Schlagwörter: Alltag , Baukultur, Bildung, Diskurspraxis, Displacement, Handlungsräume , Kunstpädagogik, Raum, Relationen, Un-/Sichtbarkeiten
Hinsichtlich eines „zivilgesellschaftlichen Lernprozesses“ formulieren Werner Durth und Paul Siegel die These, dass Baukultur etwas weitgehend unsichtbares ist, dessen Qualität jedoch stets am Sichtbaren gemessen wird (vgl. Durth/Siegel 2016: 17). Verdeutlicht wird diese These in ihrer systematischen Darlegung der historischen Entwicklung baukultureller Ideale, die immer in einem prozessualen Wechselverhältnis zu sich wandelnden Aufgabenstellungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen stehen (vgl. ebd.: 11). In meinem Dissertationsvorhaben verwende ich das Unsichtbare als Initialgedanken, um Baukultur als diskursives Geflecht zu begreifen, in dem mehr als nur gebaute Strukturen wirksam sind. Mit dem Wortzusatz Kultur impliziert Baukultur historische Kontexte, soziale Praktiken und symbolische Bedeutungszusammenhänge, die nicht nur durch Artefakte, sondern auch durch menschliches Handeln hergestellt werden. Konkret beschäftige ich mich daher mit der Frage, wie der dynamische und vielschichtige Diskurs der Baukultur durch die Erweiterung sozialräumlicher Raummodelle, künstlerischer Raumforschungsmethoden und kunstpädagogischer Vermittlungsstrategien erkundet, beschrieben und bearbeitet werden kann.
Im folgenden Beitrag skizziere ich unter den drei Überschriften Baukultur, Baukulturelle Bildung und Ästhetische Diskurspraxis auf unterschiedlichen Ebenen, welche Perspektive ich jeweils kontextuell einnehme und warum ich welche theoretischen Setzungen vornehme. Im Abschnitt Konsequenzen für eine baukulturelle Bildung werden abschliessend die wesentlichen Verschiebungen zusammengefasst, die sich daraus für die Herangehensweise und Befragung des Konzepts der baukulturellen Bildung ergeben. Der Text gibt einen Einblick in die Herleitung und den theoretischen Bezugsrahmen meines Dissertationsvorhabens und soll nachzeichnen, wie baukulturelle Lernprozesse und kunstpädagogische Fragestellungen zusammengedacht werden können.
Baukultur
Ebenen der Baupraxis, Ebenen der Nutzung
Baukultur umfasst sowohl Ebenen der Baupraxis als auch Ebenen ihrer Nutzung (vgl. Geboltsberger/Pirstinger/Wallmüller 2022: 6). Die Baupraxis bestimmt wesentlich die Nutzung, da gebaute Räume (bestenfalls) immer mit einer bestimmten Zielgruppe und Nutzungsabsichten entworfen, geplant und realisiert werden. In der Baupraxis überlagern sich tradierte Praktiken (die sich z.B. durch Erfahrung bewährt haben), zeitgenössische Ideale und Routinen (z.B. dominante Wohnformen) und Zukunftsvisionen (z.B. ökologische Ziele). Zum komplexen Verhältnis von Herstellung, Produktion und Gebrauch am Beispiel von Landschaftsarchitektur vgl. Berr 2018: 57-63. Baupraktische Prozesse verlaufen demnach nie eindimensional und nicht ohne den Einfluss unterschiedlicher Interessensgruppen und zeitgenössischer Anforderungen.
Die Nutzungsebene hingegen formuliert sich aus einem direkten Umgang mit gebauten Strukturen, unabhängig davon, ob die Nutzer*innen auch an Planungs- und Bauprozessen teilhaben. Die Nutzung ist immer „in den Bedeutungszusammenhang ihrer alltäglichen Praxis gestellt“ (Neubert 2020: 126) und vollzieht sich „leiblich und praktikabhängig“ (ebd.: 123). Die Nutzungsebene wird individuell und subjektabhängig kultiviert und stellt damit einen niederschwelligen, handlungsorientierten Zugang zur Baukultur dar.
Ebene der Beteiligung
Baupraxis und Nutzung zeichnen sich zudem durch unterschiedliche Beteiligungsgrade aus. Ob auf gesamtgesellschaftlicher Ebene oder in gemeinsam bewohnten/belebten Räumen, Baukultur fungiert immer als Aushandlungsort für das menschliche und nicht-menschliche Zusammenleben. Aktuell zeigt beispielsweise die Diskussion um Biodiversität, dass die Lebensräume von Tieren und Pflanzen, also nicht-menschlichen Akteur*innen, in diesen Aushandlungsprozessen lange vernachlässigt wurden. Ein weiteres illustratives Beispiel ist die Perspektive der Frauen, die zwar schon immer zu den Nutzer*innen gehörten, historisch gesehen aber überwiegend nicht zu den Auftraggebern oder Baumeistern Folglich hier nur in der männlichen Form aufgeführt. zählten (vgl. Fischer 2020: 103). Solche in Baukultur eingeschriebenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse sowie Fragen der Teilhabe und der Repräsentation sind ebenso Teil ihrer Rezeption wie ihre konkrete physische Erscheinung. Im Verstehen solcher Zusammenhänge kann Handlungsfähigkeit gewonnen werden (vgl. Löw 2021: 104). Bleiben sie wiederum unreflektiert, kann es dazu kommen, dass Hierarchien und Rollenbilder unkritisch manifestiert und reproduziert werden, egal ob von Nutzer*innen, Fachexpert*innen oder Geldgeber*innen (vgl. ebd.).
Im individuellen Handeln entwickeln Menschen eigene Routinen, Gebrauchsmuster und Bedeutungszusammenhänge, die in der Regel wortlos ablaufen und daher oft unreflektiert bleiben (vgl. Neubert 2020: 119f.). Dieses praktische Wissen entwickelt sich in materiell vorstrukturierten Räumen und ermöglicht, dass ein und derselbe Raum unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und genutzt wird, ohne in seine gebaute Struktur einzugreifen. Diese Pluralität lässt sich z.B. an Sakralbauten nachvollziehen: Ob z.B. Moschee, Tempel, Synagoge, Kirche – die Wahrnehmung solcher Räume unterscheidet sich individuell, je nach Religionszugehörigkeit, welche Bedeutung dieser (Nicht-)Zugehörigkeit beigemessen wird, welches Wissen über Symbole und Rituale vorhanden ist und welche Vorerfahrungen damit gemacht wurden oder nicht. Wahrgenommener Raum und materielle Struktur werden in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander erschlossen und verinnerlicht, was die Rezeption von Bauwerken individuell und prozesshaft macht. In ihrer Subjektivität bleiben diese Prozesse oft unthematisiert, weshalb sie selten Eingang in einen breiteren Diskurs finden. Im Gegensatz zur Baupraxis agieren auf einer alltäglichen Nutzungsebene alle Menschen gleichermassen sinnhaft (vgl. Neubert 2020: 127f.), weshalb ich diesen Aspekt ins Zentrum meiner Arbeit stelle.
Baukulturelle Bildung
Ebene des Kontextes
Baukultur ist als Gesamtphänomen schwer fassbar, so dass ihre Definition, ihre Ziele und ihre Interpretation in jedem Kontext neu formuliert werden müssen. Im baukulturellen Bildungsdiskurs ist festzustellen, dass er sich häufig direkt am politischen Ziel einer ‚hohen‘ baukulturellen Qualität orientiert. Das Ziel einer hohen Qualität wird an der Schnittstelle von Stakeholder*innen und Nutzer*innen ausgehandelt und umfasst funktionale, ästhetische, ökonomische und ökologische Anforderungen an gebaute Strukturen. Vgl. z.B. Strategie Baukultur (Bundesamt für Kultur 2020) Stadt und Baukultur. 5 Thesen aus der Tagung Baukultur und die Stadt 2021 an der ETH Zürich und daraus folgenden Gesprächen. (Stiftung Baukultur Schweiz 2021). Der Konsens über kulturelle Werte soll laut Bundesamt für Kultur gesellschaftlich diskutiert und definiert werden (vgl. 2021: 5). Nutzer*innen haben wenig direkten Einfluss auf die Kriterien der Gesamtqualität von Baukultur. Über räumliches Wissen, welches „im Kontext der alltäglichen Lebensführung“ (Neubert 2020: 118) gesammelt wird, verfügen hingegen alle. Vor diesem Hintergrund interessiert mich aus kunstpädagogischer Perspektive der Zugang über individuelle Nutzungspraktiken als Ausgangspunkt für ortsspezifische Lernerfahrungen. Ausgehend von dieser Überlegung liegt der Fokus meiner Arbeit nicht auf der Qualität, sondern auf der kritischen Betrachtung, dem verstehenden Handeln und der darstellenden Auseinandersetzung und Vermittlung. Das Ziel einer so kontextualisierten baukulturellen Bildung verschiebt sich damit hin zu individuellen Formen der Erkenntnisproduktion, ihrer Konstitution und der Konstruktion intersubjektiv teilbarer Grundlagen. Baukultur wird als räumliche Lernsituation entworfen, auf deren Basis unterschiedliche Ebenen und Zeitachsen subjektzentriert erfahrbar werden: Vergangenheitsbezogen als immersive Situation, die ein körperliches Eintauchen in historische Zusammenhänge ermöglicht, gegenwartsbezogen als kritische Erkenntnispraxis und zukunftsbezogen als handlungsorientierter Aneignungsprozess. Räumliche Lern- und Sozialisationsprozesse, die sich im praktischen Umgang mit gebauten Strukturen verfestigen, werden damit zu einem wesentlichen Teil der baukulturellen Bildung, weshalb insbesondere sozialräumliche Theorien relevant werden.
Ebene des Raumes
Das Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Raum ist ebenso komplex und vieldimensional wie die Baukultur selbst. Im Bildungskontext sind vor allem kultur- und sozialräumliche Raumkonzepte anschlussfähig, in denen Raum als handlungs- und prozessorientierte Kategorie verstanden wird (vgl. Stern 2020: 61). Sozialräumliche Untersuchungen, die zumeist auf fragmentierte und bewegte Raumstrukturen hinweisen, werden durch Analogien zu Einsteins kontextuellem Raumbegriff, der erst im Zusammenzug relativer Verhältnisse entsteht, besser beschreibbar (vgl. Dünne/Günzel 2006: 27; vgl. Löw 2001: 23) als mit der auf Newton zurückgehenden Vorstellung, dass sich bewegte Körper relativ zu einem Raum als absolutes Bezugssystem verhalten (vgl. Dünne/Günzel 2006: 27). Die Abwendung von einem kontinuierlich für sich existierenden absoluten Raum hin zu einem relationalen Raumbegriff bezeichnet einen Paradigmenwechsel: Anstatt von einem Handeln im Raum auszugehen, wird das Handeln nun als raumkonstituierend entworfen (vgl. Löw 2001: 67). Vereinfacht gesagt wird Raum nicht länger als unbewegliche Kulisse verstanden, in der sich das Leben abspielt, sondern als bewegliches Element, das auf die jeweilige Situation einwirkt und von den Menschen aktiv mitkonstruiert wird. Der materielle Raum stellt folglich nur einen Teilfaktor der Raumkonstitution dar, der immer nur im Kontext des wahrgenommenen und erlebten Raumes und seiner soziokulturellen Bedingungen entstehen kann. Diese Dynamik zwischen materiellen Bedingungen, individueller Wahrnehmung und gesellschaftlichen Strukturen macht Raum relational, d.h. situations-, personen- und kulturabhängig. Das raumsoziologische Instrumentarium von Martina Löw ermöglicht eine Analyse dieses Zusammenwirkens. Löw formuliert Raum als eine „relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ (Löw 2001: 224), die durch die beiden analytisch zu trennenden Prozesse der Syntheseleistung und des Spacing konstituiert wird (vgl. ebd.). Das Spacing benennt Platzierungsprozesse von sozialen Gütern und Lebewesen und schliesst sowohl Momente des Platzierens, Sich-Positionierens und Bewegens ein (vgl. ebd.: 158f.). Die Syntheseleistung beschreibt das kognitive Zusammenfassen von Räumen durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse (vgl. ebd.: 159). Spacing ist ohne die gleichzeitige Verknüpfung von sozialen Gütern, Menschen und Räumen (Syntheseleistung) nicht möglich, so dass im Alltagshandeln immer eine Gleichzeitigkeit beider wirksam ist (vgl. ebd.). Im Gegensatz zum absoluten Raum betont ein relationales Raumkonzept die raumschaffenden Anteile, die Individuen bei der Konstitution räumlicher Strukturen aktiv hervorbringen (vgl. Schroer 2008: 137).
Ebene der räumlichen Bildung
Die Differenzierung zwischen absolutem und relationalem Raumverständnis ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie die schulische räumliche Bildung wesentlich beeinflusst. Bezieht sich auf den deutschsprachigen Bildungsdiskurs und kann nicht global verallgemeinert werden. In der bis heute viel zitierten empirischen Studie „Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde“ (1. Aufl. 1971) weisen Jean Piaget und Bärbel Inhelder das räumliche Vorstellungsvermögen als „fortschreitende Konstruktion“ (Piaget/Inhelder 2022: 346) von einer topologischen Raumwahrnehmung zu einer euklidischen Raumvorstellung nach (vgl. Löw 2001: 77). Nach Piaget und Inhelder erreicht das räumliche Vorstellungsvermögen bei Kindern im Alter von elf bis zwölf Jahren mit der Fähigkeit zur koordinatenbasierten, also euklidischen Raumkonstruktion seinen Reifegrad (vgl. Fröhlich 2017: 161). Eine zentrale Frage, die sich dann in Bezug auf räumliche Bildung stellen lässt, ist, wie sich unser räumliches Vorstellungsvermögen nach diesem ‚Endpunkt’ (weiter-)entwickeln kann. Löw merkt kritisch an, dass Kinder zu einem euklidisch-perspektivischen Raumvorstellungsvermögen geschult werden, bei dem gesellschaftliche Einflüsse unbeachtet bleiben (vgl. Löw 2001: 77/80). Die Unterscheidung von wahrgenommenem und vorgestelltem Raum, die ebenfalls auf Piaget und Inhelder zurückgeht, ist jedoch eine wichtige Differenzierung, um zu argumentieren, dass sich die räumliche Wahrnehmung nicht „gänzlich einem euklidischen Denken“ anpassen sollte (Löw 2001: 79). Dies lässt sich am Beispiel des akustischen Raums nachvollziehen, der normativ gesprochen, nicht euklidisch, sondern aktiv über Beziehungen und Assoziationen (relational) erschlossen wird. Deutlicher als vielleicht bei der visuellen Wahrnehmung zeigt sich hier, dass Räume mit sehr viel Eigenleistung konstituiert werden und auch, wie essenziell der Körper als Resonanzraum für raumbildende Prozesse ist. Einen wichtigen Anknüpfungspunkt stellen hier Überlegungen von Phänomenolog*innen dar, in denen Raum primär als Erlebensraum konzipiert wird (vgl. Dünne/Günzel 2006: 105).
Ebene des Sichtbaren und des Unsichtbaren Angelehnt an das gleichnamige Werk von Maurice Merleau-Ponty.
In Abgrenzung zu geometrischen Raumkonzepten stellen phänomenologische Raumtheorien den topologisch konstruierten Erlebensraum ins Zentrum (vgl. Dünne/Günzel 2006: 105). Das Subjekt wird dabei als „Nullpunkt der Räumlichkeit“ (Merleau-Ponty 2006: 190) verstanden, von dem aus die Welt erfasst wird. Maurice Merleau-Ponty betont in seinen Überlegungen die gegenseitige Bezogenheit zwischen dem konstruierbaren, physikalisch-metrischen Raum und dem erfahrenen, gelebten Raum (vgl. Dünne/Günzel 2006: 113). Weiter beschreibt er, dass Dinge bereits intentional umfasst erlebt werden, so dass die Welt nie nur sinnlich, sondern immer auch denkend erschlossen wird (vgl. ebd.: 114). Statt zwischen äusserem Raum und innerem Selbst zu unterscheiden, müssen Subjekt und Welt daher immer in einem Verhältnis gedacht werden (vgl. Merleau-Ponty 2006: 115f.). Insbesondere Wahrnehmungsformen wie das Riechen und das Hören erfolgen assoziativ und lassen Räume entstehen, die an den Körper und biografische Erfahrungen anknüpfen (vgl. Löw 2001: 79). Durch den Körper als Bezugspunkt ist es unumgänglich bei der Raumkonstitution auch übergeordnete gesellschaftliche Strukturen und in den Körper eingeschriebene Kategorien wie Kultur, Geschlecht, Klasse und Ethnizität zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 209f.). Für baukulturelle Lernprozesse ist dies insofern relevant, als diese Situiertheit nicht nur in der gegenwärtigen Rezeption wirksam ist, sondern auch historisch immer schon wirksam war. Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen zeitgeschichtlich Anforderungen und Bedingungen setzt ein Verständnis der eigenen körperlichen Situiertheit voraus. Das für die räumliche Vorstellung konstitutive, motorisch-sensorische Handeln (vgl. Fröhlich 2017: 165) sowie die gestische Auseinandersetzung mit der sinnlichen Wahrnehmung bieten daher wichtige Instrumente, um solche Zusammenhänge zu reflektieren und leiblich nachzuvollziehen.
Ästhetische Diskurspraxis
Ebene des (kunstpädagogischen) Handelns: Situationskonstruktionen
Sowohl die Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens als auch die kognitive Syntheseleistung bilden und verfestigen sich im Handeln (vgl. Löw 2001: 172).
Ausgehend von dem Gedanken, dass sich baukulturelle Wahrnehmung in einer Wechselwirkung zwischen Nutzer*in und gebauter Umwelt konstituiert und durch soziale und kulturelle Praktiken erschlossen wird, stellt sich die Frage, wie solche Erfahrungsbereiche intersubjektiv geteilt werden können. Zum Forschungsgegenstand wird damit eine räumlich erfahrene Wirklichkeit, die sich gemeinsam nachvollziehen lässt (vgl. Leibbrand 2022: 51).
Besonders anschlussfähig an die oben skizzierte Auffassung von baukulturellem Lernen ist die von Christiane Brohl entwickelte kunstpädagogische Strategie des Displacement. Displacement bezeichnet die Verschiebung, Verlagerung oder Verrückung von Diskursen als kulturkritische Erkenntnispraxis (vgl. Brohl 2008: 34). Kunstpädagogik verortet sie dabei „im diskursiven Geflecht von Kunst-, Wissenschafts- und Kulturapparat, und zwar frei von einer dominierenden Orientierung“ (ebd.: 285). Vermittlungsarbeit begreift Brohl als ästhetische Diskurspraxis, in der mit kunstanalogen Arbeitsweisen gezielt in alltägliche Praktiken eingegriffen wird (vgl. ebd.: 287). Orte werden durch assoziatives In-Beziehung-Setzen intuitiv erschlossen, um so andere Lesarten zu generieren und neue Lehr- und Lernmodelle zu entwerfen (vgl. ebd.: 35/287). Neben dem räumlichen Impetus des Displacement ist es auch Brohls Verständnis von Ort, das die Strategie für den Baukulturdiskurs anschlussfähig macht. Sie definiert Ort als etwas, das „nicht nur hinsichtlich seiner physischen Gegebenheit“ verstanden wird, sondern als „Knotenpunkt diskursiver Verflechtungen, Verhaltenscodierungen, kultureller Praktiken, institutioneller Einbindung und geschichtlicher Verzweigungen“ (ebd.: 130). Dieses Verständnis von Ort lässt sich ohne Weiteres auf das Konzept der Baukultur übertragen, da jede gebaute Struktur immanent ortsspezifisch ist. Die materielle Verankerung markiert lediglich einen physischen Ausgangs- und zugleich Bezugspunkt, von dem aus diskursive Verflechtungen analysiert, dekonstruiert, umgedeutet und neu verhandelt werden können.
Ebene des (kunstpädagogischen) Handelns: Darstellungs- und Vermittlungsakte
Darstellungsräume, die sich an der Kunst orientieren, vermögen es, Sinn- und Interaktionszusammenhänge deutlicher zu verkörpern als Darstellungsräume der Geometrie (vgl. Sowa 2017: 88). Durch künstlerische Darstellungen werden Räume konstituiert und vermittelbar, die, wie Löw es beschreibt, „noch nicht mit dem praktischen Spacing abgestimmt werden“ (Löw 2001: 225) oder die Brohl als „heterotope Orte“ (Brohl 2003: 315) beschreibt. Diese Räume entstehen auf der Basis von Vorstellung und Erinnerung und sind (noch) nicht materialisiert (vgl. Löw 2001: 225). Durch ihre Referentialität auf bestehende und bekannte Strukturen, erzeugen sie eine Kontextverschiebung, in der „oppositionelle, alternative Formen von Denk- und Handlungsweisen möglich werden“ (Brohl 2003: 315). Sie stören Routinen und Erwartungshaltungen, die im Alltag unreflektiert bleiben und generieren bewusste Erfahrungsmomente und neue Sichtweisen auf bestehende Strukturen. Für baukulturelles Lernen bleibt der Bezug auf eine realräumliche Referenz essenziell, die Auseinandersetzung kann hingegen medial vielfältig stattfinden und durch künstlerische und kunstpädagogische Strategien aktiv angeregt werden. Dokumentations- und Darstellungsakte werden dabei gleichzeitig als poietische Tätigkeit und als Explikation der Auseinandersetzung verstanden (vgl. Leibbrand 2022: 32). Ziel ist es, Perspektivenverschiebungen auf räumliche Situationen zu initiieren, um dadurch Schnittstellen von räumlichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsakten produktiv zu machen und anders aufeinander abzustimmen. Dahinter steht ein selbstreflexives Bildungsverständnis, dessen Fokus auf einer selbstermächtigenden Kritik- und Handlungsfähigkeit liegt (vgl. Mörsch 2009: 13). In einem so ausgerichteten Verständnis von baukultureller Bildung, so eine weitere Annahme in meiner Arbeit, geht es nicht darum, ein bestimmtes Wissen über Baukultur zu vermitteln, sondern anwendungsorientiert Zugangs-, Auseinandersetzungs- und Darstellungsweisen zu erkunden. In der Geschichte der Kunst und der Kunstpädagogik kann hier auf einen breiten Katalog von Methoden und Werken zurückgegriffen werden. Künstlerische Interventionen bieten wichtige Referenzen und Anhaltspunkte dafür, wie Kunstschaffende solche Situationen erzeugen. Kunstpädagogische Methoden wie das Kartieren (Heil 2007) und das AtlasMapping (Busse 2007) bieten darstellungs- und vermittlungsorientierte Ansätze, Praktiken wie das Site-Writing (Rendell 2010) fördern eine kritische Diskurspraxis. Künstlerische Raumforschungsmethoden, wie z.B. die Promenadologie von Lucius Burckhardt oder die Methoden der Situationist*innen (dérive, détournement und récupération) (vgl. Orlich 2011), bieten theoretisch fundierte und praktisch erprobte Wahrnehmungs- und Herangehensweisen. Künstlerische Auseinandersetzungs- und Darstellungsakte erfüllen dabei vier Funktionen: Sie dienen als Ausdrucksmedium wahrgenommener und vorgestellter Räume, als identitätsbildendes Reflexionsinstrument, als intersubjektiv teilbare Diskussionsgrundlage und als Dekonstruktionselement euklidischer Weltvorstellung. Vor allem aber wird Baukultur in ihrer alles durchdringenden Rolle und in ihrer lebensweltlichen Unmittelbarkeit wahrnehmbar und erfahrbar.
Konsequenzen für eine baukulturelle Bildung
Das Paradigma von Baukultur als relationales, diskursives Feld, dessen Erschliessung über ein subjektzentriertes und handlungsorientiertes Lernen erfolgt, muss sich von der Vorstellung eines Lernens über Baupraxis verabschieden und Wege der teilhabenden sinnlichen Auseinandersetzung in, mit und durch Baukultur ermöglichen. Baukulturelle Bildung kann so von der Selbsttätigkeit her gedacht (vgl. Reichenbach 2021: 57-60) und dadurch dynamisch und transformativ werden. Die Qualität richtet sich dann nicht nach einem Wissen über Baukultur und Bauprozesse, sondern an der Fähigkeit, eigene Zugänge zu finden, sich kunstanalog mit Situationen zu befassen und Darstellungs- und Ausdrucksformen zu erproben, um baukulturelle Erfahrungen explizierbar und intersubjektiv diskutierbar zu machen. Die leitende Frage lautet dann: Welche Transformationen können künstlerisch-gestalterische Methoden der Raumforschung leisten, um Baukultur relational wahrnehmen und vermitteln zu lernen? Wie können wir räumliche Routinen gedanklich, praktisch und darstellend dekonstruieren? Wie können wir Räume als mehr als nur starre Projektionsflächen erkennen und entwerfen? Welche neuen Sichtweisen auf Baukultur können wir dadurch gewinnen?
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