Materielle Semiotik der Zärtlichkeit
Abstract:
Seit 2019 arbeiten wir, Seraina Dür und Jonas Gillmann, mit dreizehn Tauben an dem Projekt "Parlament der Dinge, Tiere, Pflanzen und Algorithmen". Dafür schaffen wir performative Setting, die wir gemeinsam mit den Tauben und weiteren menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen bespielen. Für die Konzeption der Settings ist für uns der Begriff der Caring Architecture wichtig. In den Städten werden Tauben abgeschossen und vertrieben. Uns interessiert, wie Räume aussehen können, die statt zu trennen und abzuwehren, sich um ihre unterschiedlichen Bewohner*innen kümmern. In den Räumen, die wir gestalten, gibt es immer ein Flugloch, durch das die Tauben rein und raus können, es gibt Schalen aus Keramik, aus denen wir und die Tauben Porridge essen, Löwenzahn, mit dem wir mit den Tauben spielen, Badebecken zum Plantschen und vieles mehr. Über diese Gegenstände verbinden wir uns mit den Tauben, ihre Bedeutungen entstehen aus der gelebten Beziehung mit den Tauben, aus der gemeinsamen-unterschiedlichen Nutzung der Gegenstände, sie sind Zeichen von Zärtlichkeit zwischen Menschen und Tauben. In dem Artikel "Materielle Semiotik der Zärtlichkeit" erzählen wir als Foto- und Videostory unsere nun 3-jährige Beziehung zu den Tauben, in der sich aktuelle Themen spiegeln, wie die Frage nach einem sorgsamen Umgang mit der beschädigten Umwelt, in der wir leben. Für die Frage, wie sich diese Beziehung in Kunst- und Theaterräumen erzählen lässt, beschäftigen wir uns mit Ursula K. Le Guins Tragtaschen Theorie. Anders als bei der Held*innengeschichte, die wie ein Pfeil linear verläuft und in einem Ziel mündet, ist die Tragtasche ein Gefäss, in dem sich mäandernde und mehrstimmige Erzähllinien miteinander verweben. Unsere sich kümmernden Räume mit ihren durchlässigen Wänden sind Tragtaschen, in denen sich eine Vielzahl an Geschichten sammeln. Um diese erzählbar zu machen, und zwar nicht nur verbal, sondern auch in einer materiellen, räumlichen Sprache, die aus dem Tun mit den Tauben heraus entsteht, suchen wir nach einer Semiotik der Zärtlichkeit.

Zusammen mit erst vier, dann fünf und mittlerweile dreizehn Tauben sind wir, Seraina Dür und Jonas Gillmann, eine artenübergreifende Performance Kompanie. Seit 2019 leben und arbeiten wir zusammen in verschiedenen Theater-, Kunst- und Atelierräumen. Von dem Beziehungs- und Erfahrungswissen, das wir dabei sammeln, erzählen wir in unserem Kunstprojekt, das an den Schnittstellen von Installation, Performance und Diskurs angesiedelt ist. Wenn im folgenden Text von einem Wir erzählt wird, sind damit Seraina Dür und Jonas Gillmann gemeint, im Unterschied zu WIR und UNSER in Grossbuchstaben, welche die artenübergreifende Performance Kompanie meinen.

Die Zusammenarbeit mit den Tauben und das Vorhaben, eine artenübergreifende Kompanie zu sein, besteht seit 2019 als künstlerisches Langzeitprojekt unter dem Titel Parlament der Dinge, Tiere, Pflanzen und Algorithmen in Zusammenarbeit mit dem Theater Neumarkt Zürich. Bis jetzt haben wir sechs Projektausgaben durchgeführt: Theater als Taubenschlag Theater als Taubenschlag. Installation und Performance, Neumarkt Zürich 2019. Mit Seraina Dür und Jonas Gillmann (Konzept und Durchführung), Sara Bernasconi (Leitung Pigeon Reading Group), Institut für textiles Forschen Basel (Raum) und den vier Stadttauben Iris, Camille, Bruno und Vinciane (2019, Neumarkt Zürich), Agilitypark Agilitypark. Installation und Performance, Neumarkt Zürich 2020. Mit Seraina Dür und Jonas Gillmann (Konzept und Durchführung), Sara Bernasconi (Leitung Pigeon Reading Group), Anne Linke (Architektur Taubenschlag), Vreni Speiser (Scéance), Sally de Kunst (Oeil Exterieur) und den fünf Tauben Möwli, Champ, Knorrli, Blu, Hans Ganz (2020, Neumarkt Zürich), Taubenzimmer Taubenzimmer. Installation, Helmhaus Zürich 2021. Von Seraina Dür, Jonas Gillmann und den fünf Tauben Möwli, Champ, Knorrli, Blu, Hans Ganz in Zusammenarbeit mit Anne Linke (Architektur Taubenschlag). Im Rahmen der Ausstellung Am nächsten Tag ging die Sonne auf (2020, Helmhaus Zürich), Rough Love Rough Love. Erzählen mit Tauben und Geschätzte Tiere. Installation und Performance, Theater Basel 2021. Mit Seraina Dür, Jonas Gillmann (Konzept Rough Love), Anne Linke (Architektur Taubenschlag), Nicole Schuck (Konzept Geschätzte Tiere) und dreizehn Tauben (2021, Theater Basel), 100 Ways to Say We: Parcticing Tenderness 100 Ways to Say We: Parcticing Tenderness. Video, Architektur Biennale Venedig 2021. Von Seraina Dür, Jonas Gillmann und den beiden Tauben Annie und Beth. Im Rahmen von Performing Architecture, Koproduktion Goethe-Institut, Biennale Venedig und Neumarkt Zürich (2021 Architektur Biennale Venedig) und Caring Architecture Caring Architecture. Lecture. Von Seraina Dür und Jonas Gillmann. Präsentiert u.a. bei Shared Campus (ZHdK 2021), Fördermodell m2act (Gessnerallee 2021), Propädeutikum Biel (Schule für Gestaltung Bern und Biel 2021), Otherwise Network (Zoom 2021), Re-Thinking Agency: Non-Anthropocentric Approaches (University of Warsaw 2022), eine Lecture mit der wir aktuell unterwegs sind. Zwischen den Projektausgaben leben wir und die Tauben in unserem artenübergreifenden Atelier in Basel oder die Tauben leben, so wie momentan, bei der Künstlerin und Komplizin Sandra Knecht in Buus, Baselland.

Für die einzelnen Projektdurchführungen kreieren wir räumliche und performative Settings. Die Settings sind Kalkül. Sie sind Verdichtungen von alltäglichem Leben, in denen eine leichte Verschiebung des vermeintlich Bekannten stattfindet. Was in den Settings genau passiert, zu welchen Begegnungen es zwischen Menschen und Tauben kommt, ist kontingent. Die Arbeit verändert sich laufend in einem Hin und Her zwischen Kalkül und Kontingenz.

Mit dem Vorhaben, eine artenübergreifende Kompanie zu sein, interessiert uns die Frage, wie wir mit der beschädigten Umwelt, in der wir leben, in Beziehung treten. Das Verhältnis von Menschen und Stadttauben ist voller Konflikte. Tauben gelten als eklige Krankheitsüberträger*innen und werden von offizieller Seite abgeschossen, um ihren Bestand zu regulieren.

Mit dem Wunsch, Beziehungen mit den als eklig erzählten Tauben einzugehen, stellen wir traditionelle Beziehungskonzepte in Frage, die oft auf Binaritäten wie süss/eklig, aktiv/passiv, Innenraum/Aussenraum, Kultur/Natur, menschlich/nicht-menschlich beruhen und lassen diese Grenzziehungen porös werden. Das Einlassen auf Beziehungen mit Tauben zwingt uns entweder dazu, die bestehenden Binaritäten zu festigen, oder es führt uns ihre Unbrauchbarkeit und Unanwendbarkeit im gemeinsamen Bestreiten von Alltag vor Augen. In letzterem Fall entstehen fluide Zwischenräume, in denen vielfältigere Formen des Zusammenlebens und andere Beziehungen auch mit der mehr-als-menschlichen Umgebung möglich werden. Von diesen Verschiebungen wollen wir in diesem Beitrag erzählen sowie von dem utopischen und politischen Potential, das sie in unseren Augen haben.

Da die Tauben zwar immer wieder Interesse an Tastaturen zeigen, nicht aber an der geschriebenen Sprache, lassen wir sie in diesem Artikel in Form von Bildstrecken und Videos auftreten. Es sind Bildergeschichten, die von Differenz und Machtgefällen handeln, vom Sterben, vom Abgeben von Macht – und vom Wunsch nach zärtlichen Beziehungen.

Ansätze für ein Verständnis von zärtlichen Beziehungen zwischen Menschen und Tauben finden wir im Buch Radikale Zärtlichkeit (2021) von Şeyda Kurt. Die dort beschriebenen Zärtlichkeiten können viele Formen haben, sind aber immer von einem Tun geleitet: von einem Schauen, einer Bewegung, einer Rücksichtnahme, die – je nach Absprache – nicht unbedingt sanft und behutsam sein muss. Es geht vielmehr um ein Handeln, das Anderen zuspielt, mit ihnen spielt, bejahend und produktiv ist, ohne schaden zu wollen (vgl. Kurt 2021:15).

Dieser Beitrag ist in vier Abschnitten aufgebaut. In Caring Architecture erzählen wir, wie wir Räume gestalten, die sorgsam und zärtlich für Menschen und Tauben sind. Im Abschnitt Rough Love geht es um die Beziehungen, die in diesen Räumen entstehen, und darum, wie wir zu einer artenübergreifenden Kompanie werden. In Spielen mit Tauben erzählen wir von der Kontingenz, die Begegnungen mit Tauben haben. Im Abschnitt Theater- und Kunsträume als Übungsfelder geht es schliesslich darum, wie wir den künstlerischen Prozess räumlich, installativ und performativ erzählbar machen. In Anlehnung an Ursula Le Guin beschreiben wir die Dramaturgie unserer Arbeiten als Tragetaschen, in denen sich Begegnungen und Materialitäten miteinander zu einem Performancetext verweben. Dieser Text entsteht aus konkreten, bejahenden, mit Şeyda Kurt: zärtlichen Handlungen. Von hier kommt auch der Titel des Beitrags, der unsere künstlerische Suche nach einer materiellen Semiotik der Zärtlichkeit beschreibt.

Caring Architecture

Der Taubenbestand wird in allen Schweizer Städten von offizieller Seite reguliert, allerdings auf verschiedene Weisen. In Basel gab es lange eine Antitaubenbaby-Pille, heute gibt es ein Taubenfütterungsverbot. In Zürich wurden Taubenschläge errichtet, in denen Taubeneier regelmässig entfernt und durch Gipseier ersetzt werden. Zudem werden Tauben regelmässig durch Wildhüter*innen der Stadt abgeschossen, jährlich sind es rund 6000. Die Feindschaft gegen Tauben zeigt sich auch in der Architektur der Städte. Fassaden sind mit Spikes und Draht versehen. Der Autor Fahin Amir spricht in dem Zusammenhang von einer Militarisierung der Fassaden gegen Tauben (vgl. Amir 2018: 88).

Uns beschäftigt die Frage, wie wir vor diesem Hintergrund Räume gestalten können, die, statt abzuwehren, zu trennen und zu zerstören, sorgsam und liebevoll mit ihren menschlichen und nicht-menschlichen Bewohner*innen sind. In unserer Arbeit entwickeln wir entlang dieser Frage räumliche Settings, die seit 2020 in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Anne Linke entstehen. Gemeinsam suchen wir nach einer Caring Architecture, die sowohl Menschen als auch Tauben gegenüber sorgsam ist.

Als erstes bauen wir in die jeweiligen Räume ein Flugloch ein, durch das die Tauben rein und raus können. Zuerst gewöhnen sie sich in einem Aussenbereich an den neuen Ort, danach finden sie sicher zurück und manchmal bringen sie ihre Stadtbekanntschaften mit.


Wir montieren Spickel an die Wand als Sitzgelegenheiten für die Tauben, bringen Stangen in der Höhe an, damit sie von oben herab das Geschehen überblicken können und lassen ein Wasserbecken schweissen. Anne Linke töpfert Schalen aus Keramik. Daraus essen wir mit den Tauben Porridge, worüber WIR uns alle freuen.

Tauben können fliegend gut Distanzen zurücklegen und Orte wechseln. Wir können das mit diversen Verkehrsmitteln auch ganz ordentlich. Wenn Tauben und Menschen zusammen Orte wechseln wollen, ist das eine Herausforderung. Wir schauen uns von einem Taubenzüchter einen Trick ab. Tauben können, wenn sie es üben, in einen Flugkasten fliegen. Wir bauen den Tauben einen gelb-orangenen Kasten und üben jeden Tag. Nach ein paar Wochen fliegen sie hinein. Reisen und Ortswechsel gelingen nun gut.

Rough Love

Mit den räumlichen Settings und der Caring Architecture schaffen wir Orte, an denen wir Beziehungen zwischen Menschen und Tauben üben.

Schnell finden wir allerdings heraus, dass unsere gängigen Vorstellungen von Romantik, die von einer Sehnsucht nach Kuscheln geprägt sind, in diesen Beziehungen nicht greifen. Berührungen von und geteilte Momente mit Tauben haben etwas Pickendes, Kratziges, Sich-Entziehendes, Punktiges, Roughes. Wir beschäftigen uns mit Konzepten von Zärtlichkeit und verstehen mit Şeyda Kurt zärtliche Beziehungen als etwas, das nicht unbedingt sanft und behutsam sein muss, das aber von einem konkreten Tun geleitet ist (vgl. Kurt 2021).

Die Spickel, die wir an die Wände montiert haben in der Hoffnung, dass sich die Tauben draufsetzen würden, werden von den Tauben nicht genutzt. Dafür zeigen sie aber grosses Interesse an unseren Sachen, sie nisten in unserem Kochtopf und machen es sich auf Kleiderstangen und in Küchenschränken bequem. Wir fragen uns, ob die gemeinsam-unterschiedliche Nutzung von denselben Gegenständen ein solches zärtliches Tun ist, wie es Şeyda Kurt beschreibt. Wir nutzen zusammen den gleichen Gegenstand und definieren ihn durch unser Tun neu. Über und mit dem Gegenstand beziehen WIR uns spielend, zuspielend, bejahend, produktiv aufeinander.

Rosi Braidotti schreibt in ihrem Buch Posthumanismus, Beziehung mit mehr-als-menschlichen Akteur*innen sei Relationalität, sei Verwicklung, sei Situation (vgl. Braidotti 2014: 42). Beziehung mit Tauben meint dann vielleicht, sich durch ein mehr-als-menschliches Gefüge verändern zu lassen. Beziehung meint Kontrolle abzugeben und doch Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln im Gefüge. Vielleicht sind WIR eine Art Organismus, ein Raum-Körper: Hier ist der Finger, dort das Ohr, das hier die Milz. WIR agieren zusammen, WIR bespielen Raum zusammen. Es ist nicht klar, wer auf wen schaut und wer wen beobachtet, WIR brauchen einander nicht zum Überleben, aber es ist schöner zusammen.

Wir haben einen Kompost, in dem 2000 Würmer, Asseln und viele Mikroorganismen unsere Abfälle und die Taubenscheisse zu neuem Humus machen, etwas bleibt aber immer übrig. Wir fragen uns, was ein guter Umgang damit ist.

Einen Raum zu gestalten, der in Bezug auf Sauberkeit sowohl für uns als auch für die Tauben funktioniert, ist gar nicht so einfach. Zu Beginn ist da Ekel, wir haben Angst krank zu werden und verbringen unsere gemeinsame Zeit mit Putzen. Mit der Zeit legt sich die Angst, wir gewöhnen uns an den Geruch der Tauben und an die viele Scheisse und werden sogar etwas blind dafür. Einmal macht uns ein Besucher darauf aufmerksam, dass wir den Raum regelmässiger putzen sollten, der Raum werde sonst zu einem Taubenschlag und darin würde er sich nicht mehr wohl fühlen.

Am Morgen des 13. Dezember 2020 fliegt eine Taube in die Scheibe der UBS am Paradeplatz in Zürich. Sie liegt danach mit abgerissenem Kopf auf dem Gehsteig, Passant*innen finden sie. Weil ausgeschlossen werden muss, dass die Taube von Menschen gequält wurde, wird die Polizei eingeschaltet. Der Wildhüter Christian Breitler bringt Seraina die Taube vorbei. Er meint, ihr Kopf sei von einer Krähe abgerissen worden. Wir lassen die Taube kremieren und bekommen die Asche eine Woche später in einem Stoffsack, dieser reist seitdem mit uns mit.

Spielen mit Tauben

Vinciane Desprets schreibt in ihrem Buch Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen, dass wir sehr gut sehen können, ob und wann ein Tier spielt (vgl. Desprets 2019: 32). Spielen beruht auch bei Tieren auf Vertrauen und Gegenseitigkeit und fusst auf der Annahme, dass die Spielenden gleichgestellt sind. Das Vertrauen rührt vor allem daher, dass für die Dauer des Spiels ein sicherer Raum hergestellt wird. Das Spiel folgt Regeln, aber es wird nicht von diesen definiert. Die Spielenden sind einander gleichgestellt, keine*r von ihnen nutzt im Rahmen des Spiels die Schwächen des*der anderen aus, es sei denn, es gehört zum Spiel. Dass das Spiel auf Gegenseitigkeit beruht, ist sogar die Bedingung: Kein Tier lässt sich gegen seinen Willen auf ein Spiel ein und es spielt kein Tier mit einem anderen, wenn es nicht spielen möchte.

Jonas Gillmann und Seraina Dür haben sich gegenseitig beim Spielen mit Tauben beobachtet, im folgenden Gespräch tauschen sie ihre Beobachtungen aus.

Jonas: Als WIR am Theater Basel waren, hatte ich einmal Löwenzahn gepflückt und die Blumen auf dem Tisch ins Wasser gestellt. Kurz darauf ist eine Taube auf den Tisch geflogen und hat begonnen den Strauss zu zerpflücken. Sie hat jede einzelne Blume in den Schnabel genommen und sie durch die Luft gewirbelt. Irgendwann hat sie die Blume losgelassen und ist durch die Luft geflogen. Eine zweite Taube ist dazu gekommen und dann noch eine. Es sah aus als würden sie eine Art Volleyball mit Löwenzahn spielen. Kaum lagen alle Blumen auf der Tischplatte, habe ich sie wieder ins Glas getan und das Spiel ging von vorne los. Ich denke, dass es im Spiel zwischen Menschen und Tauben um ein Voneinander-Lernen geht, nicht?

Seraina: Die Tauben haben dich, mich, die Besucher*innen imitiert. Die eine ist jeweils mit mir durch die Eingangstüre vom Theater Basel rausgelaufen und durch die Flugklappe wieder in den Raum reingeflogen, ich denke, sie hat mir das zur Türe Rausspazieren abgeschaut. Ich habe die Tauben auch imitiert, habe geübt mich in der Höhe auf Leitern zu bewegen, obwohl ich Höhenangst habe. Aber mit der Zeit ist es mir gelungen, in diesem für mich ungewohnten Raum eine Gelassenheit zu entwickeln und mit den Tauben Kontakt aufzunehmen. Einmal lag ich auf der Leiter und die eine Taube ist mir auf die Hand geflogen und dann zwischen meine Arme und wieder zurück auf ihre Flugstange. Ich musste lachen und sie hat das immer und immer wieder gemacht. Ich habe mich sehr gefreut darüber. Ich denke, es hat ihr auch Freude gemacht, wir haben zusammen ein Spiel entwickelt. Oder die Taube, die darauf gewartet hat, dass du dir die Zähne putzt! Kaum hattest du die Zahnbürste im Mund, ist sie dir auf den Ellbogen geflogen. Du am Zähneputzen, sie am Schaukeln.

Jonas: Die Biologin Iris Scholl, die uns in der Zusammenarbeit mit den Tauben von Anfang an berät, meinte einmal, wir sollen den Tauben nicht direkt in die Augen schauen, das würden nur ihre Feinde, die Marder oder Katzen, tun. Wenn ich wollte, dass eine Taube zu mir kommt, habe ich ganz bewusst weggeschaut, bis sie mir auf die Schulter geflogen ist, und dann habe ich vorsichtig den Blick zu ihr gerichtet. Diese Kontaktaufnahmen fand ich berührend, die haben für mich viel mit Zärtlichkeit zu tun.

Seraina: Die Zärtlichkeit ist auch zu sehen in den Begegnungen zwischen den Besucher*innen und den Tauben. Ich denke zum Beispiel an den Kurator und Leiter des Helmhauses, Simon Maurer, der unter dem Pseudonym Peccu Frost regelmässig als Sänger auftritt. Er ist an Weihnachten während der Corona-Pandemie zu den Tauben ins Zimmer gegangen und hat für sie gesungen. Er hat erzählt, dass er auf dem Weg zur Arbeit an der Wasserkirche vorbeigekommen sei, da sei ihm ein Notenblatt in die Hand gegeben worden. Er wollte singen und da sei ihm der Raum mit den Tauben in den Sinn gekommen. Er ist zu den Tauben gegangen und hat für sie gesungen. Für mich ist das ein Beispiel für eine zärtliche Begegnung zwischen Simon alias Peccu Frost und den Tauben. Das ist ein Zusammenspiel, das nicht von Jonas und mir initiiert worden war, aber der Raum für Begegnungen war da und hat zu diesem Zusammenspiel eingeladen. Der Raum hat es möglich gemacht, so sehe ich das.

Kunst- und Theaterräume als Übungsfelder

In UNSEREN Arbeiten schaffen wir Rauminstallationen, in denen Begegnungen zwischen Menschen und Tauben möglich werden. Die Begegnungen rahmen wir mit verschiedenen performativen Formaten. So gab es etwa eine regelmässig stattfindende Reading Group, Scéancen, Filmscreenings, eine Performance, mit der WIR auf Gastspiel gingen, eine Gesprächsreihe zur Mensch-Wildtier-Beziehung und Workshops mit dem Institut für Textiles Forschen Basel. Im Raum gab es Sitz-, Liege- und Klettermöglichkeiten, Spinat, Kefir, Kambucha und Porridge, eine kleine Bibliothek und einiges mehr. Die Formate sind Türen, durch die das Publikum mit dem Raum, Seraina, Jonas und den Tauben in Beziehung treten kann. Sie sind die Rahmungen, die den Begegnungen eine Form geben, in der sich im Idealfall sowohl die Tauben als auch die Menschen wohl fühlen. Wie die Eingriffe in die Theaterarchitektur entlang der Idee einer Caring Architecture sind auch die performativen Formate kalkuliert und wollen durchaus normativ ein sorgsames, zärtliches, sich kümmerndes Miteinander herstellen.

UNSERE Arbeiten sind in dem Sinne Übungsfelder für weniger anthropozentrische Begegnungen und Erzählungen. Dieses Anliegen setzt einerseits bei der Einsicht an, dass WIR in einer beschädigten Welt leben, in der andere Bezugnahmen zu der mehr-als-menschlichen Umgebung dringend nötig sind, und andererseits beim Bewusstsein darüber, dass die grossen Narrative, die diese (beschädigte) Welt erzählen, einer weissen, bürgerlich-patriarchalen Perspektive entspringen. Für die Frage, wie Erzählungen gehen könnten, die weniger dominant sind, ist für uns Ursula Le Guins Bild von der Tragetasche als Erzählweise Modell und Inspiration (vgl. Le Guin 2020). Anders als die Held*innengeschichte, die die Form des Pfeiles hat, der einstimmig und linear in ein Ziel mündet, ist die Tragetasche ein Netz aus vielen Erzähllinien, die kreisend und mäandernd nebeneinander herlaufen sowie Differenzen und Widersprüche stehen lassen und aushalten. Unsere Arbeiten sind so gesehen Nähateliers. Die Tauben, Seraina und Jonas, die Besucher*innen und das weite Umfeld unserer Arbeit mit allen Kompliz*innen weben gemeinsam an einem Text, in dem Grenzen und Binaritäten sichtbar und um-erzählt werden. Die Tauben sind an diesem Prozess beteiligt, sie sind Teil aller künstlerischen und sozialen Interaktionen. Die Tauben sind insofern wirkungsmächtig. Jonas und Seraina redigieren diesen Prozess, sind aber verstrickt und involviert. Es gibt zwar ein Innen und ein Aussen, aber keine Aussenposition.


Neben den Erzähllinien, die aus den Interaktionen und konkreten Handlungen zwischen Menschen und Tauben entstehen, sind Gegenstände relevanter Teil vom Performancetext. Diese Gegenstände verstehen wir mit Donna Haraway als materielle Semiotik (vgl. Haraway 2018). Damit meint Haraway eine Semiotik, die nicht an Worte gebunden ist, sondern eine, die sich über Materialien, Farben, Geräusche und Gerüche erzählt. An den Gegenständen, die in UNSEREN Räumen vorkommen, manifestieren sich Beziehungen zwischen Menschen und Tauben, ihre Bedeutungen entstehen aus dem konkreten Tun heraus.

Diese Gegenstände sind etwa der gelb-orangene Flugkasten, der für UNS gemeinsames Reisen bedeutet; die Fluglöcher, die die Techniker*innen in die Wände des Theaters einbauen und durch die der Raum für die Tauben und ihre Stadtbekanntschaften zugänglich wird; die rosafarbenen Gummihandschuhe, die sich allmählich von Putzutensilien zu etwas wandeln, über das WIR zusammen ins Spielen kommen; der Stoffsack mit der Asche, der Jonas und Seraina traurig macht, die Mitarbeiterin vom Kleintierkrematorium aber zum Lachen bringt; die Brotscheibe, welche die Intendantin den Tauben zur Eröffnung schenkt und die zeigt, dass WIR als Kompanie gesehen werden; das Küchenregal, das die Tauben zu ihrem Nistplatz machen; der Kompost, in dem UNSERE Abfälle zu Humus werden und aus dem Spinat wächst, den WIR zusammen essen; die Leiter, auf der sich die Taube freudig mit der in der Höhe ängstlichen Seraina zu Turnübungen trifft; der Löwenzahn, mit dem die Tauben in Jonas’ Beobachtung eine Art Volleyball spielen oder der Porridge, den WIR gemeinsam aus den Keramikschalen zum Frühstück essen.

Die Bedeutungen dieser Gegenstände sind sowohl den Tauben als auch Jonas und Seraina zugänglich, aber anders als Spikes, Draht, Netze, Händeklatschen, Pfeifen oder auch Fressnäpfe und Hundeleinen suchen sie nach einem Miteinander, in dem sich die Akteur*innen zärtlich, bejahend aufeinander beziehen.

Kunst- und Theaterräume zusammen mit Tauben zu bespielen rückt Akteur*innen in den Vordergrund, die nur selten gehört werden, rüttelt an traditionellen Binaritäten, fordert Institutionen heraus und ermöglicht ein neues Selbstverständnis. Theater- und Kunsträume bespielen wir in Parlament der Dinge, Tiere, Pflanzen und Algorithmen ganz traditionell als Orte, an denen aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen verhandelt werden. Wir machen Theater- und Kunsträume zu Übungsfeldern, in denen Menschen lernen, Tauben zuzuhören und von Tauben zu lernen. Menschen lernen, dass Häuser nicht nur für sie gedacht sein müssen, dass Wände verbinden können und dass der Umstand als Mensch zurückzutreten, zur Ruhe zu kommen und hinzuhören keinen Privilegienverlust bedeutet. Jonas und Seraina ersetzen Romantik durch Zärtlichkeit, weil sie ein Tun, ein Handeln beschreibt und bekommen Mut, Beziehungen aus den Handlungen heraus zu denken, die drängend und ungewohnt sind, dabei aber stets lustvoll bleiben.

Literatur

Amir, Fahin (2018): Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte. Hamburg, Edition Nautilus.

Bernasconi, Sara/Dür, Seraina/Gillmann, Jonas (2020): Theater als Taubenschlag. Zürich, Theater Neumarkt.

Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus. Berlin, Suhrkamp. 

Braidotti, Rosi (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt am Main, Campus.

Despret, Vinciane (2019): Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen. Münster, Unrast.

Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main, Campus.

Kurt, Şeyda (2021): Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. Hamburg, HarperCollins.

Le Guin, Ursula (2020): Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft: Essays, Reden und ein Gedicht. Klein Jasedow, ThinkOya.

Ziemer, Gesa (2013): Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Bielefeld, transcript.


Kurzbiografien der Autor_innen: