Editorial Pedagogical Trajectories

Lena Eriksson: Korrespondenz, Project in Zusammenarbeit mit La Kunsthalle Mulhouse, 2020.

Flugbahnen und Sedimente gesellschaftspolitisch engagierter Forschung im Feld Kunstpädagogik

 

 

Veränderung, Verschiebung, Erweiterung und Aktion – diesen Flugbahnen der Kunstpädagogik und ihren Sedimentierungsprozessen folgen die in dieser Nummer versammelten – erstaunlich utopischen und neugierig machenden –Forschungshaltungen. Es sind vehement geäusserte Anliegen, welche die anhand von Artikeln hier vorgestellten exemplarischen Master- und Bachelor-Thesen im Feld der Kunstpädagogik und -Didaktik, auf mikrostruktureller wie gesamtgesellschaftlicher Ebene Ausdruck zu verleihen versuchen. So geht es etwa um neue Arbeitsverständnisse hinsichtlich des Einsatzes von Unterrichtsmaterial und um neue experimentelle Raumsettings. Strategien der Verschiebung, Veränderung und Erweiterung werden in kritischer Absicht beispielsweise an digitale, zeichnerische und fotografische Dispositive herangetragen. Wir als Herausgeber*innen haben deshalb die Artikel inhaltlich in zwei Themenblöcke gegliedert: Aktion & Ermächtigung in einem ersten und kritische Medienpraktiken in einem zweiten Teil.

Der rote Faden, der alle Arbeiten verknüpft, ist eine radikale Bildungsidee, die sich jeweils aus ganz unterschiedlichen, transnationalen Kontexten speist. Diese radikalen Bildungsideen haben auch die Anfänge der modernen Kunstpädagogik geprägt. Marion von Osten und Grant Watson betonten in ihrem Katalog zu bauhaus imaginista: „Nimmt man das historische Bauhaus und seine Rezeption in den Blick, wird diese transnationale Geschichte radikaler Bildungsideen sichtbar.“ (von Osten/Watson 2018: 7). Der Schlüssel dazu ist, so von Osten/Watson weiter, ein „Wissenstransfer von Praktiker*innen für Praktiker*innen.“ (von Ebd.: 10) Denn so können „Wissenskulturen entstehen, die in der materiellen Kultur eingeschrieben sind […].“  (Ebd.: 10).

Was offensichtlich neu formuliert wird in den aktuellen Thesisschriften, sind Methodologien zur Reflexion der gegenwärtig praktizierten Fachdidaktik der Kunst und visuellen Kultur, welche dazu beitragen Machtgefüge und deren Subjektkonstruktionen zu hinterfragen (vgl. Butler 1993). Auf diese Weise kann eine emanzipatorische Wissenskultur entstehen, die Handlungsermächtigung (vgl. Hubin 2010: 1) bewirkt. Besonders das neuerliche Verständnis transkultureller Bezüge wird zum wichtigen Desiderat (vgl. Mbembe 2016); von Osten/Watson arbeiteten im Rahmen ihrer Recherchen heraus, wie zentral bereits ein „Studium vormoderner Artefakte nicht-europäischer Herkunft durch moderne Künstler*innen für die Bauhaus-Pädagogik ist.“ (von Osten/Watson 2018 S: 10/11). In diesem Sinne kann eine aktuelle Praxis einholen, was so radikal wie differenziert bereits für das Feld der Kunstpädagogik entworfen wurde und in kulturwissenschaftliche Ansätze übertragen werden. Diese beschreiben Sigrid Schade/Silke Wenk wie folgt: „Die Frage nach der Art und Weise, wie Wiederholung und Abweichung in der Tradierung von Zeichen-Bedeutungen wirksam werden, und die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen Subjekten und Gemeinschaften innerhalb dieser Prozesse sind zentral für jede kulturwissenschaftliche Perspektive, […].“ (Schade/Wenk 2011: S:122) In Anlehnung an Michel Foucault sind als Zeichen-Bedeutungen auch jene pädagogischen Muster zu verstehen, in deren Materialität und Handlungsmuster, Wertungen und Diskurse eingeschrieben sind. Foucault betont: „je suppose que dans toute société la production du discourse est à la fois controlee, sélectionnée, organisée et redistribuée par un certain nombre de procedures qui ont pour role d’en conjurer les puvoirs et les dangers, d’en maîtriser l’évènement aléatoire, d’en esquiver la lourde, la redoutable matérialité.“ (Foucault 1971: 10/ 11) Diese so schwere wie fragliche Materialität, die Sedimentierung, scheint ein weiterer wichtiger Aspekt der vorliegenden Artikelauswahl: sei es in Form der Montage, erinnerter Fotohandlung, filmischer Auslegung oder Materialspuren im öffentlichen Raum.

Wenn also in pädagogischen Handlungsmustern Werte und Diskurse eingeschrieben sind, so lohnt ein Blick auf eben diese Diskurse und die daraus resultierenden Zusammenhänge, denn es geht, um es nochmals mit Foucault auszudrücken, um die "Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und den nicht- diskursiven Bereichen wie Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse". (Foucault 1969: 231)

Bevor wir diesen Zusammenhang in aktuellen Unterrichtsmethoden untersuchen, lohnt sich ein weiterer Blick zurück, quasi auf das Gegenbild, gegen das sich die Bauhaus Pädagogik auflehnte. Vor etwa 100 Jahren skizzierte der amerikanische Psychologe John B. Watson das Konzept einer behavioristischen Theorie. Kernpunkt dieser Theorie ist das Verhalten (=behavior) des Individuums. Der Mensch wird zentral als Produkt seiner Umwelt gesehen, einer Umwelt, die sich im Umbruch befindet und von einer rasanten Industrialisierung geprägt ist. Dieser Mensch also wird als Maschine betrachtet, die einzig und allein von äusseren Einflüssen gelenkt wird. (vgl. Mietzel 1993: S. 86ff) Watson selbst sagt: "Es ist eine Theorie, die Industriellen gefällt. Weil sie für sie bedeutet, dass sie jede beliebige Person für jede beliebige Aufgabe ausbilden können. Abschätzig betrachtet könnte man sagen, dass Menschen nur noch eine Funktion in einer Maschinerie erfüllen und man kann sie beliebig gegeneinander austauschen."(Watson 1930: 57) Diese Haltung zeigt, dass der Mensch nicht als autonomes Wesen angeschaut wird, denn die Fähigkeit zum eigenständigen Denken und Reflektieren, sowie der freie Wille werden ihm gänzlich abgesprochen. Dieses doch sehr mechanische und materialistische Menschenbild, das aus heutiger Sicht fragwürdig erscheint, war im Zeitalter der Moderne und der miteinhergehenden immensen Dynamisierung sozialer Verhältnisse (vgl. Rosa 2005) aber durchaus passend und verlor auch bis weit nach dem 2. Weltkrieg nicht an Bedeutung.

Ab den 1970er Jahren kommt es zur so genannten konstruktivistischen Wende in pädagogischen Konzepten. Im Gegensatz zum Behaviorismus stellt der Konstruktivismus nicht die Verarbeitung von Informationen in den Vordergrund, sondern gibt der individuellen Wahrnehmung und Interpretation eine starke Bedeutung. Im Mittelpunkt steht nicht ein Wissen, das von aussen an den Menschen herangetragen und vom Menschen bearbeitet wird, sondern der Mensch selbst, der sich aus seiner Wahrnehmung der Umwelt eine Sichtweise konstruiert. Jeder Mensch konstruiert nach dieser Theorie aus sich selbst heraus seine eigene Wirklichkeit, die sich an seinen Erfahrungen, seinen Lebensumständen und seinen sozialen Bezügen orientiert. Es gibt keine allgemeingültige richtige Wirklichkeit, die ein allgemeingültiges Wissen in sich birgt, sondern unendlich verschiedene Sichtweisen, die die Wirklichkeit eines Phänomens spiegeln. (vgl. Siebert 2012) Eingebettet ist diese Wende in eine Zeit, in der die Arbeitsbedingungen zwischen Mensch und Maschine sich zunehmend flexibilisieren und neue Produktionstechnologien den Markt erobern. Während bis zu den 1970er Jahren die industrielle Fabrikarbeit im Zentrum stand, findet nun eine Verschiebung zur immateriellen Arbeit statt. Die Produkte (und Waren) dieser Arbeitsverhältnisse sind Wissen und Kommunikation, aber auch Gefühle und Beziehungen. Laut Negri/Hardt sind es die Vielzahl der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen, die die Entwicklung der Gesellschaft und den Kapitalismus vorantrieben, sie sprechen davon, dass das System vom Wissen, von der Kreativität, den Gefühlen und der Lebendigkeit der Multitude abhängig ist. (vgl. Negri/Hardt 2002: S. 300-306)

In den 90er Jahren nahmen abermals zahlreiche Autor*innen eine kritische Haltung gegenüber diesem "banking system of education" wie bell hooks es nennt, ein. Kennzeichnen lasse es sich als "based on the assumption that memorizing information and regurgitating it, represented gaining knowledge that could be deposited, stored and used at a later date” (hooks 1994:5). Sie fordert demgegenüber “teaching as the practice of freedom” (hooks 1994: 4). Auch in der Kunstpädagogik dieser Zeit fordert, im Rahmen des educational turn nach Dekonstruktion und Transformation. Und wie sieht es heute aus? Welchem Zusammenhang gibt es aktuell zwischen Unterrichtspraxis und ökonomischen und gesellschaftlichen Praktiken? Beginnen wir mit letzteren. Der heutige nach wie vor dominante Neoliberalismus begreift die Kompetenzen des Menschen als eine Form von Kapital, das man steigern kann und welches sich im Markt einsetzen lässt. Dabei scheint es sich keinesfalls zu widersprechen, wenn das Subjekt einmal als Unternehmer, das andere Mal als Humankapital gedacht wird. Beide Vorstellungen ergänzen sich vielmehr: Der Mensch als Unternehmer versucht aus sich selbst ein lukratives Kapital zu formen. (Foucault 2011: S. 238) Und ähnlich wie in einem Unternehmen ist das Besondere Trumpf. Denn das neue Mass der Dinge sind authentische Subjekte mit originellen Interessen, kuratierten Biographien und somit unverwechselbaren Gütern. Wohin wir auch schauen, erwartet wird nicht das Allgemeine, sondern das Besondere. Laut Reckwitz performed das spätmoderne Subjekt sein besonderes Selbst vor Anderen. Dies gilt nicht nur privat, sondern auch beruflich. Das kreative unternehmerische Selbst befindet sich in einer permanenten Wettbewerbssituation, ist ständig besorgt um seine employability, und kennt kaum noch die Trennung von Arbeit und Freizeit. Wer hier zu den Verlierern gehört wird unsichtbar, verrichtet repetitive und standardisierte Tätigkeiten mit schwacher intrinsischer Motivation und ohne Persönlichkeitsanteil. (vgl. Reckwitz 2017) So nimmt laut Reckwitz die Arbeitswelt seit den 1980 er Jahren mehr und mehr Züge der creative economy an, in der "an singulären Gütern für kulturelle Märkte gearbeitet wird, und die Arbeitskraft ihrerseits zu einem Singularitätsgut auf einem kulturellen Markt wird." (Ebd., 2018, S.182.)

Wie nun lassen sich mit diesem Hintergrund heutige didaktische Ansätze verstehen, insbesonders solche, welche auf Selbstermächtigungsstrategien basieren? Ansätze, welche immens wichtig sind und unbedingt gefördert werden müssen. Denn dort, wo Menschen die Erfahrungen von Selbstwert und aktiver Gestaltungskraft, von Ermutigung und sozialer Anerkennung haben sammeln können, vollziehen sich Mut machende Prozesse und soziale Gerechtigkeit. Trotzdem müsste man sich hier die faustische Frage stellen, wer hier wem zuspielt und im foucaultschen Sinne Zusammenhänge analysieren.  

Aber egal wie man diese Frage beantwortet, wichtig erscheint, die strukturellen Bezüge hinsichtlich ihrer Historie und Alltagswirklichkeit zu erkennen und verständlich zu machen, oder um es mit Chandra Taplade Mohanty  zu sagen „I ask what would it mean to be attentive to micropolitics of everyday life as well as to the larger process that recolonize the culture and identities of people across the globe” (zitiert nach Dimitrakaki 2013 :6).

 

Diese Nummer umfasst Beiträgen von Charlotte Friedli, Pamela Gardi, Bettina Gassmann, Tiziana Halbheer, Zoé Hall, Nicole Heri, Julia Marti, Flurina Stuppan, Malin Widén; sowie 3 Fragen an Bernhard Chiquet, einen Zeichnungsbeitrag von Lena Eriksson und ein filmisches cahier d’artiste von Lena-Lucie Weber, das im Feld Art Teaching angesiedelt ist.

 

 

Literatur:

Butler, Judith (1993): Bodies that Matter, on the discursive limits of “sex”, London/New York, Routledge.

Dimitrakaki, Angela (2013): Capital, gender and the work of art: an intervention of, and in, materialist feminism: in: gender, artwork and the global imperative. A materialist feminist critique, Manchester/New York, Manchester University Press, S. 1-23.

Foucault, Michel (2011): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität. II.Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.

Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.

Foucault, Michel (1971): L’ordre du discourse. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2ème décembre 1970, Paris, Gallimard.

Hooks, Bell (1994): Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom. London, New York, Routledge.

Hubin, Andrea (2010): Handlungsmacht an den Rändern der Macht. In: Art Education Research No 2/ Dezember 2010, unpaginiert.

Mbembe; Achille Joseph (2016): Decolonizing the University: new directions. In: Arts and Humanities in Higher Education Vol. 15 (1), S. 29-45.

Mietzel, Gerd (1993): Psychologie in Unterricht und Erziehung. Einführung in die Pädagogische Psychologie für Pädagogen und Psychologen. Göttingen, Hogrefe Verlag.

Negri/Hardt, Antonio/Michael (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/New York, Campus Verlag.

Reckwitz, Andreas (2017) Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp Verlag.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.

Schade, Sigrid/Wenk, Silke (2011): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Bielefeld. Transcript Verlag

Siebert, Horst (2012): Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. Augsburg, Ziel Verlag.

Watson, John. B. (1930): Behaviorismus. Neulingen, Klotz Verlag.

Von Osten, Marion/Watson, Grant (2019) (Hg.): Bauhaus Imaginista: Ausstellungskatalog HKW Berlin.