What colour is God?
Abstract:
Die Vollständigkeit der Wahrnehmung von Kunst, sind wir einmal ehrlich, passiert in der fragenden Haltung. Fragend suche ich. Nach vielen Jahren der vermittlungskuratorischen Arbeit skizziert Julia Schäfer den kontinuierlichen Weg ihres Befragens von und mit Kunst bzw. von und mit den Besucher:innen. Hier tauchen Fragen als Legitimationsmoment in der Begegnung mit Kunst auf. Fragen schaffen Anlässe, Sie fragt nach dem Motoreneffekt des Fragens, sie fragt, ob Kunstwerke verkleidete Fragen sind? In ihrem entwickelten Ansatz der Vermittlung als kuratorischer Praxis formt sie einen inklusiven Kunstbegriff, der sinnstiftend mehr außerhalb der Museen und folglich mehr im Leben zu suchen ist. Haben wir mehr vom Leben, wenn wir spinnen und können Pflanzen gute Schüler:innen sein? Der Text stellt Projekte der letzten 20 Jahre vor. Er zeigt, dass es kontinuierlich mit den Fragen beginnt und auch endet.
Abb. 0: John Baldessari, Teaching a Plant the Alphabet, 1972, single-channel video, black and white, sound; 18:40 minutes, © 1972 John Baldessari. Courtesy Electronic Arts Intermix, NY

Wo ist die Zeitung hin? Ganz sicher habe ich sie aufgehoben. 2002 fiel sie mir in die Hand. Wo? Das weiß ich nicht mehr. Es ist zu lange her. Ich habe diese Zeitung des BALTIC - Center for Contemporary Art aus Gateshead all die Jahre aufgehoben, das weiß ich ganz genau. Sie kann nicht weg sein. Kennen Sie das Gefühl? Klar, jede*r kennt es. Das Gefühl, etwas verzweifelt zu suchen, wissend, dass es da ist und nicht aufzugeben, bis man es gefunden hat? Mir geht das so mit Dingen, aber auch mit Erinnerungen. Durch viele Wiederholungen und langes Suchen werde ich fündig. Eigentlich immer.

Ich finde sie in einem Karton, den ich seit einem Jahr unberührt in meiner Wohnung stehen habe. Ein Jahr, nachdem ich das Museum, in dem ich zwanzig Jahre gearbeitet habe, verlassen hatte. Dazu gibt es lauter Fragen: Warum gehst Du von der GfZK weg? Was tust Du jetzt? Warum in die Schule? Wie fühlt es sich an?

Die Zeitung, die ich dann eben doch und zum Glück gefunden habe, fühlt sich steif und hölzern an. Sie ist vergilbt. Aber lesen kann man sie noch. Ich habe sie aufgehoben, da die Zeitung eine riesige Ansammlung von Fragen ist. Große und kleine Fragen. Fragen, die brainstormingartig synchron im Gehirn laufen können ohne je eine Antwort zu finden: „How far are the stars? What are baths made for? Are things still there when it's dark? How do you know anything? Where does the snow go? What colour is God?“ (BALTIC No.15, 2002, o.S.)

Abb. 1: BALTIC - Center for Contemporary Art aus Gateshead, 2002, Foto: Julia Schäfer

Die Fragen, die hier stehen, gleichen denen aus der Frageninstallation der beiden Künstler Peter Fischli und David Weiss extrem. 2003 haben sie in "Findet mich das Glück" ihre großen und kleinen Fragen gebündelt einer breiten Masse in einem kleinen schwarz-weißen Buch zugänglich gemacht. Natürlich besitze ich das Buch. Es ist herrlich und eines der entlarvendsten Werkzeuge, wenn es um Kunstvermittlung geht. Alles ist erlaubt. Nichts kann nicht gefragt werden. Je mehr Fragen, desto besser.

Auf der Rückseite der Zeitung BALTIC steht: “Art can be a way of provocing questions, encouraging us to consider our place in the world. BALTIC will often pose questions rather than providing answers. The questions collected here are the result of a project led by publisher in residence Alec Finlay that forms part of BALTIC's pre-opening programme, B4B.” (BALTIC No.15, 2002, o.S.)

Wie kann ich mich Kunst nähern?

2004 eröffnete der Neubau der Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Ich kuratierte eine der beiden Eröffnungsausstellungen des vieleckigen sehr transparenten Gebäudes, das selbst versuchte, eine Antwort auf die Frage zu sein, wie eine zeitgemäße Architektur für eine zeitgenössische Kunst aussehen kann, die nicht vor-definiert, vor-gibt und festlegt, sondern selbst Fragen zu produzieren in der Lage sein könnte, die die eigene Position, von der auch bei BALTIC zu  lesen ist, hinterfragen ließe. Die Eröffnungsausstellung hieß Der zweite Blick und zeigte künstlerische Arbeiten, die sich mit der Rezeption von Kunst auseinandersetzten.

In der Vermittlung von Kunst begegnen wir ständig Fragen. Zunächst den eigenen Fragen an das Kunstwerk und dann natürlich den Fragen der Besucher*innen. Zusammen mit der Grafikerin Annalena von Helldorff entwickelte ich für Der zweite Blick eine Vermittlungscard, die in wenigen Schritten den Zugang zur Arbeit über einfache Fragen vereinfachen sollte. Alleine. Auch ohne Vermittler*innen. Ohne Text. Nur, indem man sich selbst die Fragen stellte und versuchen konnte, so dem Kunstwerk näher zu kommen.

  1. Halten Sie sich vor mindestens einem Kunstwerk länger als drei Minuten auf.
  2. Erinnert es mich an etwas, das ich schon kenne?
  3. Welche Bedeutungen hat das Kunstwerk?
  4. Was hat das mit mir zu tun?
  5. In welchem gesellschaftlichen Umfeld steht das Kunstwerk?
Abb. 2: Schäfer/von Helldorff, Vermittlungscard, 2004
Abb. 3: Schäfer/von Helldorff, Vermittlungscard, 2004

Die Karte, die die Größe einer Scheckkarte hatte, bekamen Besucher*innen zusammen mit dem Eintrittsticket am Eingang zur Ausstellung. Sie war übertragbar auf andere Ausstellungen und funktioniert bis heute.

Was war davor?

Fragen schaffen Anlässe! Nachdem meine Großmutter gestorben war, fanden wir ein Reisetagebuch, welches sie zusammen mit drei anderen Freund*innen Anfang der 1930er Jahre geschrieben hatte. Die Frage nach dem Leben meiner Großmutter nahm ich zum Anlass, die Ausstellung As in real life im P74 in Ljubljana zu entwickeln. Besucher*innen mussten, um in die Ausstellung zu kommen, zunächst durch das Treppenhaus eines Schulgebäudes gehen. Ich nutzte Fragen, um sie an die Hand zu nehmen und gleichzeitig auf das Thema einzustimmen. Die Fragen wurden so auch von den Schüler*innen gelesen, die täglich dort ein- und ausgingen und auf die Art auch eingebunden wurden, wenn sie Fragen lesen konnten wie: Habe ich etwas von meinen Großeltern gelernt? Was ist es? Was haben sie gemacht, bevor es mich gab? Bin ich ihnen ähnlich? An was erinnere ich mich am meisten, wenn ich an sie denke?

Abb. 4: Janna Hanser, Ein kleines Auto und ein großes Land, 1935, Foto: Julia Schäfer 
Abb. 5: Wie im richtigen Leben, P74, Ljubljana 2007, Foto: Julia Schäfer
Abb. 6: Wie im richtigen Leben, P74, Ljubljana 2007, Foto: Julia Schäfer

Gibt es einen richtigen und einen falschen Kunstbegriff?

In Kunst-Kunst. Von hier aus betrachtet! habe ich 2012 zusammen mit dem Vermittlungsteam Fragen im ganzen Haus der GfZK installiert, die Besucher*innen mit dem Thema ihres ganz persönlichen Kunstgeschmacks konfrontierten: Welchen Stellenwert hat für Sie Kunst? Welche Kunst stößt Sie ab? Welche Kunst hat Sie tief beeindruckt? Welches Kunstwerk hat Sie verändert? Die Ausstellung war ein flexibles System aus Präsentationen verschiedener Leipziger Kunsträume. Die Frage der Ausstellung war: Welche Haltung repräsentiert welchen Kunstraum? Wie unterscheidet sich der Umgang mit der Kunst, auch wenn zum Teil gleiche Künstler*innen gezeigt werden, der Umgang jedoch komplett anders ausfällt? Was ist ein Kunstbegriff und wie können die Kunsträume sich gegenseitig ergänzen und bereichern? Ich selbst installierte mein Büro im Parcours der Ausstellung und stand für Fragen bereit.

Abb. 7: Kunst-Kunst. Von hier aus betrachtet. GfZK 2012, Foto: Sebastian Schröder
Abb. 8: Kunst-Kunst. Von hier aus betrachtet. GfZK 2012, Foto: Sebastian Schröder

Wie lernen wir?

2014 kuratierte ich zusammen mit der Kunstvermittlerin Daniela Bystron (Curator of Outreach am Brücke-Museum Berlin) im Neubau der GfZK die Ausstellung Was das Ich von selbst erfährt - Lernen in Eigenregie. Es ging um den Moment des Autodidaktischen in der Kunst. Selbsterlerntes, Eigenerarbeitetes oder auch andere Wege des Erlernens. Wir zeigten u.a. John Baldessaris grandiosen Film Teaching a plant the Alphabet, in der der Künstler einer Zimmerpflanze mit aller Geduld das Alphabet beizubringen versuchte, indem er sehr klar und deutlich jeden einzelnen Buchstaben vor die Pflanze hielt und „A-A-A“ sagte usw. 

Oder Christian Jankowskis Dienstbesprechung, die zeigte, wie an der Kunsthalle in Stuttgart die Belegschaft für eine kurze Weile untereinander ihre Jobs tauschte. In dieser Ausstellung installierten wir ebenfalls die Diafrageninstallation von Peter Fischli und David Weiss. Für die gesamte Ausstellung hielten wir keine erklärenden Texte zu den Arbeiten bereit. Wir stellten Blöcke mit den Titeln der Arbeiten zur Verfügung, auf denen Besucher*innen eingeladen waren, ihre Kommentare zu hinterlassen. So entstanden eine Menge neuer Fragen in der Fortsetzung jeder einzelnen Arbeit.

Abb. 9: Peter Fischli/David Weiss, Findet mich das Glück?, Diainstallation 2003, hier: Ausstellungsansicht GfZK, Was das Ich von selbst erfährt. Lernen in Eigenregie. 2014, Foto: Sebsatian Schröder
Abb. 10: John Baldessari, Teaching a Plant the Alphabeth, 1972, hier: Ausstellungsansicht GfZK, Was das Ich von selbst erfährt. Lernen in Eigenregie. 2014, Foto: Sebsatian Schröder
Abb. 11: Vermittlungsprojekt zur Ausstellung: Was das Ich von selbst erfährt. Lernen in Eigenregie. GfZK 2014, Foto: Sebsatian Schröder

Sind Fragen Motoren?

Fragen sind Motoren. Sie kurbeln das Denken an, sie leiten uns an Orte, die wir nicht kannten. Indem wir Fragen stellen, beschreiben wir Standpunkte. In der Kunstvermittlung sind Fragen ganz wichtige Bindeglieder und Köder, Trailer in der ersten Begegnung mit einer zunächst ggf. schwer zugänglichen Kunst. Die Fragen richten sich an die Besucher*innen selbst. Sie können die erste Kugel im Billardspiel sein. Die, die etwas ins Rollen bringt.

Sind Kunstwerke Fragen in einem anderen Zustand?

Kunstwerke sind auch Fragen. Fragen zum Anfassen. Fragen, die uns in Erinnerung bleiben, die zu uns sprechen, weil sie irritieren - ganz gemäß meinem Lieblingszitat von Dominique Gonzalez-Foerster, die sagte: "Irritation is a great tool to generate stronger memories." (Gonzales-Foerster, 2017, 04.01.2023)  Schauen wir auf die Zeichnung des französischen Zeichners Sempé, stellen wir fest, dass die Phasen des Überlegens am Ende des Ausstellungsbesuchs noch lange nachwirkende Fragen sind, die die Person mit nach Hause genommen hat. Konsumieren wir so Kunst und lassen solche nachwirkenden Fragen zu, gewinnen wir durch Kunst Erfahrungen in der Sicht auf unsere Welt.  

Abb. 12: Jean-Jacques Sempé: Sempé's Konsumenten (1986), © 1986 Diogenes Verlag AG Zürich.
Abb. 13: Jean-Jacques Sempé: Sempé's Konsumenten (1986), © 1986 Diogenes Verlag AG Zürich.

Was heißt das für mich? Und was ist ein inklusiver Kunstbegriff?

Dieses Rezept, wenn es denn eines ist, ist für mich Motor, um nach 20 Jahren vermittlungskuratorischer Arbeit in die Schule zu gehen. Hier ist der Ort, an dem diese Fragen Weichen stellen können. Warum kommen nicht mehr Menschen zur Kunst? Eine Antwort könnte sein: Ich denke, es kommen wenige, da viele nicht erfahren haben, was Kunst sein kann. Sie nicht lernen, dass Kunst ein Mittel sein kann, die Welt zu erfahren und zu sehen und vor allem ein Weg sein kann, sie neu und anders zu sehen. Kunst kann Welten öffnen. Die Kunstvermittlung versucht vor Ort, in Museen, solche Öffnungen zu ermöglichen. Es braucht meines Erachtens jedoch noch eine Schaltstelle davor. Eine, die den Weg hin zur Kunst überhaupt ebnet. Wie dies eben Schulen können.

Mich interessieren derweil die außermusealen Räume mehr, die Räume im realen Leben. Auch das Wirken von Kunst außerhalb des Museums, wenn sie eingebunden und aktiv ist, unfertig und nicht abgestellt, wenn sie dort wirkt, wo sie ihren Prozess formt. Mehr MACHEN, denke ich. Früher, so meine Erfahrung, kam die Kunstvermittlung als Retterin und Übersetzerin dann ins Spiel, wenn zu viele unbeantwortete Fragen Besucher*innen alleine mit der Kunst zurückliessen. Fragen der Kunstvermittlung können dann wieder verbinden und vermitteln, sie können lenken. Nun mag ich mit Fragen ins Leben ziehen und da ansetzen, wo neue Denkprozesse wichtig sind und werden. Ich mag den künstlerischen Prozess des Hinterfragens ins Lehren und Leben integrieren. Inklusiver sein mag ich. Ich mag fragen, was interessiert Dich? Wofür brennst Du? Ich mag gerade Wege in der Schule unterbrechen. Ich mag ein verrückter Navi sein.

Meine von mir bereits häufig zitierte Kunstlehrerin gab uns mit auf den Weg, dass wer spinnt, mehr vom Leben habe. Ja. Was meinte sie damit? Das habe ich mich immer wieder gefragt und es nach Jahren eigener Wege und Erfahrungen verstanden. Menschen, die spinnen, so meinte sie es, blicken anders. Sie gehen keine immer logischen Wege. Sie hinterfragen an den richtigen Stellen. Sie fragen und wissen: Es gibt viele Antworten, wie Wege, die wir alle beschreiten können und könnten. Wer Fragen stellt, zeigt Mut, abzuweichen, und wenig für gegeben zu nehmen. Wer Fragen stellt, lässt viele Antworten zu.

Und, ... was haben Sie sich für Fragen gestellt, als Sie das erste Mal, ganz nach Baldessari, die Pflanze als Schülerin das Alphabet lernend gesehen haben?

Kurzbiografien der Autor_innen: