Rezensiert: Koloniale Fragmente im Kontext Schule
Abstract:
Isabel Eisfeld, Kunstlehrerin an einer Berliner Gemeinschaftsschule, befragt die Textsammlung UNTIE TO TIE – Koloniale Fragmente im Kontext Schule (2021) auf ihre konkrete Anwendbarkeit. Sie reflektiert drei Beiträge auf ihr Potenzial, Schulmaterialien diverser, machtkritischer und kolonialkritisch zu gestalten. Die Rezension zeichnet die Struktur des Werkes nach und klopft dabei die Materialien darauf ab, inwiefern sie dazu beitragen können, Jugendliche zu empowern, zu heilen, miteinander in Verbindung zu bringen und sie dabei zu unterstützen, ihren eigenen Ausdruck zu entwickeln.

Rezension zu: Diallo, Aïcha, Niemann, Annika und Miriam Shabafrouz (Hrsg.): UNTIE TO TIE. Koloniale Fragmente im Kontext Schule. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)/Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), 2021.

Als ich UNTIE TO TIE – Koloniale Fragmente im Kontext Schule zuerst in Händen hielt, war ich überrascht und ziemlich beeindruckt. Diese Textsammlung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und des Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) gleicht einem wertigen zeitgenössischen Ausstellungskatalog und hebt sich damit sehr deutlich von der Gestaltung der meisten mir bekannten Veröffentlichungen der bpb ab. Das ist toll, frisch, wertschätzend und ziemlich bedeutend für den Ansatz des Werkes: Differenzierte, dekoloniale Denk- und Reflexionsanlässe werden anschaulich mit Vorschlägen zur Auseinandersetzung mit konkreten aktuellen Werken der Bildenden Kunst verbunden. Dabei wurden die meisten Beiträge interdisziplinär und in Tandems oder Tridems verfasst und spiegeln so eine ganz zentrale Idee für eine machtkritische Auseinandersetzung mit kolonialen Fragmenten im Kontext Schule: Anstatt eine Perspektive als Gegenerzählung zu einer hegemonialen Geschichtsbetrachtung zu liefern, soll es darum gehen, mehrere Perspektiven von vornehmlich nicht-weissen Akteur*innen aus Kunst, Kultur und Gesellschaft aktiv in den Blick zu nehmen. Der Aufbau des Buches regt dabei zu einer (weiteren) Dekonstruktion eingeschliffener Denkmuster an und löst die Fäden der Vorstellung einer natürlichen Ordnung der Dinge in unserem kollektiven Unbewussten. Was dieses Werk für mich besonders macht, ist die Anregung, das Verlernen, eben diese Dekonstruktion, beispielhaft an ganz spezifischen Konfliktfeldern für Jugendliche erlebbar zu machen. In einem nächsten Schritt geht es darum, den Jugendlichen die Macht zu geben, ihre persönlichen Bedürfnisse und die ihrer Gemeinschaften verbal und bildnerisch zum Ausdruck zu bringen.

Meine erste Hoffnung, hier auf Texte zu stossen, die ich direkt in meinem Kunstunterricht in der Oberstufe einer Berliner Gemeinschaftsschule behandeln könnte, wurde zunächst enttäuscht. Die Verwendung akademischer Sprache legt nahe, dass das Werk an ein erwachsenes, akademisches Publikum gerichtet ist. Ohne Glossar lassen sich die Texte für Jugendliche nur schemenhaft verstehen und die Hürde zur Auseinandersetzung scheint recht hoch. Auch werden Lesende nicht konkret angesprochen und einbezogen. Die Texte bleiben zumeist auf einer reflektierenden Metaebene, was eine vorherige Didaktisierung des Materials durch die Lehrenden notwendig macht. Das trübte meine Freude, gerade weil ich die Forderung von Merih Ergün und Annika Niemann vollständig mitzeichne: „Wir brauchen neue Materialien in der Schule: diverser, machtkritischer und kolonialkritisch“ (S. 90 ff.). Zum Glück werden aber dennoch die Weichen für das Arbeiten in multiprofessionellen Teams gestellt, so dass wir dahingehend explizit Kooperationen mit nicht-weissen Kunstvermittler*innen eingehen können.

Für wen eignet sich dieses Werk und wo sehe ich seinen Einsatzort? UNTIE TO TIE sollte vor allem von Lehrenden und in der Lehrenden-Bildung gelesen und besprochen werden. Als Lernorte bieten sich sowohl Seminare in der Universität als auch Fachseminare im Referendariat an. Die Machtverhältnisse in unserem Bildungssystem legen nahe, dass „Prozesse des Verlernens“ (Kap. 1) bei uns Lehrenden massgeblich für eine diskriminierungskritische Schule sind. Durch die Vorschläge zum Einsatz konkreter Kunstwerke und ihre vorhandenen Ablichtungen in geeigneter Qualität im Buch eignet sich das Werk dann für die Konzeption konkreter Unterrichtssequenzen im Fach Kunst, aber auch (fächerverbindend) in Mathematik, Gesellschaftswissenschaften und Englisch.

Spätestens auf den zweiten Blick, und vor allem in der zweiten Hälfte des Buches, findet sich dann doch einiges, was sich direkt im Unterricht einsetzen lässt – eine wichtige Erleichterung für eine Lehrperson. Zum einen ist Zeit rar und ein zu grosser Arbeitsaufwand zur Umwandlung von Materialien wirkt eher abschreckend. Viel wichtiger noch scheint mir aber die Unsicherheit zu sein, welche didaktischen Herangehensweisen nun tatsächlich dazu beitragen können zu empowern, zu heilen, zu verbinden und eigenen Ausdruck zu ermöglichen.

Damit verbunden ist auch die Frage, welches Material und welche Perspektiven für die eigene konkrete Lerngruppe wertvoll und passend sein können. Wer ist in meiner Lerngruppe? Wie gestalten sich Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse? Welche Diskriminierungsformen sind in der Vergangenheit bereits aufgetreten? Wie kann ich gewährleisten, dass nicht einzelne Kinder oder Jugendliche vorgeführt, also ungeplant oder unwillentlich zum „Anderen“ gemacht werden?

Um mich einer Differenzierung anzunähern, betrachte ich drei Beispiele aus dem Buch. Dabei folge ich in der Anordnung und in der Benennung weiter den Buchkapiteln.


Die Lücken füllen (#mentalmentors)

„Das un_mögliche Klassenzimmer – Notes to ourselves“ (S. 58-63) bietet eine wirklich nahegehende Stellvertreter*innen-Geschichte von Josephine Apraku und Belinda Kazeem-Kamiński über das Erleben der eigenen Schulzeit als Schwarze Person in Deutschland. Die beistehende digitale Collage von Sunanda Mesquita illustriert ein deutsches Klassenzimmer, in dem fast alle Gesichter durch mögliche Schwarze Rollenbilder ausgetauscht sind. Beide Materialien zusammen scheinen mir ein spannender Ausgangspunkt für weitere Collagen zu sein, die im Klassenzimmer erstellt werden könnten: „Welche Persönlichkeiten hättest du gern als mentale Mentor*innen in deiner Klasse? Lasse dich in einem leeren Klassenraum fotografieren. Gestalte auf Grundlage deines Fotos eine digitale/analoge Collage mit dir inmitten von Persönlichkeiten, die dich inspirieren, begeistern und darin bestärken, der Mensch zu sein, der du sein willst.“ Doch so einfach ist es nicht: Die Auseinandersetzung mit dem Text wie auch mit der Illustration will behutsam begleitet sein. Warum? Im Text wird als Rückblick die Schulzeit aus Perspektive eines Opfers rassistischer Diskriminierung geschildert. Dabei sind die Reflexionen so explizit formuliert, dass dies eine ziemliche Sprengkraft innerhalb einer transkulturellen Lerngruppe entfalten könnte:

„Schon in der Schule verstehe ich, dass eine Trennlinie durch meine Klasse verläuft: Auf der einen Seite diejenigen, die den Nationalsozialismus und auch die Kolonialzeit als Täter*innen oder als Unbeteiligte und damit das System stützende Personen vermutlich durchlebt hätten. Auf der anderen Seite ich und ein paar wenige andere. Die wenigen anderen sind nicht Schwarz, ich bin auf meiner Grundschule zeitweise das einzige Schwarze Kind. Die wenigen anderen sind, anders als ich, mit ihren Familien geflüchtet. Zwischen uns besteht eine unausgesprochene Verbindung, ein geteiltes Wissen, geteilte Erfahrungen – ein Bündnis, das wir nicht in Worte fassen können. Selbstbewusst schreibe ich das, kann es aber erst heute.“ (S. 61)

Diese Passage etwa kann eventuell vorhandene unsichtbare Gräben innerhalb einer Lerngruppe betonen. Die Illustration wiederum kann je nach Betrachter*in entweder empowernd wirken oder aber auch die Frage nach „Rassismus gegenüber weissen Menschen“ aufwerfen. Denn der Bildaufbau könnte auch nahelegen, sich unbewusst mit dem lächelnden weissen Mädchen zu identifizieren, das vorne im Bild und auf dem Foto ganz erkennbar ist und dessen Augen mit Herzchen überdeckt sind. In diesem Fall würde eine weisse Perspektive eingenommen, möglicherweise zusammen mit dem Empfinden, in der Minderheit und dadurch in Gefahr zu sein (Anmerkung: Zu diesem Ergebnis kam ich durch eine Schüler*innen-Befragung). Eine gegenwärtige gesellschaftliche Debatte kann so im Klassenzimmer reproduziert werden, mitsamt den expliziten und diffusen Ängsten, die das einschliesst. Da gilt es abzuwägen, inwiefern tatsächlich Raum für eine ganzheitliche Auseinandersetzung gegeben werden kann. Sich dafür zu entscheiden, bietet die Gelegenheit, ein komplexes Verständnis von Rassismus zu entwickeln. Ich schlage vor, die Schüler*innen begleitend zu den Materialen zu mehreren Konzepten recherchieren und ihre Erkenntnisse individuell (z.B. in einem Glossar) dokumentieren und später präsentieren zu lassen, z.B.: weisse Zerbrechlichkeit, Rassismus gegen Weisse, Ethnozentrismus, Dominanzkultur. So kann die praktische bildnerische Arbeit umso bedeutungsvoller werden. Ausserdem ist es sinnvoll, hier eine Beschäftigung mit intersektionaler Pädagogik und Gedichten, etwa von May Ayim, Audre Lorde und Semra Ertan, sowie Liedern von Cem Karaca mit einzubeziehen, da diese weitere Perspektiven und dringend nötige Worte für Emotionen sowie für Abstraktes wie Machtstrukturen geben können. Eine solche intensive gemeinschaftliche Reflexion von Rassismus kann viel dazu beitragen, Beziehungen, Strukturen und Hierarchien im Lernort Schule bewusst (neu) zu gestalten. 


Dekolonialisierung und Widerstand (#schuluniform)

Ein klassischer Aufhänger für Debatten im Englischunterricht ist die Frage, ob es an der eigenen Schule eine Schuluniform geben sollte. Im Kunstunterricht könnte es (unter Verwendung dieses Buches etwa ab der 11. Klasse) darum gehen, eigene Entwürfe für eine Schuluniform zu gestalten. Dazu bietet „Uniformen – Kleidung als Instrument der Teilung, Kaschierung und Organisation“ (Devin Hentz, S.178-182) einen multiperspektivischen Blick auf Schuluniformen im Senegal. In dem Essay werden die koloniale Geschichte und der Zweck der Schuluniformen im Senegal problematisiert sowie die Rolle der Farben in Bezug auf Machtverhältnisse reflektiert. Im Fazit regt die Darstellung der heutigen selbstbestimmten Gestaltung von Schuluniformen durch senegalesische Gemeinschaften dazu an, die Werte und die Vielfalt innerhalb der eigenen Schulgemeinschaft beim Design zu berücksichtigen. Dieser Ansatz hält die Möglichkeit bereit, eigene Dress-Codes und ihre Ursprünge (z.B. soziale Medien, Hiphop, Religion, Subkultur) auf ihren Zweck und Wert hin zu befragen. Im Design sollten mehrere Aspekte berücksichtigt werden, wie etwa Traditionen, Farben, Modelle, Längen, Schnitte, Kopfbedeckungen, Körperformen, Wohlfühlen, Materialien, Logo, Repräsentation, Vielfalt, individueller Ausdruck, Gemeinschaft, Stolz. In diesem Vorgehen sehe ich die Chance zu Empowerment und der Stärkung einer Gemeinschaft von Unterschiedlichen, indem selbst erlebte Machtstrukturen hinterfragt und deren Ausdruck eigene, wohlüberlegte Kreationen entgegengesetzt werden. Besonders wertvoll ist es, wenn aus einem solchen Unterrichtsprojekt tatsächlich ein Set an divers gestalteten Produkten wie Kleidungsstücke, Bandanas, Sticker o.Ä. entstehen und in Umlauf kommen.


Kritische Re-Lektüren (#repraesentation)

Direkt anknüpfbar sind die Seiten mit Unterrichtsbeispielen von Saraya Gomis und Moshtari Hilal im hinteren Teil des Buches (S. 269-289). Anstatt Kinderrechte nur zu thematisieren, gibt Saraya Gomis den Kindern einer Lerngruppe das Recht und die Macht, Materialien und Arbeitsaufträge diskriminierungskritisch zu analysieren. Moshtari Hilal problematisiert gängige Darstellungen von Helden und Bösewichten mittels wiederkehrender optischer Merkmale. Sie stellt die künstlerischen Strategien Frida Kahlos und Kerry James Marshalls einander gegenüber und schlägt Mapping und Collagieren als Techniken einer kritischen Gegendarstellung vor. Sowohl ihre eigenen Illustrationen als auch die knappen und gut verständlichen Texte, die in dem Kapitel einbezogen sind, laden zu einem sofortigen Einsatz in der Schule ein. Das besondere Potenzial dieser beiden Formate sehe ich darin, dass sie gängige Ideale und Typisierungen dekonstruieren und dazu einladen, nach individuellem Bedürfnis neue Setzungen zu machen, die tradierte Darstellungen und Darstellungsweisen punktuell überschreiben. Ich würde die von den Schüler*innen erstellten Werke unbedingt in einer Ausstellung präsentieren. Das kann auf individueller Ebene heilend wirken und gesellschaftlich dazu beitragen, die einmal gelösten Fäden neu und bewusst zu verbinden.

Idealerweise ist klar geworden, inwiefern diese drei Ideen dem Buch gemäss einem Ablauf folgen, der auch psychologisch und emotional sinnvoll sein kann. Das Verlernen von Rassismus und das Entwickeln einer reflektierten Haltung ist eine der grossen Aufgaben unserer Zeit. UNTIE TO TIE bietet uns als Lehrende dafür eine ästhetisch ansprechende Systematik mit facettenreichen Anregungen zur eigenen persönlichen und professionellen Weiterentwicklung. Es wird mitunter dazugehören, auf unserem Weg zu stranden, vielleicht mal verloren zu gehen und entmutigt zu werden, ganz sicher immer wieder zu zweifeln und Unsicherheiten wahrzunehmen. Doch genau darin besteht das Aufknoten oftmals unbewusster Annahmen, die zu Ungleichbehandlung führen und der Anfang, unsere Aufgabe anzunehmen. Es lohnt sich dabei, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen, dieser bewusst zu begegnen und mutig die Macht (als weisse Lehrperson?) zu teilen. So können Allianzen entstehen, die Schule nachhaltig zu einem besseren Ort machen werden.




Kurzbiografien der Autor_innen: