Schlagwörter: Corona, Digitalität, Fiktion, Kollaboration, Non-Human, Performativität, Territorium, Theater, Videotelekonferenz
Wallmapu ex situ, die Arbeit, von der ich hier schreiben möchte, ist ein vielschichtiges Werk. Es umfasst eine Reihe von Online-Konferenzen, die über eine Webseite gestreamt werden konnten und dort nun archiviert sind.Die Konferenzen und weitere Informationen sowie Textbeiträge (auf Deutsch und Spanisch) sind auf unserer Webseite (www.wallmapu-ex-situ.net) aufrufbar. Momentan arbeiten wir mit einigen der Repräsentant*innen, unserem künstlerischen Team und einer Gruppe von Simultanübersetzer*innen/Perfomer*innen an einer Performance, die unsere Erfahrungen und Know How, das wir während der Realisation des hier beschriebenen Projektes gesammelt haben, kondensieren wird. Thematisch soll es um Fortschritt gehen. Die Premiere soll am 11. März 2022 im Schlachthaus Theater Bern stattfinden. Wallmapu ex situ wurde finanziert von: Concidencia / Prohelvetia, Swisslos /Kultur Kanton Bern, Kultur Stadt Bern, m2act / Migros Kulturprozent. Unsere Ko-Produktionspartner waren das Schlachthaus Theater Bern und das Südpol Luzern. Der Kunstraum la_cápsula in Zürich hat uns ebenfalls unterstützt. Unter dem Gruppennamen Trop cher to share waren Nina Willimann und ich für die Konzeption und künstlerische Leitung zuständig und arbeiteten mit einem interdisziplinären Team von Expert*innen zusammen. Ein grosser Teil der Arbeit bestand darin, Kontakte zu knüpfen und ein Netzwerk zu Menschen aufzubauen, die eine Beziehung – sei sie biographisch, akademisch, emotional oder künstlerisch – zum Wallmapu haben. Wir baten diese Menschen, als Repräsentant*innen nicht-menschlicher Wesen miteinander in einen spekulativen Dialog über Videotelekonferenz einzutreten. Diese historiographische Praxis basiert zum einen auf Ideen und Ausführungen des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour (vgl. Latour 1995), zum anderen auf der Mapuche-Weltsicht, in der das Menschliche als Teil der Natur verstanden wird und natürlichen Entitäten eine Handlungsmacht und Stimme zugesprochen wird.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Klimakatastrophe, in der wir uns befinden, auf unser gestörtes Verhältnis zur Erde, unsere Auffassung von Raum, Materie, Ressourcen und Natur im Allgemeinen zurückzuführen ist und dass ein Überdenken sowie eine Neukonfiguration unserer dichotomen Perspektive, die uns von all dem abstrahiert, was wir als natürliche Welt bezeichnet haben, unerlässlich ist, um neue Erzählformen zu entwickeln.
Dieser Text ist ein Versuch, einen schmalen Pfad zu ebnen, einen Weg, der es mir erlaubt, die territorialen und historischen Bedingungen zu benennen, die die Beziehung zwischen Chile, Wallmapu und der Schweiz ausmachen. Ich möchte durch diese Ausführungen ebenfalls aus meiner Perspektive heraus erzählen, wie wir Wallmapu ex situ entwickelt haben, und diese Arbeit in mein künstlerisches und vermittlerisches Schaffen verorten, um nicht zuletzt vom Reisen, vom nicht reisen Können sowie virtuellen Zwischenräumen zu berichten.
Von einem Ort sein
Meine Beziehung zum Wallmapu ist in erster Linie biographisch bedingt. Ich bin auf der Nordseite des Flusses Bíobio, in Concepción, der zweitgrössten Stadt Chiles, zur Schule gegangen. Als kleines Kind hatte mich meine Mutter, die aus der Schweiz stammt und mit meinem Vater nach Chile gezogen war, mit aufs Land genommen, zu den Pilquinao Painenaos, einer Mapuche-Familie, mit der sie sich angefreundet hatte. Unterdessen lebe ich im Land meiner Mutter – wobei sie genau die Formulierung, dass die Schweiz ihr Land sei, vermutlich nicht sonderlich schätzen würde. Ich erwähne dies nicht, um mich ante causam bei meiner Mutter für mein grobe Verallgemeinerung zu entschuldigen, sondern weil genau dies Themen meiner künstlerischen Praxis gewesen sind: Wo gehört man hin? Wer bin ich? Wie ist meine Identität mit einer Region oder einem Land verknüpft? Und wie sehen es andere? So entstanden einige Arbeiten von mir, etwa Teach me to dance! (2019), ein Stück, in dem ich versuchte, zu dem Griechen zu werden, der ich nicht bin, oder eben Arcadia (2014), meine erste richtige Zusammenarbeit mit Nina Willimann, die uns 2013 zum ersten Mal nach Chile und dann in die Araucanía-Region führte.
Damals reisten wir hin, um Material für eine Performance zu sammeln, die auf einer künstlerischen Feldforschung in der Gemeinschaft der Schweizer Nachkommen in Traiguén basierte, einer Stadt, die zur Zeit der Einwanderung sogar ein Schweizer Konsulat besass. Zu dieser Zeit hatten wir bereits von einigen Konflikten in der Araucanía-Region gehört. Wir wussten von der Polizeipräsenz in der Region, wir hatten von dem Widerstand der Mapuche gegen die stetige Expansion der Forstindustrie, von in Brand gesetzten Lastwagen und Maschinen sowie von autonomen Communities besetzten Gebieten gehört. All dies, nota bene, Bilder, die in traditionellen Medien wie Fernsehen und grossen Tageszeitungen immer wieder gerne gezeigt werden, denn sie enthalten die Würze des Sensationellen – el morbo, würde man in Chile sagen –, das sich so gut verkauft. Mit ihnen, das sei hier ebenfalls angemerkt, wird eine Politik betrieben, die die historische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung fortschreibt, in der sie als stur, militant und gegen jede (aus westlicher Sicht sinnvolle) Nutzung von Land und Boden dargestellt wird. Ebenso systematisch verweigert der Staat ihnen das Recht auf ein Leben und eine Nutzung des Territoriums nach eigenen kulturellen Werten und Normen.
Die Lage in diesem Teil des Wallmapu und dessen Geschichte schienen uns so komplex, dass wir nicht wussten, wie wir diese Konflikte, die im ganzen Territorium eingebettet sind, überhaupt künstlerisch angehen (oder uns ihnen zumindest annähern) konnten. Dies, obwohl einige Angehörige der Schweizer Community, mit denen wir arbeiteten, durchaus eine Meinung dazu hatten: Viele von ihnen fühlten sich – im Zuge der Mapuche-Bewegung zur Rückforderung ihrer Ländereien – von dem Land, das sie einstmals urbar gemacht hatten, vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt jedoch, wussten wir nicht, wie wir diese Perspektive in unsere Arbeit einbauen sollten. Zu parteiisch schien es uns, nur die Schweizer*innen zu Wort kommen zu lassen, doch für ein Kennenlernen der anderen Positionen fehlte uns die Zeit, vielleicht auch der Mut.
Wir kehrten also in die Schweiz zurück und produzierten Arcadia, lernten dabei viel und stellten ein Stück zusammen, das auf seine eigene Art und Weise politisch ist.Arcadia kontrastierte die z.T. forcierte Auswanderung Ende 19. Jahrhunderts von Schweizer*innen nach Chile und deren praktisch bedingungslose Aufnahme durch den Chilenischen Staat mit der von der SVP lancierten Masseneinwanderungsinitiative. Die Frage aber, wie wir uns dem Konflikt in diesem Teil des Wallmapu hätten annähern können, blieb – und damit auch das Interesse für die Region. So kam es, dass wir, als Pro Helvetia einige Jahre später Concidencia, ihr Pilotprojekt für ein neues Büro in Südamerika, lancierte und ich mit ihnen über eine mögliche Zusammenarbeit sprach, ziemlich bald über Territorium zu sprechen kamen. Zu dieser Zeit hatte ich von einem Freund aus Chile ein kleines Büchlein geschenkt bekommen, ein Handbuch für die Flora und Fauna der Region um Concepción. Ich war überrascht, in einer solchen Publikation eine derart politische Haltung zu finden, wie sie bereits in den ersten Zeilen der Einführung zu lesen war:
„Dieses Buch ist eine Annäherung an die Baumflora der Wälder in der Region Biobío. Angesichts ihrer anhaltenden Degradierung und Zerstörung – die hauptsächlich durch Monokulturen ersetzt wurden – ist es notwendig, die Unterschiede zwischen den ursprünglichen Wäldern unseres Territoriums und den sterilen Kiefern- und Eukalyptusplantagen zu erkennen […] Diese Plantagen bestehen aus Arten, die in das Gebiet eingeführt wurden, und dienen vor allem der Befriedigung der großen Nachfrage auf dem internationalen Markt. Der Wert der einheimischen Arten ergibt sich also nicht nur aus ihrem Alter oder ihrer Schönheit, sondern auch als Symbol für die Verwurzelung mit dem Territorium und den Widerstand gegen das in Chile vorherrschende brutale Abbaumodell.“ (Benöhr 2017: 8, Übersetzung des Autors, Original auf Spanisch)
Naturschutz, Territorium, Flora und Fauna – mit diesen Begriffen stiegen wir ein, Nina und ich, die wir uns nach einem ersten vielversprechenden Treffen mit einer Mitarbeiterin von Pro Helvetia, der ich mit grosser Begeisterung dieses Zitat vorgelesen hatte, zum Brainstormen trafen. Nina war ganz adamant in ihrer Forderung, diese Themen auf das Wallmapu zu beziehen. Wir sollten, so meinte sie, in die Araucanía-Region zurückkehren. Sie erzählte mir von der Arbeit Theatrum Botanicum (2015-ongoing), bei der Uriel Orlow die Flora als Bühne von (kolonialen) Geschehnissen versteht und die spezifischen Signifikationen bestimmter Pflanzen (wie zum Beispiel von der Südafrikanischen Regierung verbotene, traditionelle Heilpflanzen) untersucht. Was wäre, wenn wir die Flora der Araucanía-Region als Zeugin betrachten würden und mit ihr versuchten in ein Gespräch zu kommen? Vielleicht könnte dies eine künstlerische Strategie sein, die es, wie wir später schreiben sollten, uns erlauben könnte,
„die verhärteten Fronten zwischen den Konfliktparteien mit einem nicht primär politisch aufgeladenen Thema zu durchbrechen. Ein ‚neutrales‘ Thema, das jedoch indirekt mit der Frage des Territoriums, mit der Geschichte, dem Wissen, den Perspektiven und mit den Anliegen der beteiligten Akteur:innen verknüpft ist.“ (Trop cher to share, 2019)
So stand es in unserem Gesuch für eine vierwöchige Recherchereise nach Chile, die wir mit der Unterstützung der Kultur Stadt Bern und dem Pilotprojekt Coincidencia von Pro Helvetia durchführen sollten: Wir würden nach Chile reisen, dann ins Wallmapu und dabei auf Kontakte unserer vorherigen Reise und meinem Netzwerk in Chile zurückgreifen, um Menschen zu treffen, die auf die eine oder andere Art mit der Flora des Wallmapu in Verbindung stehen.
Über einen Ort sprechen
Im Dezember 2019 reisten Nina und ich nach Chile, um unsere Recherchereise anzutreten. Wir flogen nach Santiago und fanden ein Land in Aufruhr vor. Der Estallido Social, das grosse soziale Krachen, das zu einer landesweiten Welle von Massendemonstrationen geführt hatte, lag noch keine zwei Monate zurück. Begonnen hatte alles in der Hauptstadt, mit der Ankündigung der Regierung des rechtsliberalen Empresarios Sebastián Piñera, die Preise für die Metrotickets zu erhöhen. Daraufhin riefen Sekundärschulorganisationen dazu auf, die Drehsperren in den Metrostationen schlicht zu überspringen, ein politische Geste der Agilität gegenüber der nimmersatten Bereicherung der Elite an den Grundbedürfnissen der Stadtbewohnenden. „Evade!“, sagten sie. „Weich aus, lass die Zahlung aus!“ Scharenweise übersprangen Schüler*innen die Drehkreuze und überfluteten die Metrostationen. Und doch schien es zuerst ein lokaler Konflikt zu sein. Ich, der ich in Concepción aufgewachsen bin, einer Stadt ohne Metro, und unterdessen bereits zehn Jahre in der Schweiz lebte, bekam die ersten Tage des Konflikts gar nicht richtig mit. Doch am 18. Oktober geschah etwas. Der Funke sprang über, wie es die Koryphäe der nationalen Geschichtsschreibung Gabriel Salazar ausdrücken würde (vgl. Salazar 2019). Er brachte den grossen Knall und damit ein Erwachen in breiten Teilen der Bevölkerung im ganzen Land: „Chile despertó!“, „Chile ist aufgewacht“ hiess es. „Es geht nicht um eine 30-Peso-Fahrpreiserhöhung, sondern um 30 Jahre“ stand auf unzähligen Transparenten und Social-Media-Beiträgen. 30 Jahre seit der Rückkehr zur Demokratie, 30 Jahre unaufhaltsamen Wachstums in Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
So viel zur politischen Lage des Landes zum Zeitpunkt unserer Ankunft. Ich weiss, dass meine Schilderungen wahrscheinlich nicht genügen, um ein vollständiges Bild der Lage zu zeichnen, und doch breche ich sie hier ab, denn, wie ich anfangs erwähnte, beschreite ich einen schmalen Pfad und wenn ich mich hier länger aufhalten würde, müsste ich eine Chronik schreiben. Trotzdem vermute ich, dass sich die Leserin oder der Leser an Dinge erinnert fühlt, die sie oder er anderswo aufgeschnappt hat, in Pressebildern, Zeitungsartikeln, sozialen Medien. Vielleicht weiss sie oder er auch bestens Bescheid über die Lage. Aber wenn nicht, vermischen sich dann meine Schilderungen nicht mit einer vagen Idee vom Leben in Südamerika, ja vielleicht noch allgemeiner, mit einem Bild von Ländern in der Krise? Sind sie nicht ein weitere von zahllosen Erinnerungen an das Versagen und Chaos, die für uns, die wir aus irgendeinem Grund einen Platz auf dieser Insel des Friedens bekommen haben, den Ländern und Regierungen des globalen Südens schlicht innewohnen?
Ich denke, dass jede ernstgemeinte Erzählung von anderswo mit diesen Problemen umzugehen hat. Wie beschreibt man eine Landschaft und deren Geschichte? Über welche Mittel lässt sich so eine Beschreibung transportieren und welche Wirkung wird sie auf all jene haben, die den beschriebenen Ort nicht kennen? Wie kann die Beschreibung trotzdem zu einem Bild werden, das die Wichtigkeit ebendieser Partikulargeschichte unterstreicht und, wie im Falle des Wallmapu, die Beziehung zwischen zwei Orten, Schweiz und Wallmapu, aufzeigen kann?
Nina und ich sprechen oft über diese Fragen. Wir merken, wie schwer es manchmal ist, den Menschen hier in der Schweiz Chile und seine spezifischen sozialen, politischen und kulturellen Umstände näher zu bringen. Dies zu tun bedeutet immer, einen Kontext abzustecken und sehr bald sieht man sich gezwungen auszuholen. Wenn man könnte, würde man am liebsten mit der Conquista beginnen, der Eroberung des Kontinents, diesem Mega-Ereignis, das alle Völker und Lebewesen auf ihm in einen ewigen Disput um Land, Macht und Herkunft brachte. Nun, vielleicht sollten wir das tun. Genau in diesem Sinne haben einige der Parolen um die 30 Peso eine neue Wendung gegeben. Es seien, so beteuern sie, „keine 30 Peso und auch keine 30 Jahre“, sondern eben 500 Jahre. Bei der Conquista müsse man beginnen, nun da den Chilen*innen mit dem Ausbruch des Estallidos endlich das Ausmass an Unterdrückung und Enttäuschung durch die Behörden und Institutionen, Mächtigen und Reichen, bewusst geworden sei, das andere, wie die Mapuche, jahrhundertelang ertragen mussten (vgl. Alvarado Lincopi 2020: 96).
Land und Wandel
Die Araucanía-Region war in den 500 Jahren von der Conquista bis zur Gegenwart umkämpft wie kein anderer Ort zwischen den Anden und dem Pazifik. Nicht einmal eine von der spanischen Krone 150 Jahre lang unterhaltene Berufsarmee zur Eroberung von Arauco, wie die Spanier*innen die Gegend nannten, konnte ihnen die Herrschaft über diese Gebiete sichern.
Als ich in Concepción zur Schule ging, lernte ich, dass nach der Unabhängigkeit Chiles und mit dem Mestizaje, der Vermischung aller Völker und Ethnien auf dem Territorium, die Eroberungsbemühungen mit einem Mal obsolet geworden seien: Es habe ab einem gewissen Punkt – so hiess es in den vom Nationalstaat konzipierten Lehrbüchern, die mein junges Hirn formten – praktisch nichts mehr zu erobern gegeben, nichts mehr einzunehmen. Dank dem Mestizaje sei das ganze Land ab einem gewissen Punkt von denselben Menschen bewohnt gewesen: Chilen*innen in ihrem souveränen Territorium.
Nur, dass dem nicht so war. Nachdem sich Chile Anfang des 18. Jahrhunderts von Spanien unabhängig erklärt hatte, fand in der Araucanía-Region ein neuer Krieg statt, der euphemistisch als Befriedung bezeichnet wurde und von der Armee des noch jungen Chile gegen die Mapuche geführt wurde. Im Zuge dieser Besetzung und Eroberung wurden viele Mapuche getötet und viele ihrer Ländereien geraubt, die, wie in der Zeit der spanischen Krone, an die Soldaten vergeben wurden, die den Krieg überlebt hatten. Noch grosszügiger zeigte sich der junge und unternehmungslustige Staat jedoch gegenüber den Siedler*innen aus Europa, von denen unter anderem einige Tausende aus der Schweiz kamen. So übernahm der chilenische Staat den Konflikt mit den Mapuche von der spanischen Krone und gab ihn weiter an alle, die an diesem Ort leben sollten. Diese – Chilen*innen, Europäer*innen, eingeführte Pflanzen, Tiere und Mikroben – veränderten das Land grundlegend: Die eingewanderten Menschen setzten die Wälder in Brand, denn während die Spanier*innen noch auf der Suche nach Gold gewesen waren, von dem die Flüsse und Bäche der Region keines zu bieten hatten, so waren die neuen Einwanderer damit beauftragt worden, das Land urbar zu machen. Und dafür mussten sie zuerst einmal Platz schaffen.
Auf diesem neu geschaffenem Boden begann sich eine mächtige Agrarwirtschaft zu entwickeln, die einen grossen Teil des Landes ernähren und einigen, vor allem denjenigen, die diese Wirtschaft vorangetrieben hatten, Wohlstand bringen sollte. Gleichzeitig – wie so häufig bei kapitalistisch erwirtschaftetem Wohlstand – nahm die Ungleichheit zu: Rassismus führte dazu, dass die Mapuche ihre Sprache nicht mehr sprachen, die Armut dazu, sie unsichtbar zu machen oder in andere Regionen, besonders nach Santiago, auszuwandern zu lassen. Später, während der Diktatur von General Augusto Pinochet – die in erster Linie eine Reaktion der Oligarchen- und Grossgrundbesitzerklasse auf den tiefgreifenden Wandel, der sich unter der sozialistischen Regierung von Salvador Allende vollzog, gewesen war (zu deren Hauptschwerpunkten gerade die Agrarreform gehörte)– begannen in der Araucanía-Region die Forstwirtschaft und die Holzindustrie gefördert zu werden, was den Anbau gigantischer Monokulturen zur Folge hatte (hauptsächlich mit Eukalyptus und Pinus radiata, zwei schnell wachsenden und daher ertragreichen Arten). Dieses letzte Kapitel der Landnutzung und -ausbeutung in Wallmapu veränderte Landschaft und Leben noch weiter und ist das, was am deutlichsten zu sehen ist, wenn man heute dorthin reist – unter anderem deshalb, weil die Autobahnen so gebaut wurden, dass sie für die Forstindustrie genutzt werden können, und deshalb oft direkt an den Plantagen vorbeiführen.
Learning from Wallmapu
Während unserer vierwöchigen Reise durch diesen südlichen Teil des Wallmapu besuchten wir eine von einem Schweizer Agronom geführte Baumschule, ein botanisches Institut, eine Mapuche-Gemeinde und ehemaliges Reservat, eine von einem Schweizer Priester gegründete Land- und Forstwirtschaftsschule sowie Naturschutzgebiete, Forstplantagen, Kulturinstitutionen und Museen. Jede Person, die wir an diesen Orten trafen, hatte eine andere Einstellung zur Flora, die weitgehend von ihrer politischen (und manchmal auch religiösen oder spirituellen) Haltung bestimmt war. Die Gespräche, die wir führten, waren sehr fruchtbar, denn sie ermöglichten es uns, grundlegende Fragen zu erörtern – etwa materialistische oder animistische Ansichten, marktwirtschaftliche Erwägungen, umweltpolitische Positionen oder westliche und indigene Sichtweisen auf das Land –, ohne dass sich unsere Gesprächspartner*innen in eine Verteidigungsposition zurückziehen mussten. Auf diese Weise wurde die Tür zu einem tiefergreifenden Verständnis des Wallmapu als einem Ort geöffnet, an dem die Kehrseite der Modernität besonders deutlich zu sehen ist: Die Kolonisierung, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Verneinung der Lebensweise der ursprünglichen Bevölkerung – all das wurde von einer Idee des Fortschritts getragen, einer Illusion, die auf das Territorium projiziert wurde und dort, statt Wirklichkeit zu werden, zu einer Enttäuschung führte, während die Bereicherung, der Wert der dramatischen Veränderung für alle, die die Konkretisierung dieser Schimäre forderten, anderswo (in den Zentren, im globalen Norden, für einige wenige) gezogen wurde. Die positivistische Prognose, die die Orte dieser Welt nach dem Grad ihrer (mangelnden) Entwicklung klassifiziert hatte und versprach, dass sie alle früher oder später das Rennen machen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Einige Orte wie die Araucanía-Region und viele andere sind buchstäblich auf der Strecke geblieben, ja wurden als Baumaterial für den Weg in die Moderne verwendet, sind verbrannt worden, um den Antrieb dafür zu erzeugen. Aber diese Orte sind nicht verschwunden, nur weil sie beseitigt worden sind. Es gibt sie noch. Was ist also da? Was ist jetzt? Was waren und sind die Folgen unserer westlichen Moderne?
2019 hat das Schweizerische Fernsehen eine Dokumentation herausgegeben, die den Titel Kampf ums Land trägt (vgl. SRF 2019). Sie handelt von dem einige Jahre früher begangenen Doppelmord an dem schweizerischstämmigen Grossgrundbesitzer Werner Luchsinger und seiner Ehefrau, deren Gut in Vilcún, also mitten im Wallmapu liegt. Die Dokumentation versucht sich an einer Gegenüberstellung zweier Lebensformen – die der Colonos, also der Siedler, und die der Mapuche – und fällt in ähnliche Pauschalisierungen und Exotisierungen wie die chilenische Presse. Leider, denn kurz hatten Nina und ich gedacht ein Dokument gefunden zu haben, das den Konflikt in der Araucanía-Region einem Schweizer Publikum hätte näherbringen können. In einer Sache aber trifft die Reportage den Punkt: In der Region findet ein Kampf ums Land statt. Doch sind die schweizerischstämmigen Grossgrundbesitzer und Mapuche-Aktivisten längst nicht die einzigen Akteure: Für ein vollständigeres Bild fehlen die Forstunternehmen, die selbst mit ausländischem Kapital liiert sind, unter anderem mit einer Firma des Schweizer Unternehmers Stephan Schmidheiny. Es fehlt der chilenische Staat, der den Forstunternehmen den Rücken freihält, das Volk der Mapuche seit seiner Gründung enttäuscht und es bis heute versäumt hat, die rechtliche Grundlage für ein plurinationales Chile zu schaffen (was derzeit im Rahmen der Ausarbeitung einer neuen Verfassung diskutiert wird). Es fehlt eine Diversität an Mapuche-Positionen (denn begreiflicherweise vertreten sie nicht alle dieselben Interessen oder verfolgen die gleichen Ziele) und es fehlen die zahlreichen chilenischen Gruppen und Individuen (einschliesslich Umweltaktivist*innen und sozialen Bewegungen), die sich dem ökologischen oder politischen Widerstand in Wallmapu angeschlossen haben. Wie liesse sich also eine Gegenüberstellung all dieser Gruppen und Positionen denken, würde man der Komplexität dieses Kampfes um Land Rechnung tragen wollen?
Als Pflanzen sprechen
„LITRE: Warum seid ihr hierher gekommen?
EUCALYPTUS: Man hat uns gesagt ihr kommt hierher und ihr bekommt alles was ihr braucht, Sonne und Wasser. Wir brauchen euch da.
LITRE: Und wofür seid ihr gut?
EUCALYPTUS: Wir sehen gut aus… Und wir geben Schatten und wir riechen gut.
LITRE: Wie seht ihr denn aus?
EUCALYPTUS: Wenn wir klein sind, sind wir ganz niedlich und haben so runde Blätter und sind ganz weich wie Haut und grün-gräulich, sehr schön! Dann aber, werden wir ganz lang und stämmig und haben dann so, wie nennst du die? Blätter, aber so rund sind sie, weisst du? Wie seht ihr aus, oder du? Seid ihr auch mehrere?
LITRE: Also, ich bin eigentlich ein Baum, aber meistens werde ich nur zu einem Busch weil man zu wenig Geduld mit mir hat.
EUCALYPTUS: Kommst du aus Spanien?
LITRE: Nein. Ich bin schon immer da gewesen!“
(Trop cher to share, 2020a)
Wir kehrten Anfang 2020 zurück in die Schweiz mit Videointerviews von Menschen und Orten, denen wir begegnet waren, sowie Automatic-Writing-Texten von Nina und mir (eine Art autoethnografische Praxis, die wir bereits bei früheren Projekten angewendet hatten). Wir ordneten das Material, um eine Präsentation vorzubereiten und das Projekt vor einem kleinen Publikum vorstellen zu können. Dabei wurden wir uns einiger Dinge bewusst, etwa dessen, wie schwer es ist, etwas über das Wallmapu zu sagen, ohne zuerst einen Kontext abzustecken. Die Präsentation war deswegen auch so konzipiert, dass wir mit Hilfe verschiedener Medienberichte,Unter anderen Kampf ums Land, aber auch eine Reportage Plantar Pobreza, eine vom News Outlet Resumen produzierte, investigative Dokumentation zu der Agrarwirtschaft Chiles (vgl. Resumen.cl 2014) Satellitenaufnahmen des Wallmapu und einer Collage aus unseren Automatic-Writing-Texten einen Eindruck unserer Reise und den darin abgehandelten Fragenstellung vermitteln wollten. Wir wollten aber ebenfalls einige performative Elemente ausprobieren. Eines davon war ein Gespräch zwischen einem Eukalyptus und einem Litre, einem einheimischen Baum aus der Araucanía-Region, der Hautausschläge verursachen kann und in der Mapuche-Tradition eine Art Wächter- oder Türsteher-Funktion einnimmt, denn will man heil an ihm vorbeikommen, muss man höflich grüssen und um Erlaubnis bitten. Dieser kurze Sketch, der mir ziemlich viel Mut abverlangte (denn es kam mir albern vor, wie ein Baum zu sprechen, irgendwie plakativ), hatte, wie sich bereits im Publikumsgespräch herausstellte, eine gewisse Qualität. Es gab etwas Faszinierendes daran, einem Menschen zuzuschauen, wie er sich selbst und sein Aussehen beschreibt mit Begrifflichkeiten, die für einen Baum verwendet werden können. Ausserdem zeigte sich in der Beziehung der zwei Bäume vieles, was wir ansprechen wollten: Territorial- und Interessenskonflikte, Allianzen, Feindschaften, Konkurrenz, Wünsche, Frustration, etc.
Ein paar Wochen später wurde der erste Lockdown verhängt. Ohne zu wissen, wann wir wieder nach Chile reisen konnten, wollten wir einen Weg suchen, weiterhin an unserem Projekt zu arbeiten. Dies beinhaltete auch das Aufrechterhalten der neu geknüpften Beziehungen, etwa mit der Mapuche Performancekünstlerin Paula Baeza Pailamilla, die wir in den letzten Tagen unseres Aufenthalts in Santiago de Chile getroffen hatten, um mit ihr ein Reihe von Fragen in Bezug auf unsere Erfahrungen während der Recherchereise zu besprechen, woraufhin sie uns als Antwort einen Text schickte, in dem sie zu Themen wie Repräsentation und Essenzialisierung der Mapuche und deren Beziehung zur Natur Position bezog:
„Wenn man von der Flora spricht, spricht man auch von der Mapu. Die Mapuche, die Fauna, die Flüsse, der Wald, das Meer und alles, was in dem existiert, was der Westen Natur nennt, ist das Gebiet der Mapu. Wir existieren nicht getrennt davon, wir sind ein organisches Kontinuum. Auf Grund dieser Sensibilität und Perspektive ist der Widerstand des Mapuche-Volkes stets ein Widerstand für das Land. Es ist nicht möglich, das extraktivistische und umweltverschmutzende Wirtschaftssystem von dem Kampf und den Lebewesen, die hier leben, zu trennen. Über die Flora zu sprechen und diese Lebewesen sichtbar zu machen, ist im aktuellen Kontext ein politischer Akt.“ (Pailamilla 2020: o.S.)
Zur gleichen Zeit etwa hatte Nina angefangen, sich tiefergehend mit den Gedanken Bruno Latours zu beschäftigen. In dem ursprünglich 1991 auf Französisch erschienen Text Wir sind nie modern gewesen stellt der französische Philosoph und Soziologe die Trennung von Kultur und Natur in Frage und schlägt vor, auch nicht-menschliche Entitäten (hybride Phänomene, pflanzliche, materielle oder sonstige Natur) als handlungsmächtig, als über agency verfügend zu begreifen (vgl. Latour 1995). Aus diesen Überlegungen, der Mapuche Ontologie und Latours Modernekritik, heraus beschlossen wir die Möglichkeit zu untersuchen, ein Gespräch zu führen, bei dem nicht nur Pflanzen, sondern alle Arten nicht-menschlicher Wesen in einen Dialog treten würden. Wir entschieden uns, mit Latours Vorschlag eines Parlaments der Dinge zu arbeiten, also einem Ort, in dem ein Gespräch zwischen nicht-menschlichen Wesen stattfinden kann. Dazu stellten wir ein kleines Team zusammen, bestehend aus Paula Baeza Pailamilla, dem Historiker Jose Cáceres Mardones, der Schriftstellerin und Botanikerin Mara Meier sowie unserer Dramaturgin Johanna Hilari. Da wir alle in unterschiedlichen Orten lebten, fanden unsere Treffen online statt.
Wallmapu ex situ
Es war die Anfangszeit der Pandemie: Performances, Tanz- und Theaterstücke, die bald Premiere gehabt hätten, wurden über Nacht in mehr oder minder aufwändige und mehr oder minder geglückte Live-Stream-Produktionen verwandelt. Die Umstellung auf die digitale Technik war wohl für die wenigsten Produktionen, die zum Zeitpunkt der Theaterschliessungen bereits existierten, ein Glücksfall, sondern eine Notwendigkeit, die im gleichen Masse organisatorischen und finanziellen Zwängen entsprach wie auch dem Willen, sich durch die neue Arbeits- und Lebensrealität nicht unterkriegen zu lassen. Nina und ich, die wir zu den Glücklichen gehörten, die sich damals nicht mit Aufführungen auseinandersetzen mussten, beschlossen daher zu untersuchen, inwiefern digitale Mittel kein unzureichender Ersatz für etwas Physisches und Unmittelbares bleiben müssen.
Der Austausch mit unserem Team fruchtete, wir trafen uns mit gewisser Regelmässigkeit zu Online-Sitzungen, zu denen wir manchmal auch Gäste einluden, und besprachen verschiedene Aspekte unseres Unterfangens: Wer ist legitimiert für wen zu sprechen? Wie können wir ein Gespräch auf Zoom führen und welches Regelwerk braucht es dazu? Wir beschlossen, eine Reihe von nicht-menschlichen Wesen zu bestimmen, die einen besonderen Einfluss auf das Wallmapu haben und auch in der Lage sind, verschiedene Perspektiven miteinander zu teilen. In der Sprache unseres neuen Gesuchs, um auch diesen Teil des Projekts zu finanzieren, klang das so:
„Stellen Sie sich vor: Im Rahmen einer Konferenz zum Thema ‚Territorium und Grenzen des Wallmapu‘ unterhalten sich folgende Akteure miteinander: die Panamericana-Autobahn, die ganz Chile von Norden bis Süden in zwei teilt und ein Symbol von Fortschritt und Entwicklung ist; der Brombeerbusch (Rubus sect. Rubus), der von europäischen Siedler:innen zum Zweck der Grenzziehung eingeführt wurde und heute als Neophyt zur Plage geworden ist; sein Nachfolger, der Stacheldraht, der im amerikanischen Westen zur Einhegung des zum Privateigentum erklärten Landes erfunden und danach auch in Chile eingeführt wurde […] Natürlich ist dieses Gespräch real nicht möglich, denn Stacheldraht und Brombeere können nicht miteinander sprechen, und sowieso wissen wir nicht, ob, und falls ja, wie eine Autobahn denk. Mit Wallmapu ex situ schafft das Künstler:innenkollektiv Trop cher to share einen spekulativen Möglichkeitsraum, in dem dieses Gespräch stattfinden kann.“
(Trop cher to share, 2020b)
Während der Durchführung des Projekts stellten wir fest, dass dieser sich öffnende Raum, den wir als Möglichkeitsraum oder Zwischenraum bezeichneten, ideal geeignet war, um eine neue Form des Miteinandersprechens zu ermöglichen. Der neue Rahmen, den die Videotelekonferenz bot, erlaubte es uns, mit den Möglichkeiten dieser Kommunikationsform zu experimentieren. Wir mussten neue Wege finden, um miteinander zu sprechen, und fanden diese in einer spekulativen und zugleich gemeinschaftlichen Praxis des Erzählens, Fragens und Zuhörens. In den folgenden Monaten nahmen wir Kontakt zu verschiedenen Personen aus dem Wallmapu auf und baten sie, in einer Konferenz als Repräsentanten für ein nicht-menschliches Wesen zu sprechen, das ihnen besonders nahestand. Wir realisierten drei Konferenzen mit jeweils vier bis sechs Vertreter*innen, die für jeweils ein Wesen sprachen und ein improvisiertes Gespräch miteinander führten. Zusätzlich gab es eine Live-Moderation, eine Simultanübersetzung vom Spanischen ins Deutsche und die Möglichkeit, die Konferenzen live zu streamen oder sie, sofern es die Einschränkungen der Pandemie zuliessen, vor Ort im Theater zu besuchen. In den Konferenzen wurden viele Themen diskutiert, die in diesem Artikel eine Rolle spielen: Die Kolonisierung der Araucanía-Region, namentlich durch Schweizer Siedler*innen, das Aussterben von Tieren und Pflanzen, die Veränderung der Landschaft, die Forstwirtschaft samt ihrer regionalen sowie weltweiten Auswirkungen, die Idee des Fortschritts, die Anwendung von Gewalt zur Unterdrückung, die Grenzziehung, die Symbolkraft der Mapuche-Flagge, Vermischung und Vermengung, Einsamkeit und Allianzen, Zukunftsvisionen und Enttäuschungen. Indem wir Menschen in die Position von Nicht-Menschen versetzten und uns in einem neuen Raum trafen, der weder in der Schweiz noch im Wallmapu liegt, konnten wir neue Erzählungen und Bilder entwickeln, die neue Sichtweisen auf das Wallmapu und die Beziehung zwischen uns Menschen und anderen Akteuren dieser Erde ermöglichten. Die Dialoge und der Austausch untereinander erlaubten es den nicht-menschlichen Wesen, Fragen zu stellen, die womöglich noch nie gestellt worden sind.
Da ist zum Beispiel das Chilliweke: Ein vor Jahrhunderten ausgestorbenes Tier, dem spirituelle Bedeutung zugeschrieben wird und das regelmässig in Bittzeremonien angerufen wird, da es sich nun im Wenumapu, der Oberen Erde, befindet und über die Belange der Mapuche wachen soll. Im Laufe der beiden Konferenzen, an denen es teilgenommen hat, hat es seine Beziehung zu den Menschen in Frage gestellt: Zweifellos sind die Wingkas, die Weissen, mit ihrer Todessehnsucht und den von ihnen mitgebrachten Tieren für das Aussterben der Chilliwekes verantwortlich, aber wie war das Zusammenleben der Chilliwekes mit den Mapuche? Gab es wirklich eine gleichberechtigte Zusammenarbeit? Wollten die Chilliweke wirklich schwere Dinge tragen, geschoren und geopfert werden? Oder die Histórica Relación: Das Buch, das Mitte des 17. Jahrhunderts von einem europäischen Jesuiten geschrieben wurde, um die Evangelisierung im Königreich Chiles voranzutreiben, war in der ersten Konferenz, an der es teilnahm, regelmässig verwirrt, da die Konzepte, mit denen es geschrieben wurde, nicht mit der von den anderen Wesen beschriebenen Realität übereinstimmten. „Kann ein Buch lernen und sich umschreiben?“, fragte sich die Histórica Relación im Laufe des Gesprächs. Auch La Pan, die Panamericana-Autobahn, hätte gerne gewusst, warum immer wieder auf ihr Dinge geschehen, von einer Gewalt, die ihr fremd ist, und warum der Gedanke, mit dem sie geschaffen wurde, nämlich der der Grenzenlosigkeit und Einigung der Völker, nicht realisiert wurde. Oder die Euca: Der Eukalyptus, der seinen Körper als Gegenstand und Verursacher des Konflikts beschrieb und gleichzeitig eine Nähe zu Forstarbeiter*innen, sprich zu denen, die sich sozial zuunterst befinden, und deswegen, so wie sie, als erste Fallen konstatierte. Euca beschrieb sich als jemand, die sich in jeder Verpackung, in jedem Kartonbecher und den Brettern des Theaterraumes befindet, ist doch ihr Körper der Rohstoff für die Gewinnung von Zellulose, von der Chile eines der weltweiten Hauptexporteure ist.
Diese Arbeit entstand durch eine intensive und enge Zusammenarbeit, die wir trotz und dank der Entfernung und Telekommunikation aufbauen konnten, durch das Wissen, das durch die beteiligten Personen zusammenkam, und durch das Vertrauen, das uns die Menschen im Wallmapu und in der Schweiz entgegenbrachten. Ich bin sehr glücklich, dieses Projekt realisiert zu haben. Vor allem, weil es uns gelungen ist, ein performatives, mediales und szenisches Erlebnis zu schaffen, in dem die verschiedenen Elemente und Ebenen so miteinander verknüpft sind, dass sie sich gegenseitig unterstützen und zu einem vertieften (ästhetischen, emotionalen und dialogischen) Verständnis führen können. Dieses kann nicht zuletzt als alternative Form der Wissensgenerierung und Vorschlag für eine neue Form des Verstehens gelesen werden, in der sich Fiktion(alisierung), persönliche Erfahrungen, politische Fakten, Geschichte und Haltung zu einer multiperspektivischen Auseinandersetzung mit einem Ort vermischen.
Literatur
Alvarado Lincopi, Claudio (2020): Una razón antropofágica para una constituyente plurinacional. De la nación blanqueada a la comunidad política abigarrada. In: Pairican Padilla, Fernando/Burgos Cartes, Rodrigo (Hg.), Wallmapu. Ensayos sobre plurinacionalidad y nueva constitución, Santiago, Centro de Estudios Interculturales e Indígenas/Pehuén Editores, S. 89–104.
Baeza Pailamilla, Paula (2020): Que no nos escriban la historia, Temuko, unveröffentlicht.
Benöhr, Jens (2017): Bosques de la tierra del Biobío. Flora nativa de la región, Hualpén, Trama Impresores/Organización Senderismo y Naturaleza Educación.
Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin, Akademie.
Resumen.cl (2014): Plantar Pobreza, el negocio forestal en Chile, Concepción, resumen.cl. https://resumen.cl/articulos/documental-plantar-pobreza-el-negocio-forestal-en-chile [Aufgerufen: 20.12.2021]
SRF (2019): Tilman Ligner, Kampf ums Land, Zürich, Schweizer Radio und Fernsehen. https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/schweizer-siedler-in-chile---der-konflikt-mit-den-mapuche-indianern-wem-gehoert-das-land?urn=urn:srf:video:febeebcd-7c5d-49a1-a151-033ebb384af4 [Aufgerufen: 20.12.2021]
Trop cher to share (2019): Aldir Polymeris, Nina Willimann, Araucanía in situ (Eingabe zur Unterstützung von Kulturprojekten), 2019, unveröffentlicht.
Trop cher to share (2020a): Aldir Polymeris, Nina Willimann, Mitschnitt der Performance/Präsentation von der Recherchereise zu Araucanía in Situ, 8. Februar 2020, Bern, unveröffentlicht.
Trop cher to share (2020b): Aldir Polymeris, Nina Willimann, Wallmapu ex situ (Eingabe zur Unterstützung von Kulturprojekten), 2020, unveröffentlicht.