Natur, Umwelt und Ökologie in sinnlich-performative Vorgänge und erschafft auf der Bühne eine – um es in Donna Haraways Worten zu sagen – more-than-human world, die dennoch von menschlichen Spuren durchzogen ist. Das von der Grafikerin und Illustratorin Rommy González gestaltete Begleitposter dient als Bindeglied zwischen Aufführung und Vermittlungsmoment und überführt die auf der Bühne performativ verhandelten Themen in Bild- und Textform. Poster, Vermittlungsformat sowie der Alle Augen Staunen-Instagram Account eröffnen durch ihre vielfältigen Partizipationsangebote unterschiedliche Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erlebnisräume. Die eingangs zitierten programmatischen Sätze finden sich auf Stickern wieder, welche die Zuschauer*innen im Rahmen der Aufführungen (im Theaterfoyer bzw. an der Kasse) erhalten. Die Tanzproduktion Alle Augen Staunen sowie die begleitenden kunstpädagogischen Ansätze werden im Folgenden vorgestellt.
Gemeinsames (Über-)Leben auf einem beschädigten Planeten
Von der Decke baumelnde Tentakel, ein hüpfendes Zelt, sich neben-, auf- und übereinander türmende Haufen und tropfendes Eis. Alle Augen Staunen erzählt von Ökosystemen in der Luft, an Land und unter Wasser und lässt diese für alle Sinne wahrnehmbar werden. Vor den Augen der grossen und kleinen Zuschauer*innen entsteht eine sich stetig wandelnde Landschaft, die atmet und pulsiert, wuchert und vibriert und sich in ihrer Topografie beständig transformiert. Bühnenobjekte wie Schlafsäcke, Decken, Sitzsäcke oder ein Zelt werden von den sich darin befindenden bzw. darunter verborgenen Performer*innen animiert. Dadurch beginnen sich die Objekte auf überraschende Weise zu bewegen, die Materie wird belebt und artikuliert eine quasi-eigene Vitalität.
Diese Objekte werden in ihrer phänomenologischen Erscheinung und ihrem konkreten So-Sein als z.B. Schlafsack, Eisblock oder Sitzsack, sprich in ihrer konkreten Materialität und morphologischen Dinglichkeit, wahrgenommen. Gleichzeitig können sie unterschiedliche Dinge repräsentieren und von den Zuschauer*innen mannigfaltig gelesen werden: als Hügel, Erdrutsche, (Kompost-)Haufen, Höhle, Behausung oder Korallenriff, als Schnecken, Würmer, Ameisen, Käfer, aber auch als fantastische Wesen. Diese semantische Uneindeutigkeit soll zum Wundern und Staunen sowie zum Entdecken der so generierten Landschaften und Welt(en) einladen. Neben diesen miteinander interagierenden Objekten verweisen ein hängender und sanft schaukelnder Müllbeutel aus glänzendem blauen Plastik, eine PET-Wasserflasche sowie ein rotes Zelt auf anthropogene Spuren und Hinterlassenschaften in einer rätselhaften roten Bühnenlandschaft.
Nach und nach häutet sich die Landschaft und drei hybride Wesen werden sichtbar. Schleichend und neugierig bewegen sie sich, umgeben von Möwengeschrei, Wind-, Regen- und Donnergeräuschen, an Land. Sie beginnen, jedes Wesen für sich, die Bühnenlandschaft zu erforschen, sich in ihr zu bewegen, bis sie einander entdecken und feststellen, dass sie nicht allein sind, sondern zu dritt.
Sie beginnen ihre Körper zu ertasten und merken dabei, dass etwas Körperfremdes, nämlich Plastik, an ihnen klebt, von dem sie sich zu befreien versuchen. Dabei streifen sie ihre Kleiderschichten nach und nach ab, bis sie in einem blauen Einteiler dastehen. Die bisherige Maskierung des Gesichts, die eine Enthumanisierung bewirkte, entfällt und es werden drei menschliche Körper und Gesichter sichtbar. An diesem Punkt setzt gesprochene Sprache ein: Die drei Performer*innen erzählen über Natur-, Umwelt- und Wetterphänomene, über Ökosysteme und ihre Bewohner*innen. Dabei erfahren die Zuschauer*innen etwa, dass der Oktopus acht Arme hat und sein Gehirn bis in die Spitzen der Tentakel reicht, dass das ihn umgebende Wasser schmutzig und warm ist – wobei auf die Erwärmung der Gewässer im Zuge der Erderwärmung hingewiesen wird –, dass das Eis schmilzt und selbst der Mond über den Zustand der Welt weint. Schwämme werden von den Performer*innen zu Landschaften, zu Tälern mit Schluchten und Vulkanen angeordnet. In einem nächsten Moment werden die kleinen Schwämme als Bakterien präsentiert, die sich überall um uns herum befinden sowie unseren Körper bewohnen.
Dadurch wird das Spektrum nicht-menschlicher Kräfte, die uns umgeben oder in unseren Körpern zirkulieren, explizit benannt und visualisiert. Während die Performer*innen zu Beginn der Aufführung Teil der Bühnenlandschaft sind, interagieren sie am Schluss mit einzelnen Bühnenobjekten, die z.B. als Tentakel zu Extensionen ihrer Körper werden.
Gemeinsam eintauchen in wundervolle Land-, Luft- und Unterwasserwelten
Zum Ende der Aufführung werden die Zuschauer*innen von den drei Performer*innen aufgefordert, unter ihre Stühle zu greifen, wo sie ein auffaltbares Poster finden. Dieses von Lea Moro, Mona De Weerdt und Leonie Graf konzipierte sowie von der Illustratorin und Grafikerin Rommy González illustrierte Poster fungiert als Bindeglied zwischen Aufführung und Vermittlung. Es ist wie die Bühnenwelt in den Farben Rot und Blau gestaltet und bildet die drei Ökosysteme Land, Wasser und Luft in Bild- und Textform ab. Neben Texten und Illustrationen von Tier- und Pflanzenmotiven enthält es Fragen, Rätsel sowie Mal- und Bewegungsaufgaben, welche dazu animieren, Flora und Fauna im Wasser, an Land und in der Luft zu entdecken. In diesen Postern befindet sich ein Aufkleber mit je einem Motiv: Baum, Oktopus oder Thermometer. Anhand dieser Motive werden die Zuschauer*innen nun in die drei Gruppen Land, Wasser und Luft eingeteilt und von den Performer*innen dazu eingeladen, gemeinsam in eines dieser Ökosysteme einzutauchen.
Die Gruppe Oktopus wird angeleitet vom Performer Jorge De Hoyos. Gemeinsam mit einer Gruppe Kinder taucht er metaphorisch ins Wasser ab. Sie erfahren mehr über die Biologie bzw. den Körperbau und die Verhaltensweisen von Oktopussen, versetzen sich in Oktopusse hinein und versuchen, Arme und Beine wie Tentakel zu bewegen. So entsteht durch viele individuelle Arm- und Beinbewegungen ein gemeinsamer Oktopus-Tanz. Darüber hinaus dürfen die Kinder die im Stück als Bühnenelemente eingesetzten, überdimensionalen, blauen Stofftentakel berühren. Durch diese Vermittlungsstrategien, welche die Rezipient*innen direkt involvieren, wird ein bewegungspraktischer wie auch taktiler Zugang zum vorherigen Bühnengeschehen hergestellt.
Die nächste Gruppe begibt sich gemeinsam mit der Performerin Michelle Moura an Land. Sie lösen eine auf dem Poster enthaltene Baumaufgabe und gehen der Frage nach, wie sich der hier abgebildete Baum angesichts herrschender Luft- und Umweltverschmutzung wohl fühlen mag und was er den Menschen – könnte er sprechen – mitteilen wollen würde. Dieses Sich-Hineinversetzen in ein anderes Lebewesen stellt die bereits im Stück aufgelöste onto-theologische Dichotomie von humanen und non-humanen Kategorien zur Disposition, verdeutlicht und macht direkt physisch erlebbar: Wir alle sind diesen Planeten bewohnende und fühlende Wesen, die unter Luft- und Umweltverschmutzung sowie Klimaerwärmung leiden.
Die dritte Gruppe mit dem Thermometer-Motiv wird von der Performerin Daniella Eriksson eingeladen, sich in die Luft zu schwingen. Die Kinder erfahren mehr über Wetter, Klima und Temperatur, können mittels Eiswürfel unterschiedliche Temperaturen auf ihrer Haut spüren und so das Schmelzen von Eis am eigenen Körper erfahren. Gemeinsam lösen sie eine auf dem Poster abgedruckte Wetter-Übung. Während dieser werden sie gefragt, ob sie auf der Bühne Wettererscheinungen bzw. Geräusche wie Wind und Regen wahrnehmen konnten, und dazu ermutigt, ihre während dem Schauen erlebten Körperempfindungen zu beschreiben. Denn wir nehmen Tanz nicht nur mit unseren Augen, sondern mit allen unseren Sinnen wahr.
Sowohl die Produktion Alle Augen Staunen als auch das als integraler Bestandteil der Aufführungen konzipierte Vermittlungsformat laden die Zuschauer*innen also dazu ein, Ökosysteme in der Luft, an Land und unter Wasser zu entdecken. Es handelt sich dabei um einen Vermittlungsansatz, der nicht didaktisch Bühnenvorgänge oder Inhalte des Stücks erklärt, sondern verstärkt auf Exploration und Aktivierung der Sinneswahrnehmung setzt. Bei all den exemplarisch beschriebenen Übungen geht es sowohl um ein Weitererzählen und Vertiefen des Gesehenen und Erlebten als auch um eine gemeinsame Reflexion der im Stück verhandelten Natur- und Umweltthemen. Die Kinder werden einerseits dazu eingeladen, Bühnenvorgänge, Wirkungsästhetiken und Körperempfindungen – Gesehenes, Entdecktes und Erlebtes – zu beschreiben, andererseits werden sie durch die Bewegungs- und Wahrnehmungsübungen dazu animiert, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen und die Welt für einen Moment aus deren Perspektiven wahrzunehmen. Dabei wird die eigene Wahrnehmung erweitert, die Aufmerksamkeit geschult, für Umweltthemen sensibilisiert als auch Verständnis und Empathie für andere, nicht-menschliche Kreaturen hergestellt. Durch seinen partizipatorischen Ansatz ermöglicht dieses Vermittlungsformat den Kindern eine nicht rein kognitive Auseinandersetzung mit dem Stück und schafft vielfältige, spielerische Zugänge zum Bühnengeschehen.
Begleitposter
Das Poster können die Zuschauer*innen anschliessend mit nach Hause nehmen. Es dient somit nicht nur als partizipatives Bindeglied zwischen Aufführung und Vermittlung, sondern fungiert auch als eigenständiges Dokument. Die drei Ökosysteme sind auf diesem Poster so angeordnet, dass es sich von verschiedenen Seiten her betrachten, lesen und bearbeiten lässt. Diese multiperspektivische Anordnung animiert die Kinder dazu, die verschiedenen Ökosysteme und ihre jeweiligen tierischen und pflanzlichen Bewohner*innen eigenständig und nach Lust und Laune zu entdecken. Zu jedem illustrierten Element gibt es einen Text sowie Quizfragen, Bewegungs- oder Malaufgaben, die neben der Wissensvermittlung vor allem das Wundern und Staunen sowie neue, ungewohnte Perspektiven auf die Welt aktivieren sollen.
Neben Tier- und Pflanzenmotiven finden sich in allen dargestellten Ökosystemen auch menschengemachte und dort nicht hingehörende Objekte wie z.B. Angelhaken, Plastikbecher, Flaschen oder Plastiksäcke, die auf die Ausbeutung der Natur sowie auf durch Menschen verursachte Umweltverschmutzung und -zerstörung hinweisen. Entsprechend kann das Poster als ein gleichermassen spielerisches wie informatives Dokument beschrieben werden, das in kindgerechter Sprache für Natur- und Umweltthemen sensibilisiert. Intendiert und ermöglicht wird durch dieses Medium eine über die Aufführung hinausgehende Auseinandersetzung mit den in der Produktion verhandelten ökologischen – und somit gesamtgesellschaftlichen, zukunftsrelevanten – Themen.
Alle Augen Staunen Instagram-Account – digitale Repräsentationen
Um die in Alle Augen Staunen verhandelten Inhalte und generierten Bildwelten einer möglichst breiten Zuschauer*innenschaft zugänglich zu machen, wurden diese zusätzlich in eine digitale Form übersetzt und der alloureyesbelieve-Instagram-Account entwickelt. Dabei wurden Bildelemente bzw. Illustrationen und Inhalte des Posters an das spezifische Layout von Instagram adaptiert. Während das Poster die drei Ökosysteme gruppiert anordnet, zeigt der Instagram-Account eine linear-vertikale Anordnung von Luft, Erde und Wasser.
Durch diese Darstellungsform eröffnen sich weitere Rezeptionsmöglichkeiten: Die Besucher*innen können herunterscrollen und so zuerst in eine Luft-, dann in eine Erd- und schliesslich in eine Wasserlandschaft eintauchen und die dortigen Tier- und Pflanzenwelten kennenlernen. Wie beim analogen Poster finden sich auch hier in allen Ökosystemen einzelne Elemente, die auf menschliche Einflüsse, Ausbeutung der Natur und Umweltverschmutzung hinweisen. Die Illustrationen sind auf insgesamt 65 Felder verteilt, wobei die Nutzer*innen sich pro Feld durch je fünf bis sechs Bilder durchklicken können. Hinter jeder Illustration verbergen sich, ähnlich wie beim analogen Poster, informative Texte, Bewegungs- oder Malaufgaben, Bastelübungen oder Quiz-Fragen zu Umwelt- und Naturthemen.
Da dieser Instagram-Account nicht nur der Wissensvermittlung über Umwelt, Natur und Ökologie dienen, sondern vor allem auch Zugang zum Stück schaffen soll, gibt es zusätzlich Videos mit Bewegungssequenzen sowie Fotos von im Stück vorkommenden Bühnenobjekten und Kostümen zu entdecken. Entsprechend generiert dieses Medium Einblicke in den Kreationsprozess, präsentiert Objekte, die auf der Bühne tatsächlich auftauchen und eröffnet durch die Quiz-Fragen sowie Mal-, Bewegungs- und Bastelaufgaben vielfältige Partizipationsangebote. Eine spielerische und lernende Auseinandersetzung mit Inhalten zum Stück sowie Themen von Umwelt, Natur und Ökologie wird so in den digitalen Raum verlagert und ins Kinderzimmer gebracht.
Fazit
Die beschriebenen Medien und Vermittlungsformate eröffnen den Kindern diverse Partizipationsmöglichkeiten: Statt eines didaktischen Erklärens oder (Be-)Urteilens des Gesehenen setzen sie auf ein gemeinsames Lernen und bieten dabei sowohl ästhetische, sinnliche, bewegungspraktische, taktile als auch emotionale und reflexive Zugänge zur Produktion. Darüber hinaus sensibilisieren sie in vielfältiger Weise für die uns umgebende (Um-)Welt sowie für andere Lebewesen in und um uns herum. Und wer weiß: Vielleicht kleben nach den nächsten Fridays-for-Future-Demonstrationen plötzlich ein paar Alle-Augen-Staunen-Sticker mit den drei eingangs genannten klimapolitischen Sätzen an öffentlichen Orten. Im besten Fall wirkt das Bühnengeschehen, das Erlebte und Gesehene so über den Theaterraum hinaus und unterstützt eine Reflexion sowie generationsübergreifenden Dialog über unser individuelles, aber auch gemeinsames Verhalten, unsere Verantwortung und nötige Fürsorge in Bezug auf unsere Umwelt. Darin liegt der politische Impetus von Alle Augen Staunen. Denn: Der Ozean hat Fieber, die Luft erstickt, die Erde bebt vor Wut! Und wie es uns die Fridays-for-Future-Bewegung nicht besser hätte vor Augen führen können, liegt es in unser aller Verantwortung, dies zu ändern, um kommenden Generationen sowie Tier- und Pflanzenarten einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.