Schlagwörter: Beurteilen, Gemeinschaft, Individualisierung, Kunstunterricht, Urteilen
Auftakt
Schulischer Kunstunterricht ist eine höchst individualisierende Angelegenheit: Schüler*innen werden in der Kunstpädagogik traditionell (vgl. z.B.: Götze 1966; Lange 1966; Read 1958) wie auch aktuell (vgl. z.B.: Kirchner/Kirschenmann 2024; Buschkühle 2017; Peez 2005) als Individuen betrachtet, deren Individualität gerade mit Blick auf die Ausbildung einer gestaltenden, kreativen, ja, künstlerischen Persönlichkeit unterstützt werden soll: „Ästhetisch arbeiten kann man nur mit ästhetischen Subjekten und als ästhetisches Subjekt. An dem Satz kann ich mich festhalten.“ (Selle 2004: 32f.) Entsprechend dieser Fokussierung ist es kaum überraschend, dass gängige Praktiken der Beurteilung im Kunstunterricht besonders auf die differenzierte Hervorhebung persönlicher (Un‑)Fähigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten achten: Diese können etwa durch die Anwendung von Urteilskriterien (vgl. Leese 2015), Portfolioarbeit (vgl. Junge 2015), Arbeitsjournale oder Skizzenbücher diagnostiziert werden. Die Förderung der Selbstwirksamkeit von Schüler*innen spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle (vgl. z.B. Penzel 2019). Ebenso findet der prozesshafte Charakter des Beurteilens Erwähnung (vgl. Lindström 2008). Was aber in den Diskussionen vielfach keine Beachtung findet, ist das Ausloten des Potenzials von Beurteilungen für eine Stärkung nicht der Einzelnen, sondern des ‚Zusammen‘, der schulischen Gemeinschaft.
Der Gedanke, dass Beurteilungen Gemeinschaft in der Klasse fördern könnten, mag zunächst befremden, gilt das Beurteilen doch gemeinhin als eine Praxis, die Unterschiede benennt und damit Konkurrenzen einführt. Letztlich bietet die Notwendigkeit der Beurteilung den Nährboden für das Differenzieren von exzellenten, guten, mittelmässigen und schlechten Schüler*innen und wird mit Blick auf die inhärenten Normierungsbestrebungen (Stichwort Standardisierung) im kunstpädagogischen Diskurs daher durchaus problematisiert (vgl. z.B. Otto 1972/2008). Interessant ist, dass das Einfordern von weniger Standards eng an das Unterstreichen der Wichtigkeit von Individualisierung gekoppelt scheint (vgl. ebd.).
Doch Beurteilungen können nicht nur als Mittel des Einführens von Unterscheidungen vollzogen werden und müssen zudem nicht zwangsläufig auf Standardisierungen hinauslaufen, sondern können als Urteile im starken Sinne Gemeinschaftlichkeit fördern. Mit Urteilen im starken Sinne meine ich auf Kommunikation zielende Akte, die auf den Austausch zwischen mindestens zwei, im Idealfall aber mehreren Personen angewiesen sind, um eine Verständigung über den beurteilten Sachverhalt zu ermöglichen. Beurteilen als kommunikativer, interaktiver Prozess des Findens, Formulierens, Teilens und Revidierens von Ansichten mit dem Ziel des Fällens eines geteilten Urteils kann, so die These meines Beitrags, den Fokus von schulischem Kunstunterricht verschieben: Dieser andere Fokus vergisst die Notwendigkeit der Befähigung zur Vergemeinschaftung nicht, betont diese als Beitrag zu einer auch politischen Bildung und stellt sie gleichberechtigt neben die Individualisierung und die Furcht vor Standardisierung.
Um den skizzierten Bogen von der Beurteilung zum Urteilen zu spannen, werde ich im Folgenden zunächst eine empirische Fallstudie vorstellen. Die Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Schüler*innen der Sekundarstufe II zeigen, dass Schüler*innen Beurteilungen im Kunstunterricht selten als kommunikativen Austausch wahrnehmen, gleichzeitig aber durchaus Potenzial im urteilenden Verständigungsprozess vor allem über eigene Arbeiten sehen. Ich zitiere im Folgenden aus den Transkripten der Einzelinterviews und Gruppendiskussionen, die an der Universität Mozarteum archiviert und im Sinne der Anonymisierung mittels interner Codes zuordenbar zu den Rohdaten sind. Diese Transkripte sind aus Gründen des Personen- und Datenschutzes nicht öffentlich zugänglich, können aber zur Nachvollziehbarkeit der wissenschaftlichen Redlichkeit nach Anfrage bei der Autorin eingesehen werden. Basierend auf den empirischen Erkenntnissen werde ich die beschriebenen Akte als Beurteilen und Urteilen konzeptuell voneinander abgrenzen, um Urteilen und Beurteilungen danach näher zusammenzurücken. Kommunikative Formen der Beurteilung als bewusst vollzogener gemeinschaftlicher Diskurs können, so meine These, zu wachsender Gemeinschaftlichkeit im Klassenzimmer beitragen.
Von Fremdbeurteilungen über Selbstbeurteilung zum Urteilen als sich verständigende Praxis
Im Wintersemester 2024/2025 habe ich als Leiterin eines Masterkurses im Rahmen des Lehramtsstudiums Bildnerische Erziehung an der Universität Mozarteum Salzburg die Beschäftigung mit dem Thema (Be‑)Urteilen im Kunstunterricht vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde von den Studierenden mit viel Interesse aufgenommen, auch, weil das fachspezifische Beurteilen für einige von ihnen, die bereits im institutionalisierten Lehrbetrieb unterrichten, eine grosse, reale Herausforderung darstellt. Dass das Beurteilen in Kunst und Gestaltung sich von anderen Unterrichtsgegenständen unterscheidet, finden auch Schüler*innen, wie wir in der im Zuge des Kurses durchgeführten Studie feststellten. Um möglichst gehaltvolle Erkenntnisse über die Schüler*innenperspektive zu bekommen, haben wir uns dazu entschieden, zwei miteinander verknüpfte Forschungswege einzuschlagen: Wir haben einerseits leitfadengestützte Einzelinterviews und andererseits Gruppendiskussionen durchgeführt. Die Idee hinter dieser Parallelisierung war, dass mit den Einzelinterviews Daten generiert werden, die uns einen vertieften Einblick in persönliche Erfahrungen geben, und dass komplementär dazu mit den Gruppendiskussionen eher Erkenntnisse über geteilte und nicht geteilte Perspektiven der Schüler*innen auf das Thema Beurteilung in Kunst und Gestaltung greifbar werden. Insgesamt wurden sechs Einzelinterviews und zwei Gruppendiskussionen an zwei unterschiedlichen Regelschulen durchgeführt. Die teilnehmenden Schüler*innen besuchten zum Zeitpunkt der Erhebung die 11. bzw. 12. Schulstufe allgemeinbildender höherer Schulen. In den Auswertungen, die wir sowohl in Gruppen- als auch in Einzelprozessen vorgenommen haben, hat sich gezeigt, dass es viele sich überschneidende Wahrnehmungen von und Erfahrungen mit Beurteilung im Kunstunterricht der befragten Schüler*innen gibt. Es wurde aber auch deutlich, dass es einige Vorstellungen über alternative Formen des Sprechens vor allem über eigene Arbeiten gibt, die zum Nachdenken über Revisionen von den so erlebten fachspezifischen Beurteilungspraktiken Anlass geben können. Es handelt sich um zwei Fälle, die keinen Aufschluss über eine generelle Beurteilungspraxis im Kunstunterricht geben, die jedoch die exemplarische Wahrnehmung der Schüler*innen als wichtigen Impuls für die Entwicklung der fachlichen Beurteilungspraxis analysierbar machen.
Fachspezifisches Beurteilen im Kunstunterricht
Um ausdrücken zu können, wodurch sich Beurteilungen im Kunstunterricht auszeichnen, ist für viele der befragten Schüler*innen die Differenz zu anderen Unterrichtsgegenständen zentral. Dass es in Kunst und Gestaltung anders funktioniert mit dem Beurteilen als in Deutsch oder Mathematik wird dabei fraglos akzeptiert. Die Schüler*innen können nicht klar benennen, was im Kunstunterricht tatsächlich beurteilt wird (vgl. z.B. MEI 2: 00:01:26). Obwohl die Schüler*innen beschreiben, dass sie nicht genau wüssten, wie sich Beurteilungen im Detail zusammensetzen, herrscht eine hohe Akzeptanz für die erhaltenen Beurteilungen. Diese wird damit begründet, dass die Lehrperson die Kompetenz zur Beurteilung besitzt. Beurteilung wird als ein Resultat am Ende eines Prozesses erfahren, der aus Schüler*innensicht zum Zeitpunkt der Übermittlung abgeschlossen und sozusagen aus der Hand gegeben ist. Die erfahrene Praxis der Beurteilung wird nicht erlebt als ein Anstossen eines womöglich vertieften Prozesses der Auseinandersetzung, geschweige denn eines kommunikativen Austauschs.
Fremdbeurteilung
Wenn es um unterschiedliche Formen der Beurteilung im Kunstunterricht geht, steht die Fremdbeurteilung durch die Lehrperson an erster Stelle. Im Falle von Unverständnis wird kaum ein weiterer kommunikativer Austausch über die erfolgte Beurteilung eingefordert. Daraus kann geschlossen werden, dass die Beurteilung von den Schüler*innen mit der Mitteilung bereits als abgeschlossen betrachtet wird.
Die Schüler*innen verweisen zudem auf Fremdbeurteilungen unter Peers, die sowohl im Eins-zu-Eins-Austausch als auch in grösseren Gruppen stattfinden können. Interessant sind hier die Tendenzen zur Vereinheitlichung, wenn letztlich Bewertungen den Horizont bilden: Die Beurteilungen untereinander seien eigentlich immer gut, wenn im Zuge des Austauschs auch bewertet wird. Denn: „wenn wir in so einer Gruppe bewerten, dann findet sich immer was Positives“ (GD 1, Z. 158). Über diese Betonung eines fürsorglichen Umgangs miteinander bestätigt sich in den Ausführungen indirekt, was sich mit Blick auf die Beurteilung durch die Lehrperson bereits gezeigt hat: Beurteilungen werden in dem Moment, wenn sie mit Bewertungen gekoppelt sind, als systemisches Instrument beschrieben, das für die Schüler*innen kaum mit kommunikativem Austausch in Verbindung gebracht wird. Beurteilungen stellen für sie Abschlüsse dar von Prozessen, die danach nicht weitergeführt werden.
Dort, wo Prozesse aus Sicht der Schüler*innen noch nicht abgeschlossen sind, wird nicht von Beurteilung, sondern z.B. von Feedback oder Hilfe gesprochen: „dass man sich gegenseitig hilft, also das ist dann, glaube ich, nicht so Beurteilung, oder so“ (JEI 1, 00:03:13). Spannend ist hier, dass ein solches Feedback oder Hilfe, auch von der Lehrperson, nur gewünscht ist, wenn ausdrücklich erbeten. Das Feedback- oder Hilfegesuch wird als eine Strategie des Problemlösens betrachtet, nicht aber als eine Form des Austauschs. Sowohl das Beurteilen als auch das Feedback werden sehr stark mit praktischen Arbeiten in Verbindung gebracht. Die Rollen und Funktionen der Beurteilungen erweisen sich als sehr unterschiedlich: Es gibt die Funktion der Unterstützer*innen, die beim ‚Überleben‘ im System an der Seite stehen; es gibt daneben die klar benannte Rolle von Expert*innen, zu denen auch die Lehrperson gezählt wird. Neben ihr stehen Peers, denen nicht weniger Kompetenz zugesprochen wird, auf deren Urteil mitunter sogar mehr Wert gelegt wird als auf das der Lehrperson. Hierin deutet sich bereits an, dass kommunikative Urteile für die Schüler*innen möglicherweise höheres Potenzial haben als Beurteilungen, welche letztlich in eine Bewertung münden.
Selbstbeurteilung und sich Verständigen in und durch Urteilen
Fremdbeurteilungen zeigen sich in den Erfahrungen der Schüler*innen eng mit Selbstbeurteilungen verschränkt, auch wenn Selbstbeurteilungen bei niemandem der Befragten Teil einer dezidierten Beurteilungspraxis im Kunstunterricht sind. Obwohl betont wird, dass Beurteilungen von der Lehrperson oft hingenommen werden, stossen Fremdbeurteilungen doch mitunter einen Reflexionsprozess an, der zur selbstinduzierten Selbstbeurteilung führen kann. Im Gegenzug können aber auch Selbstbeurteilungsprozesse, die als fluider und vielschichtiger beschrieben werden als Fremdbeurteilungen, das Bedürfnis nach einer Bestätigung des eigenen Urteils durch weitere Personen hervorrufen. In beiden Verschränkungen, sowohl in der von der Fremdbeurteilung ausgehenden Selbstbeurteilung als auch in der von der Selbstbeurteilung ausgehenden Fremdbeurteilung, zeigt sich meines Erachtens ein vielleicht bisweilen kaum realisiertes Potenzial von Beurteilungen im Kunstunterricht: nämlich jenes, in einen sich öffnenden Prozess des kommunikativen Austauschs über eine (praktische) Arbeit zu gehen. In einem solchen Prozess kann, so meine These, das Versammeln unterschiedlicher Perspektiven danach verlangen, dass eine gemeinschaftliche Sicht auf die Arbeit hergestellt wird. Dieser Aspekt allerdings ist für die Schüler*innen nicht greifbar, da – vermutlich motiviert durch den systemischen Zwang des individuellen Beurteilens – das Verbessern der eigenen Praxis derart im Vordergrund steht, dass das Sich-Austauschen nicht thematisiert wird.
Beurteilen und Urteilen zwischen Individuum und Gemeinschaft im Kunstunterricht
Trotz dieses Potenzials zeigt sich in der Studie sehr deutlich, dass Schüler*innen innerhalb des Systems Schule Beurteilung nicht als kommunikativen Austausch erfahren: Es wird immer wieder erkennbar, dass Beurteilen grösstenteils mit der Bewertung gleichgesetzt und somit als ein endgültiges und rigides Instrument der individuellen Feststellung begriffen wird. Die systemische Notwendigkeit des Bewertens scheint so tief verankert im Bewusstsein der Schüler*innen, dass sie dieses in keinem der Gespräche infrage stellen. Der systemische Zwang, der die beurteilten Individuen zu einer starken, so erfahrenen Gemeinschaft macht, führt zur Entwicklung von Coping Strategies wie die Fremdbeurteilung durch Peers, die letztlich aber ebenso wie die Beurteilungen durch die Lehrperson nicht als kommunikationsfördernd beschrieben werden.
Neben dem Zwang und der erfahrenen Selbstzweckmässigkeit deuten sich alternative Praktiken des urteilenden Austauschs in den Erfahrungen der Schüler*innen an. Interessanterweise bezeichnen sie selbst diese kaum als Beurteilungen. Hier werden Formen des kommunikativen Austauschs angedeutet, die durchaus als Verständigungen im Prozess aufgefasst werden können. Kaum verwunderlich aber kreisen diese Austauschprozesse sehr um individuelle Bemühungen des Sich-Verbesserns, weswegen betont wird, dass sie auch selbstinduziert sein müssen und daher kaum das Interesse an der Verflechtung gemeinschaftlicher Perspektiven gegeben ist.
Sowohl die Beurteilung individueller Leistungen als auch der urteilende Austausch zum Zweck der individuellen Verbesserung deuten darauf hin, dass der Kunstunterricht möglicherweise ein ‚Individualisierungsproblem‘ hat. Damit soll nicht gesagt sein, dass Individualisierung per se als Problem angesehen wird, sondern dass sie zum Problem wird, wenn das im schulischen Kontext so zentrale Thema der Gemeinschaft radikal zurückgedrängt wird. Dieses hier am spezifischen Fall greifbar werdende Individualisierungsproblem zeigt sich insbesondere mit Blick auf den Diskurs: Die deutschsprachige Kunstpädagogik ist als den Kunstunterricht fundierende Disziplin von der europäischen Ästhetik geprägt, die seit dem 18. Jahrhundert das Individuum sowohl mit Blick auf ästhetische Produktions- In der westlichen Ästhetik gibt es vermehrt ab dem 18. Jahrhundert Debatten über den Künstler (wohlgemerkt in männlicher Form) als ein Genie, das autonom gestaltet und entweder von Geburt an genial ist oder durch die Einwirkung höherer Mächte genial sein kann (Inspiration) (vgl. Dubos 1748; Kant 1790/2001). Mit Blick auf künstlerische Praktiken haben seit den 1960er-Jahren Initiativen zu einem über ein Individuum hinausgehenden oder kollektiven Schaffen zugenommen (vgl. Asavei 2014), möglicherweise als Reaktion auf die grundsätzliche Krise, auf die die Avantgarden dieser Zeit reagierten (vgl. Charnley 2021). In den letzten Jahrzehnten kündigt sich auch im westlichen Denken mehr und mehr eine grundsätzliche Skepsis am autonomen Künstler*innensubjekt an, die möglicherweise mit dem steigenden Interesse an künstlerischen Positionen aus dem Globalen Süden zusammenhängt. Vor allem mit Blick auf die documenta 15 zeigt sich, dass die Bewegungen der Entindividualisierung mitunter hitzige Debatten über Verantwortung auslösen. wie auch Rezeptionsprozesse Im 18. Jahrhundert wird stark auf die Subjektivität der ästhetischen Auseinandersetzung fokussiert, wenn über ästhetische Erfahrung gesprochen wird (vgl. Baumgarten 1750/58/1988; Hutcheson 1725/2004; Schiller 1795/2009), während gleichzeitig intensiv über die intersubjektive Gültigkeit eines vermeintlich subjektiven ästhetischen Urteils debattiert wird (vgl. Hume 1757/1985; Kant 1750/2001; Home 1762/2005). als nahezu alleinstehende Akteur*innen hervorhebt: Während ästhetische Artefakte vor allem in künstlerischen Settings lange Zeit als autonom hervorgebracht angesehen werden, gilt dasselbe für ästhetische Erfahrungen, die nicht nur solitär vollzogen werden, sondern sich noch dazu durch ihre Selbstbezüglichkeit auszeichnen (vgl. Bubner 1989; Iseminger 2006; Seel 2007; Menke 2008). Im ästhetischen Diskurs wird auch das Urteilen bisweilen als individualisiert beschrieben (vgl. Mothersill 1984; Budd 2001; Sibley 2001). Gerade im Bereich der analytischen Philosophie gibt es eine breite Diskussion über ästhetische Urteile und Werte. Während manche Autor*innen die Breite ästhetischer Urteile betonen, indem sie auf die Beziehungen zwischen Ästhetik und Ethik eingehen (vgl. Schmalzried 2014), zeigen sich viele Denker*innen als Anhänger*innen einflussreicher hedonistischer Theorien ästhetischer Werte und der Schönheit, wobei die individuell empfundene Lust als Massstab für die Zuschreibung von ästhetischen Werten teilweise gesetzt scheint (so zentral etwa bei Mothersill 1984). In deren Diskurs wird explizit betont, dass „one has to judge for oneself“ (vgl. Sibley 2001: 107f.). In den neuesten Debatten werden Positionen argumentiert wie die von McIver Lopez (2018), dass ästhetische Werte nicht ausschliesslich auf dem Empfinden von Lust basieren. Hier werden die gemeinschaftlichen Akte in sozialen Netzen betont, die als unabkömmlich für das Verstehen von ästhetischen Phänomenen begriffen werden.
In kritischer Bezugnahme auf dieses diskursive Erbe möchte ich ein alternatives Verständnis ästhetischen Urteilens einführen, welches dazu geeignet ist, auf das diagnostizierte Individualisierungsproblem zu reagieren. Hannah Arendt hat in einer kurzen, aber sehr einschlägigen Auseinandersetzung mit dem vermeintlich selbstbezüglich angelegten Konzept des ästhetischen Urteilens bei Immanuel Kant (vgl. Kant 1790/2001, v.a. B 1 und B 9) angeregt, darüber nachzudenken, was denn der Geltungsanspruch bedeutet, dass ein von mir gefälltes ästhetisches Urteil für alle gelten muss (vgl. Arendt1961/2012: 299). Für Arendt ist klar, dass dieser Geltungsanspruch mit einer radikalen Selbstbezüglichkeit nicht vereinbar ist; im Gegenteil deutet er darauf hin, dass die urteilende Person sich mit den Perspektiven anderer auseinandersetzen muss, und sei es ‚nur‘ in der eigenen Vorstellung. Diese Auseinandersetzung meint einen aktiven Austausch, bevor überhaupt ein Urteil gefällt werden kann, das den Namen ‚Urteil‘ verdient. Es handelt sich um einen politischen Prozess, da es darum geht, sich selbst als Urteilende*r in der Gemeinschaft der Urteilenden zu positionieren, Position zu beziehen, und das mit guten Gründen, d.h. auf Basis einer Auseinandersetzung mit anderen – realen und möglichen – Blickpunkten. Arendt betont, dass Kant den vermeintlich ‚privaten‘ Bereich des Ästhetischen hier mit dem Öffentlichen, dem Politischen, wenn auch vielleicht subtil, zusammenbringt: „Das Urteil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt, aber es beruft sich gleichzeitig darauf, daß diese Welt, in der jeder einen nur ihm eigenen Standort hat, eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist. Im Geschmacksurteil entscheidet sich, wie die Welt qua Welt, unabhängig von ihrer Nützlichkeit und unseren Daseinsinteressen in ihr, aussehen und ertönen, wie sie sich ansehen und anhören soll.“ (Ebd.: 300) Durch die Betonung, dass der eigene Standpunkt in der Welt die Individualität jeder Person ausmacht, dass er aber in einer gemeinsamen, mit anderen geteilten Welt ist, gibt Arendt ein konzeptuelles Rüstzeug in die Hand, um Urteilsprozesse als genuin kommunikative, auf andere angewiesene und eben nicht im Alleingang zu vollziehende Prozesse zu begreifen. Wenn geurteilt wird, geht es nicht ‚bloss‘ um die jeweilige Arbeit oder meinen persönlichen Entwicklungsstand; es geht auch darum, wie sich die beurteilte Arbeit in einer ästhetischen, einer visuellen und auditiven, einer erfahrbaren Welt verorten lässt. Damit darüber überhaupt geurteilt werden kann, reicht mein einzelner Blick nicht aus, und es reicht auch nicht der Blick von zweien. Es braucht gemeinschaftlichen Austausch und die dadurch peu à peu entstehende Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, sodass ein solches Urteil vielleicht irgendwann auch im Alleingang gefällt werden kann. Dieser ist dann allerdings nur vermeintlich, wie Arendt zeigt. Denn er verhandelt eben die anderen Perspektiven, indem er die Gemeinschaft internalisiert hat. Inwiefern dieses Internalisieren der Gemeinschaft im Sinne einer politischen Bildung zu verstehen ist oder nicht vielmehr darauf gepocht werden sollte, dass neben dem inneren auch der reale Austausch mit anderen immer zu suchen ist, muss hier offen bleiben. Wichtig scheint mir aber, zu betonen, dass im Urteilen ein kommunikatives, ja, politisches Potenzial liegt, das, wenn es ernst genommen wird, nicht nur dem Kunstunterricht helfen könnte, Gemeinschaft in der Klasse und darüber hinaus ernster zu nehmen, sondern auch auf das schulische Verständnis von Beurteilung rückwirken könnte. Positive Entwicklungen gemeinschaftlicher Prozesse können angestossen werden, wenn Beurteilen auch für Schüler*innen als ein Prozess der kommunikativen Urteilsbildung erfahrbar wird. Und sie können angestossen werden, wenn sich Lehrpersonen mit Schüler*innen in einen offenen Austausch begeben und diese in die Verantwortung nehmen, sich selbst und andere im Sinne der Gemeinschaft zu be-urteilen.
Literatur
Arendt, Hannah (1961/2012): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1. München, Piper.
Asavei, Maria (2014): Collectivism. In: Kelly, Michael (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics. Oxford, Oxford University Press, S. 89–95.
Baumgarten, Alexander Gottlieb (1750/58/1988): Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58). Hamburg, Meiner.
Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Budd, Malcolm (2001): The Pure Judgement of Taste as an Aesthetic Reflective Judgement. In: British Journal of Aesthetics, 3/2001, Jg. 41, S. 247–260.
Buschkühle, Carl-Peter (2017): Künstlerische Bildung. Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik. Oberhausen, Athena.
Charnley, Kim (2021): Sociopolitical Aesthetics. Art, Crisis and Neoliberalism. London, Bloomsbury.
Dubos, Jean-Baptiste (1748): Critical Reflections on Poetry, Painting and Music. London, Printed for John Nourse.
Götze, Carl (1966): Zeichnen und Formen. In: Lorenzen, Hermann (Hg.), Die Kunsterziehungsbewegung. Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt, S. 27–32.
Home, Henry, called Lord Kames (1762/2005): Elements of Criticism. London, Liberty Fund.
Hume, David (17571985): Of the Standard of Taste. In: ders., Essays Moral, Political, and Literary. Liberty Classics Series. London, Liberty Fund, S. 226–249.
Hutcheson, Francis (1725/2004): An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue. London, Liberty Fund.
Iseminger, Gary (2005): The aesthetic state of mind. In: Kieran, Matthew (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art. Oxford, Blackwell, S. 98–110.
Junge, Jana (2015): Produkt-Portfolio. Aufgaben vertiefen und kriterienorientierte Urteile im 9. Jahrgang fällen. In: Peez, Georg (Hg.), Beurteilen lernen im Kunstunterricht. Unterrichtseinheiten, Methoden und Reflexionen zu einer zentralen ästhetik- und kunstbezogenen Fachkompetenz. München, kopaed, S. 107–116.
Kant, Immanuel (1790/2001): Kritik der Urteilskraft. Hamburg, Meiner.
Kirchner, Constanze/Kirschenmann, Johannes (2024): Kunst unterrichten. Didaktische Grundlagen und schülerorientierte Vermittlung. Hannover: Kallmeyer.
Lange, Konrad (1966): Das Wesen der künstlerischen Erziehung. In: Lorenzen, Hermann (Hg.), Die Kunsterziehungsbewegung. Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt, S. 21–26.
Leese, Annika (2015): „Da fehlt ein Gegengewicht“. Ästhetische Urteilskriterien zu freien Arbeiten in der Sekundarstufe II diskursiv klären. In: Peez, Georg (Hg.), Beurteilen lernen im Kunstunterricht. Unterrichtseinheiten, Methoden und Reflexionen zu einer zentralen ästhetik- und kunstbezogenen Fachkompetenz. München, kopaed, S. 189–194.
Lindström, Lars (2008): Produkt- und Prozessbewertung schöpferischer Tätigkeit. In: Peez, Georg (Hg.), Beurteilen und Bewerten im Kunstunterricht. Modelle und Unterrichtsbeispiele zur Leistungsmessung und Selbstbewertung. Seelze, Klett/Kallmeyer, S. 144–159.
McIver Lopes, Dominic (2018): Being for Beauty. Aesthetic Agency and Value. Oxford, Oxford University Press.
Menke, Christoph (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Mothersill, Mary (1984): Beauty Restored. Oxford, Clarendon Press.
Otto, Gunter (1972/2008): Anmerkungen zur Problematik von Leistung und Zensur – nicht nur im Kunstunterricht. In: Peez, Georg (Hg.), Beurteilen und Bewerten im Kunstunterricht. Modelle und Unterrichtsbeispiele zur Leistungsmessung und Selbstbewertung. Seelze, Klett/Kallmeyer, S. 174–181.
Peez, Georg (2005): Kunstpädagogik jetzt. Eine aktuelle Bestandsaufnahme: Bild – Kunst – Subjekt. In: Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf (Hg.), Bilder. Eine Herausforderung für die Bildung. Oberhausen, Athena, S. 70–75.
Penzel, Joachim (2019): Diagnostizieren im Kunstunterricht I. Persönlichkeitsentwicklung im fachlichen Kontext erkennen. http://www.integrale-kunstpaedagogik.de/assets/ikp_um_diagnostik__joachim-penzel__2019.pdf. [ 05.03.2025].
Read, Herbert (1958): Education through Art. London, Faber and Faber.
Schiller, Friedrich (1795/2009): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Schmalzried, Lisa (2014): Kunst, Fiktion und Moral. Münster, Mentis.
Seel, Martin (2007): Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Selle, Gert (2004): Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens. Hamburg, Hamburg University Press.
Sibley, Frank (2001): Approach to Aesthetics. Collected Papers on Philosophical Aesthetics. Oxford, Clarendon Press.