Eine ästhetische Auseinandersetzung mit Kunstunterricht etablieren
Lehramtsstudierende beschäftigt beim Hospitieren alltäglicher Unterrichtslektionen die Frage, wie stark Schüler*innen ihr Verhalten im Kunstunterricht auf die am Ende der Einheit zu erwartende Bewertung ihrer bildnerischen Arbeit ausrichten. Mit diesem Beitrag greife ich mit dem Unterrichtsbeispiel Ritterspiele (vgl. Villiger 2025) das Dilemma des sich selber Einschätzens und gleichzeitig Eingeschätzt-Werdens auf. Im Nachgang einer Hospitation vergegenwärtigen drei Studierende ihr eigenes Schüler*innen-Sein unter dem Aspekt des Bewertet-Werdens. In der Verschränkung des Blicks zurück mit der Perspektive des aktuell Gesehenen (vgl. Schürmann/Kast 2022) geraten Überlegungen für ein zukünftiges Handeln im eigenen Unterricht in den Blick. Die drei sehen mit Erstaunen, wie sich das Verhalten der Schüler*innen in ihrem performativen, mitvollziehenden Bezugnehmen auf eine Bildvorlage aus der Renaissance aufbaut. Sie nehmen die von der Bildbesprechung ausgehende Wirkung im Raum als nahezu greifbar wahr. Sie erleben, wie die projizierte Malerei über ihre Sichtbarkeit hinaus lange Zeit im Bewusstsein bleibt und in der darauf aufbauenden zeichnerischen Umsetzung eines Ritterwettkampfes aus dem mittelalterlichen Turnierwesen über das Objektstudium mittels Playmobilfiguren aufgegriffen, vertieft und transformiert wird. Damit verknüpft, erfahren die Studierenden, wie sich die Aussicht auf die Bewertung der Leistungen ihrer zeichnerischen Auseinandersetzung auf den schulischen Wettkampf im Kunstunterricht überträgt.
Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit der Professionalisierung von Studierenden im Fach Kunstpädagogik wurde die Übungsanlage scheinbar unscheinbar Scheinbar unscheinbar: Auf den ersten Blick wirkt das, was sich im institutionell Angelegten, aber dennoch in mancher Hinsicht Unvorhersehbaren alltäglicher Unterrichtspraxis sinnlich wahrnehmen lässt, ‚scheinbar unscheinbar‘. Wird dieses vorerst Alltägliche zum Wahrnehmungsgegenstand erklärt, kommen unterschiedliche Vorstellungen und Fachverständnisse, wie sich Kunstunterricht zeigt, ins Spiel. (vgl. Villiger 2019: 190–202) entworfen, umgesetzt und ausgewertet: Mit einer kunstpädagogischen Haltung beschreiben darin Lehramtsstudierende im Master Art Education über poetisch-literarische Verfahren, was sie in Hospitationen individuell beobachten, und was sie daran persönlich „trifft“ (vgl. Sturm 2005, 2011). Mit dem Beispiel Ritterspiele konnte in der Auswertung von scheinbar unscheinbar vor dem phänomenologischen Hintergrund in Bezugnahme auf Maurice Merleau-Ponty (vgl. 2003) gezeigt werden, wie sich eine eigene Spur für zukünftiges Handeln im (Kunst‑)Unterricht bilden kann. Über ein geduldiges Herausarbeiten von Deutungszusammenhängen liess sich darstellen, wie in einem Wechsel zwischen dem Anfertigen von Notaten und dem Austauschen mit Peers (Bewusstwerdungs‑)Prozesse stattfinden, die sich komplexer kunstpädagogischer Herausforderungen annehmen, um Ausrichtungen für zukünftiges Lehren diskutierbar machen zu können. Damit wurde in einem heuristischen Verfahren (hier nehme ich Bezug auf Alexander G. Baumgarten – vgl. Allerkamp/Mirbach 2016; Baumgarten 1739/1779/2007a, 1739/1779/2007b –, den Begründer der Disziplin Ästhetik in der Mitte des 18. Jahrhunderts) beschreibbar, wie sich Erfahrung aus jenem ersten Aufmerken als Besuchende im Unterricht durch die Gestaltung von Wahrnehmung und in der Auseinandersetzung mit anderen bilden kann.
Das Einschätzen und Bewerten-Müssen (vgl. Häcker 2011; Berndt/Häcker/Leonard 2017; Küper 2022; Wyss 2013) des im Unterricht Entstandenen wurde innerhalb der Erhebung scheinbar unscheinbar (2016–2021) von den Lehramtsstudierenden immer wieder als Dreh- und Angelpunkt gelesen, an dem sich die Handlung aller Beteiligten ausrichtet und letztlich scheitert (vgl. Villiger 2025: 103ff.). Gar selten liessen sich Perspektiven für einen Bildumgang ausfindig machen, in denen eine gemeinschaftliche, sinnstiftende, ästhetisch anspruchsvolle Auseinandersetzung etabliert wurde – sei es mit fremden, oder aber eigenen Bildern. Im Rahmen der Erhebung ist diesbezüglich ein weiteres Beispiel zu nennen: Ein Walfisch – weil’s so aussieht (vgl. Villiger 2025, S. 159–194). Auch im Beispiel Ritterspiele wird das Gemessen-Werden und der schulische Selektionswettbewerb auf langen Strecken als jene Herausforderung wahrgenommen und dargestellt, die das Unterrichten des Künstlerischen wie des Ästhetischen eher behindert als ermöglicht. Im Prozess der Nachbearbeitung greift jedoch plötzlich eine Vorstellung (bei Baumgarten ‚Intuition, Einbildungskraft‘), die bereits während des Anwesendseins im Unterricht virulent war: Sie führt zu einem Kippmoment in den Sichtweisen. In der Wahrnehmung der Studierenden ist es das Mimetische in den mitvollziehenden Interaktionen der Lehrperson von Bilddetails einzelner Schüler*innenarbeiten, das sich auf die Klasse auswirkt und nach und nach bildlich auf die entstehenden Werke der Jugendlichen überträgt. Die Schlüsselsituation wird in Kurztexten rund um das Sprachstück Die Dissertation unterscheidet qualitativ zwischen Text- und Sprachstücken, die Arbeit an den Kurztexten ist als Prozess konzipiert, innerhalb dessen die Textstücke eine Vorstufe zu den eigentlichen Sprachstücken bilden.: Ein Stift steckt in der Warteschlaufe fest (Abb. 3) aufgegriffen. Für mich als Dozierende und Forschende steckt in der pädagogischen Studierendenbeobachtung jener Zündstoff, der ein Aufgreifen des Einschätzen-Müssens der Studierenden wie des Eingeschätzt-Werdens der Schüler*innen initiiert: Gemeinsam mit weiteren Kolleg*innen möchte ich im Rahmen einer Projektwoche die ästhetische Auseinandersetzung mit Werken von Schüler*innen über das Mimetische mit Lehramtsstudierenden aufgreifen.
Innerhalb der Abteilung Master Art Education wurde entlang dieses Anliegens im Rahmen der Netzwerkveranstaltung (NWV) 2024 für die Kunstlehrer*innenbildung das Workshopformat mind the gap entwickelt, das dem Auftrag des Bewertens von Ästhetischem in der Rolle der Kunstlehrperson etwas entgegenzuhalten versucht. In verschiedenen, parallel stattfindenden Workshops begegneten wir den in fremdem Kunstunterricht entstandenen, anonymisierten Arbeiten von Schüler*innen über mimetische, imaginative Aneignungen und performativ-künstlerische Annäherungen. Ziel war, eine ästhetische Auseinandersetzung in Gang zu bringen – und daran Interaktionen mit Bildern im Labor der Hochschule zu erproben. In der Konsequenz wären solche ästhetischen Einschätzungen in einem nachfolgenden Schritt zusammen mit den Autor*innen der Werke, den Schüler*innen, fortzusetzen. Die Beteiligung von Schüler*innen war uns aus organisatorischen Gründen innerhalb des Experiments NWV nicht möglich.
Dieser Beitrag spannt damit den Bogen von der Übungsanlage scheinbar unscheinbar zu den Workshops von mind the gap, die Übungen für einen ästhetischen wie künstlerischen Zugang im Einschätzen und Bewerten von Schüler*innenarbeiten enthalten. Darin nimmt die Bedeutung jenes mimetisch verankerten Bildumgangs, der in den Äusserungen der Studierenden beschrieben wird, eine zentrale Stellung ein. Die Konzeption bezieht dabei Sprechen, Gestalten und den Einsatz von KI-Tools mit ein. Mit den ästhetischen Workshops mind the gap soll nicht nur eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Geleisteten ermöglicht werden, sondern sie wollen ebenso zu einem sensibleren und differenzierteren Umgang mit der Bewertung, Deutung und Würdigung im kunstpädagogischen Kontext beitragen.
Forschungsanlage scheinbar unscheinbar
In der Forschungsanlage scheinbar unscheinbar werden Studierende eingeladen, fremde Unterrichtssituationen Lektionen, die von Lehrpersonen an Kantonsschulen in der Stadt Zürich gehalten worden sind, in einem alltäglichen Setting. in Kleingruppen selbstständig zu besuchen, um die daraus gewonnenen Beobachtungen im Nachgang phänomenologisch wie poetologisch in eine Form zu überführen. Dies mit dem Gedanken, in der hochschuldidaktischen Ausbildung eine Aufmerksamkeit für (Kunst‑)Unterricht zu implementieren, die nicht im Voraus steuerbar ist, da sie sich nicht an einem bestimmten inhaltlichen Gegenstand ausrichtet, sondern mit anderen Bedingungen arbeitet: Dieses scheinbar unscheinbare Hospitieren hat einesteils das Üben ästhetischer Wahrnehmung am (Unterrichts‑)Geschehen im Fokus, andernteils versteht sich der Vorgang des Wahrnehmens selbst als ein gegenseitiges Austauschen und Abgleichen. Dies impliziert zweierlei: Zum einen müssen sich die Übenden im eigenen Praktizieren selbst aussetzen, sodass sich dabei ‚etwas‘ ereignen kann; es handelt sich insofern um ein davor nicht Dagewesenes, ein nicht abrufbares ‚etwas‘. Das Format scheinbar unscheinbar setzt zum anderen den Austausch einer Gemeinschaft Übender voraus, die über ihre Beobachtungen aus der Hospitation kommunizieren, sich gegenseitig Rückmeldung geben und dabei Verschiebungen der eigenen Wahrnehmung zulassen. Als verschriftlichte Form des dabei Erlebten, das damit zu Erfahrung werden kann, entstehen Sprachstücke. Sie lassen sich als Manifestationen dieses Prozesses lesen, der von den Lesenden wiederum verlangt, die studentischen Texte zu kontextualisieren, um sie für eigene Situationen fruchtbar zu machen.
Theoretische Bezugnahme: das Sprachästhetische in Merleau-Pontys Denken
In Anlehnung an Maurice Merleau-Pontys Erfahrungsbegriff denkt scheinbar unscheinbar den sprachästhetischen Prozess in der Übungsanlage im Sinne eines Stils von Ausdrucksmitteln, die künstlerischen Werken eigen ist (vor diesem Hintergrund entstehen Sprachstücke Der für die Übungsanlage geprägte Begriff Sprachstück nimmt Verbindung zu Kunststück als auch Theater- oder Aufführungsstück auf. Der Begriff „Sprachstück“ geht historisch betrachtet auf eine grammatikalische Übung aus dem 19. Jahrhundert zurück, nämlich den Übungsstoff für den Unterricht im Deutschen, der an Sprachstücken im Sinne von Beispielen vermittelt wurde (vgl.: Knab/Kobmann/Lober 1887: 3ff.). In diesem Lehrmittel aus dem Jahr 1887 wird an sogenannten „Sprachstücken“ beispielhaft Sprache, wie „Die Tierstimmen“, vermittelt. (Diesen Hinweis verdanke ich Irene Vögeli, Ästhetik Kolloquium vom 31.10.2023.)). Scheinbar unscheinbar nimmt in diesem Sinne eine Folge von Ereignissen an, die sich weder in einer zeitlichen Aneinanderreihung lesen und interpretieren lassen noch als Vorkommnisse direkt übersetzt werden können. Christian Bermes fasst Merleau-Pontys Zeitverständnis im künstlerischen Vorgang als eine Bewegung auf, die Ereignisse hervorbringt, „die eine historische Einheit erst begründen“ (vgl. Bermes 2003: XXVII), um in der Verschränkung ihre eigene Kategorie zu bilden. In der Übungsanlage scheinbar unscheinbar wird das in der Hospitation Beobachtete einem Prozess ausgesetzt: Was mit einem unbewussten Aufmerken beginnt, wird vielleicht erst über den Austausch mit anderen der Gruppe zu einem der ‚Punkte‘ oder Stiche, die reizen oder stören. Daraus kann im weiteren Verlauf der Anreicherung durch die Erlebnisse der Mitstudierenden etwas werden, das als Bild oder Narration fassbar wird. Über Formen der Verschriftlichung wird es zur Lektüre im Plenum, erfährt Resonanz, die weitere Diskussionen und Fragen in Bewegung bringt. Schliesslich erfolgt eine erneute Redaktion über den Text. Die Textarbeit am Sprachstück ist somit lose gekoppelt mit Medienwechseln und den einhergehenden Verschiebungen zwischen mündlich, schriftlich, dreidimensionalem, räumlichem Sehen von Unterricht und erneut durch den Text gelenkten Augenbewegungen. Sie entfaltet sich in der Bewegung zwischen einem Sehen und Hören im Schulzimmer, einem Sprechen, Schreiben, Lesen allein und in der Gruppe: Alles dies wirkt wechselseitig aufeinander ein. Dadurch unterscheidet sich die Übungsanlage von Schreibszenen in der Literaturtheorie (vgl. Hausendorf 2008; Hausendorf et al. 2017) hin zum Kunstpädagogischen. Erfahrung wird in scheinbar unscheinbar als ‚etwas‘ ansprechbar und formbar, was im Austausch entsteht: zwischen individueller schreibender Tätigkeit und gemeinsamer Reflexion in der Gruppe.
Mit dieser Einführung in den Prozess der Übungsanlage wird hier in die Überleitung zu einem der Beispiele aus der Erhebung von scheinbar unscheinbar eingelenkt. In diesem fragen sich drei Studierende, wie mit der Ambivalenz, künstlerische Prozesse selektiv zu bewerten, umgegangen werden kann. Sie nehmen wahr, dass Kriterien nur bedingt ‚Massstäbe‘ sind, woran das Ästhetische ‚gemessen‘ werden kann. Und sie fragen sich, unter welchen Bedingungen in ihrer zukünftigen Rolle als Lehrperson sich eine Praxis des ästhetischen Austausches in der Klasse etablieren liesse, in der sich die Subjekte gestalterisch einbringen können, – und wie sich dies darüber hinaus im Fach Bildende Kunst einrichten liesse.
Beispiel Ritterspiele – Paolo Uccellos Drachenkampf
Das Bild Drachenkampf in der Darstellung Paolo Uccellos um 1470 (Abb. 1) ist Ausgangspunkt für eine mehrteilige Unterrichtseinheit. Inhalt des Unterrichts, der von den drei Lehramtsstudierenden besucht wird, ist das perspektivische Zeichnen am Übergang von Beobachtung, Wahrnehmung und perspektivischer Konstruktion. Uccellos Darstellung dient als Inspiration für eine Komposition, die, von den figürlichen Elementen der Legende des Heiligen Georgs ausgehend, weitergedacht und umgesetzt werden soll. Für die Umsetzung stellt die Lehrperson ein Arsenal von Playmobilfiguren (Abb. 2) in einem Lederkoffer zur Verfügung, aus dem die Schüler*innen sich ihre eigene kleine Szene für das Objektstudium zusammenstellen können. Auf dieser Szene basiert das Sprachstück: Ein brauner lederner Koffer öffnet sich (Abb. 4; vgl. auch Villiger 2025: 231ff.). Im Mittelpunkt steht der Drache als Fantasieobjekt. Dieses soll in eine Märchenlandschaft eingebettet werden, die ergänzt wird durch die Übersetzung der (Playmobil‑)Figuren in ein eigenes Narrativ. Die Ambivalenz der Bildvorlage aus dem Quattrocento, die eine Illusion von Raum in einzelnen Bildteilen perspektivisch umsetzt und an anderen Stellen naiv wiedergibt, darf und soll auch in den Schüler*innenarbeiten sichtbar werden. Lerninhalt des Unterrichtsprojekts ist das Ausprobieren mehrerer Möglichkeiten perspektivischer Darstellung: im ästhetisch Produktiven der eigenen Darstellung wie auch im ästhetisch rezeptiven Vollzug der Darstellung Uccellos. Im Wechsel des sich selbst Herausforderns über die Suche nach eigenen, singulären Lösungen wie auch im angeleiteten Üben perspektivischer Konstruktionen soll sich die gewünschte Transformation vollziehen.
Abb. 1: Paolo Uccello, Drachenkampf, um 1470, Vorlage für die Bildbesprechung zum Thema Perspektive
Austauschgespräch in der Hospitationsgruppe
In einem 45-minütigen Gespräch, das die drei Studierenden wie alle weiteren Gruppen in je separaten Räumen führen, Tonaufzeichnungen mit anschliessender Transkription. Die Gespräche fanden in parallelen Gruppen statt und wurde mit schriftlichen Leitfragen strukturiert, Datum 17.11.2018. Ich zitiere im Folgenden aus diesen Transkripten, die mir vorliegen und bei Bedarf eingesehen werden können. findet einen Tag nach der Hospitation im Fachdidaktikseminar ein Abgleich zu dem statt, was im Schulzimmer beobachtet und notiert wurde – bewusst ort- und zeitverschoben. Die ausgehändigten Bögen mit vier Leitfragen In der Gruppe machen die Hospitierenden transparent, was wahrgenommen und festgehalten wurde. Es soll durch Rückfragen der anderen zu Schärfungen und Klärungen führen. Das führt zu einem Anreicherungsprozess, indem die Sichtweisen ergänzt und damit mehrperspektivisch werden (vgl. Villiger 2025). sollen helfen, die Gespräche zu strukturieren und dienen zusammen mit den Notizen der Studierenden als Grundlage für erste individuelle Textskizzen. Über die kommenden Wochen werden sich daraus in einem langen, geduldigen Schreib- und Austauschprozess die Sprachstücke entwickeln. Im Folgenden gehe ich auf das Beispiel Ritterspiele ein, in dem Paolo Uccellos Drachenkampf im Mittelpunkt steht. Dabei tauchen Fragen zum (perspektivischen) Messen und Gemessen-Werden auf.
Aus der Perspektive der Studierenden zeichnen sich folgende Fragen ab: Welche Bedeutung haben Messen und Schätzen, Abwägen und Vergleichen im Kunstunterricht? Wo ist Messen und Bewerten sinnvoll? Wie steht dieses im Verhältnis zur Entwicklung eines ästhetischen Geschmacksurteils? Was löst es bei Einzelnen aus? Und: Wie kann darüber ein Austausch in Gang gesetzt werden, der sowohl das Messen- und Vergleichen, das Ins-Verhältnis-Setzen und Einschätzen fördert, und gleichzeitig die Lernenden, die sich damit beschäftigen, wertschätzend unterstützt.
Gesprächsverlauf
In der Einstiegssequenz des Gesprächs werden die Rahmenbedingungen, innerhalb derer der besuchte Kunstunterricht stattfindet, aufgespannt: Raumeindruck und Atmosphäre anhand von Innenarchitektur und Gegenständen sowie Wiedererkennen von bekannten Unterrichtssituationen werden umrissen. Danach richtet sich der Fokus auf die Rhythmisierung der Doppellektion, welche den Aufbau der Kompositionsaufgabe für die Schüler*innen umreisst. Das Gespräch verweist auf die Verschränkung von fantastischen mit realistischen Elementen, die in der mehrperspektivischen Lösung in Anlehnung an Uccellos Vorgehen per szenischem Aufbau mittels Playmobilfiguren und Umsetzung in den eigenen Zeichnungen herausgefordert wird.
Die drei Studierenden äussern sich überrascht, mit welcher Begeisterung die 14-Jährigen in die Bildbesprechung eingestiegen sind. Entgegen den anfänglichen Bedenken der Studierenden zeigen sich die Schüler*innen gefesselt von der blutigen, kämpferischen Vorlage mit Mord und Todschlag, in deren Zentrum die romantische Beziehung zwischen Ritter und Prinzessin gelesen wird. Die drei Studierenden stellen verwundert fest, dass die Jugendlichen spontan die Thematik des Drachens mit der ebenfalls im europäischen Mittelalter angesiedelten mehrteiligen Saga Game of Thrones von George R. R. Martin aus der Pop-Kultur assoziieren, was im Weiteren einen Brückenschlag zum ‚christlichen Bild‘, wie es die drei nennen, entstehen liess. Zu ihrem Erstaunen löst die Bildbetrachtung blühende Fantasien und Diskussionen zum Rittertum aus und wird mit Geschichten, die an Grausamkeiten wie Romanzen nicht zu überbieten sind, angereichert.
Aus den Gesprächsäusserungen der Studierenden ist engagiertes Interesse an einem Abgleich ihrer Beobachtungen zu einzelnen Schüler*innen und deren Handlungen wie Verhalten in der Gruppe während der Doppellektion zu lesen. Schliesslich erleben die drei im Nacherzählen einzelner Situationen durch verbales wie nonverbales Einstimmen eine erweiterte Ebene des Gesprächs. Es wird zusammen gelacht und auch geschwiegen sowie mit lautmalerischen Impulsen aufeinander reagiert. Das gemeinsame Nacherleben der Hospitation drückt sich zeit- und raumversetzt durch innere Teilnahme aus.
Im ersten Drittel des Gesprächs kommt die Rede auf die Kommunikation der Lehrerin mit den Schüler*innen. Diese drückt sich über fachliche wie körperliche Präsenz aus, sie nimmt mit „ernsthaften Erklärungen“ (vgl. Szene 6) auf den Bildinhalt Bezug. Doch nutzt diese Lehrerin ebenso ihre Mimik, um mit den Schüler*innen zu „reden“ (vgl. ebd.), wie die Studierenden beobachten: Indem sie „lieb mit den Augen“ (vgl. ebd.) auf sie eingeht, oder die entstehenden Arbeiten mit Geräuschen kommentiert. Sie greift das, was sie auf den Zeichnungen wahrnehmen kann, auf und kommt nonverbal in Kontakt mit den Schüler*innen: Sie mimt das Pferd oder das Geräusch des Reitens, ohne zu sagen, dass sie dieses in der Zeichnung wiedererkannt hat. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass in einem Fantasiewesen jener Drache „böse genug blickt“ (vgl. ebd.), um in der Szene den entsprechenden Auftritt zu haben. Dazu stellt sie die Hörner des Drachens gestisch am eigenen Kopf dar und nimmt damit den Schüler (m.), der dies darzustellen versucht, ernst.
>>lacht hell auf <<
Im weiteren Verlauf geht das Gespräch der drei Lehramtsstudierenden auf Situationen ein, in denen in Einzelgesprächen bei der Lehrperson Rat gesucht wurde. Bis die Sprache auf jene Episode kommt, in welcher sich fast alle gleichzeitig melden, um darauf zu warten, eine individuelle Unterstützung für ihr Weiterarbeiten zu erhalten. Die Schüler*innen strecken hierzu die eine Hand in die Luft, während die andere auf dem Papier weiterzeichnet. Sie warten still mit in die Höhe gehobener Hand. Einige der Hände beginnen zu wippen, vielleicht um sich bemerkbar zu machen. Die Erzählerin berichtet ihre Sicht der Situation in Analogie zum Ritterbild, das für sie darin gegenwärtig wird:
Das Beispiel Ritterspiele ist thematisch von der kunstgeschichtlichen Vorlage mittelalterlicher Ritter(wett)kämpfe inspiriert und nimmt sich die Übertragung des Motivs anhand von Spielfiguren, von Playmobilrittern, zur Aufgabe: aufgefasst als ein Sich-Messen im Duell. Dies soll empirisch und ohne Einführung perspektivischer Konstruktion geschehen, ganz auf der Basis des Sehens und Messens von räumlichen Verhältnissen und figürlichen Proportionen und ihrer Übertragung auf die Fläche. Von der Mehrheit der Schüler*innen wird dieses Objektstudium als sehr herausfordernd eingestuft; für sie war es ein Versuchen und ein Sich-Annähern an Darstellungsmöglichkeiten in der zweidimensionalen Bildebene.
In ihrem zweiten Text Ein Stift steckt in der Warteschlaufe fest (Abb. 3) stellt dieselbe Studentin die Situation visuell dar, wie die Schüler*innen ihre Hände hochhalten, um die Lehrerin zu rufen. Eine mit der Bleistiftspitze nach oben, sodass diese wie ein Schwert in die Luft ragt. Andere mit den Bleistiften nach unten, indem sie weiter auf das Papier zeigen, die andere Hand nach oben gereckt. Im Wettbewerb des Ritterkampfs, der ein stark codiertes Verhalten beinhaltet, nimmt diese Haltung eine symbolische Geste auf, was Bereitschaft, Respekt, Ehre oder Sieg meinen kann:
Der Text in der obigen Darstellung:
Das Beispiel Ritterspiele – unter Hinzuziehen von weiterem Material aus der Gruppe – kann wie folgt gelesen werden: Die auf Hilfe hoffenden Schüler*innen mit der einen hochgehaltenen Hand verleiten weitere dazu, sich anzuschliessen. Während des Wartens verlieren sie den (Blick‑)Kontakt zum Objekt – das Zeichnen kommt ins Stocken. Und während die Schüler*innen zu fragen beginnen: „Sie, ist das gut so? Darf ich das so machen?“, meint die Lehrerin zur Klasse gewandt, es sei nun genug: „Versucht euch selber zu helfen!“ (aus dem ersten Text derselben Studierenden). Da beginnt eine umgekehrte Reaktionskette: Es gibt einige, die sich entschliessen, den zeichnerischen (Wett‑)Kampf mit der Playmobilfigur aufzunehmen. Sie fühlen sich aufgefordert, selbstständig zu zeigen, was sie können. Ein weiterer Text Ein brauner lederner Koffer öffnet sich (Abb. 4) erzählt von zweien, die sich im Duell auf dem Papier begegnen: einem Schüler (m), der sich in der Ritterrolle dem Playmobilritter gegenübersieht, um ihn perspektivisch übers Eck darzustellen und sich damit, wie sich zeigt, im Verbund der Klasse zu messen. Der Gegner besteht sinnbildlich in der Figur, die dargestellt werden will (vgl. Villiger 2025: 231ff.).
Im diesem Text geschieht ein markanter Blickwechsel: Im schulischen (Leistungs‑)Wettbewerb der gestalterisch anspruchsvollen Aufgabe fühlen sich Schüler*innen gefordert; die Übertragung der Bildinhalte jedoch und die Aufforderung der Lehrperson, sich aktiv hineinzubegeben und es selbstständig zu versuchen, scheint die Anspannung, es richtig machen zu wollen, etwas zu lösen. Ein künstlerisches Verständnis müsste im Sinne von Merleau-Ponty (2003) dieses Sich-in-Beziehung-Setzen enthalten, das sich im leiblichen Ausdruck und somit im persönlichen Stil verankert. Erst dann werden Sinnzusammenhänge entdeckt.
Mit den Workshops mind the gap zum Thema Bewerten wird der Blick auf das, was im Unterricht entsteht, von der anderen Seite, von der Seite der Lehramtsstudierenden her geführt. Die Wirkung der Bildbesprechung Ritterspiele greift in der Verlängerung mimetischer Handlungen – in der Wahrnehmung der Studierenden – spielerisch etwas auf, das sich nach und nach bildlich auf die entstehenden Werke der Jugendlichen überträgt. Mit den Workshops der Netzwerkveranstaltung wird dieses Interagieren mit Werken aus dem Kunstunterricht mittels verschiedener Disziplinen Siehe hierzu die in diesem Band aufgeführten Workshops in dem Beitrag Drei Fragen an – künstlerisch-ästhetische Antworten auf Schüler*innenarbeiten finden. aufgenommen und vertieft: indem mit Lehramtsstudierenden das ästhetische Handeln probeweise an – nur als Produkt und nicht vom Prozess her bekannten – Schüler*innenarbeiten über eine Resonanzerfahrung angewendet wird. Diese kann im Berühren, Bewegen, Pantomimen, aber auch Sprechen, Spielen, im künstlerisch Verfremden mit gelesen werden als Beziehungsaufnahme mit der Welt, welche sich in den Schüler*innenwerken künstlerisch und ästhetisch ausdrückt. In der Auseinandersetzung und dem sich ‚Abarbeiten‘ mit und an dieser Welt, entsteht das, was wir heute Subjektivität nennen (vgl. ebd.: 394). Aus dieser Arbeit entsteht eine Form der Weltbeziehung, die den Grund legt für Sozialität und Gesellschaftlichkeit des Menschen (vgl. ebd. sowie Iris Laners Beitrag in diesem Band). Vor diesem Hintergrund des Handelns an und mit der Materialität der Werke werden die emotionalen Narrative der Jugendlichen aufgenommen und in der Kombination von verbaler mit nonverbaler Kommunikation weitergetragen und interpretiert. Ausgehend von ihren Weltbezügen lassen sich damit jene Öffnungen ausmachen, in denen sich Schüler*innen als Person im Unterricht einbringen und beitragen können.
Literatur
Allerkamp, Andrea/Mirbach, Dagmar (Hg.) (2016): Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik. Hamburg, Meiner.
Baumgarten, Alexander Gottlieb (1739/1779/2007a): Aesthetica / Ästhetik (1750) und Aestheticorum pars altera / Der Ästhetik anderer Teil (1758). Übersetzt von Dagmar Mirbach. In: ders., Ästhetik. Philosophische Bibliothek, Bd. 572a/b. Hamburg, Meiner, Bd. 1, S. 3–563 (Aesthetica) und Bd. 2, S. 597–923 (Aestheticorum pars altera).
Ders. (1739/1779/2007b): Metaphysik [Metaphysica]. Übersetzt von Dagmar Mirbach. In: ders., Ästhetik, Bd.2. Anhang: Referenzstellen aus Baumgartens Metaphysica und Ethica philosophica, S. 1051–1116. Philosophische Bibliothek 572b. Hamburg, Meiner.
Berndt, Constanze/Häcker, Thomas/Leonhard, Tobias (2017) (Hg.): Reflexive Lehrerbildung revisited. Traditionen – Zugänge – Perspektiven. Studien zur Professionalisierung und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt.
Bermes, Christian (2003): Wahrnehmung, Ausdruck und Simultanität. Merleau-Pontys phänomenologische Untersuchungen von 1945 bis 1961. In: Merleau-Ponty, Maurice, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Philosophische Bibliothek, Bd. 530, Hamburg, Meiner, S. XI–XLIX.
Häcker, Thomas (2011): Portfolio revisited. Über Grenzen und Möglichkeiten eines viel versprechenden Konzepts. In: Mayrberger, Kerstin/Münte-Goussar, Stephan/Schwalbe, Christina (Hg.), Kontrolle und Selbstkontrolle: Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 161–183.
Hausendorf, Heiko (2008): Interaktion im Klassenzimmer: zur Soziolinguistik einer riskanten Kommunikationspraxis. In: Willems, Herbert (Hg.), Lehr(er)buch Soziologie. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1. Aufl., S. 931–957.
Hausendorf, Heiko/Kesselheim, Wolfgang/Kato, Heiko/Breitholz, Martina (2017): Textkommunikation. Ein textlinguistischer Neuansatz zur Theorie und Empirie der Kommunikation mit und durch Schrift. Germanistische Linguistik, Bd. 308. Berlin, Boston, Walter de Gruyter.
Knab, K./Kobmann/Georg/Lober, Georg (1887): Übungsstoff für den Unterricht im Deutschen. Zweites Heft. Nürnberg, Korn, 11. Aufl. https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb11643654 [01.0702025].
Küper, Judith Elisabeth (2022): Das Antworten verantworten. Zur (Re‑)Konzeptualisierung praktischer pädagogischer Reflexion anhand von Unterrichtsnachgesprächen im Kontext der zweiten Phase der Lehrer:innenbildung. Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt.
Merleau-Ponty, Maurice (2003): Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hg. von Christian Bermes. Hamburg, Meiner.
Rosa, Harmut (2024): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin, Suhrkamp, 8. Aufl.
Schürmann, Eva/Kast, Christina (2022): Sehen. In: Siegmund, Judith (Hg.), Handbuch Kunstphilosophie. Uni-Taschenbücher, Bd. 5841. Bielefeld, transcript, S. 467–478.
Sturm, Eva (2005): Vom Schießen und vom Getroffen-Werden: Kunstpädagogik und Kunstvermittlung „Von Kunst aus“. Kunstpädagogische Positionen, Bd. 7. Hamburg, Hamburg University Press, 4. Aufl.
Dies. (2011): Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze. Wien, Berlin, Turia + Kant.
Villiger, Judit (2019): Scheinbar Unscheinbares. Pilotprojekt für ein Reflexionsformat in der Kunstlehrer*innenbildung. In: Kunz, Ruth/Peters, Maria (Hg.), Der professionalisierte Blick. Forschendes Studieren in der Kunstpädagogik, S. 190–202.
Dies. (2025): scheinbar unscheinbar – das Sprachstück als Beitrag zu Professionalisierungsprozessen in der kunstpädagogischen Hochschuldidaktik. Dissertation Kunstakademie Münster.
Wyss, Corinne (2013): Unterricht und Reflexion. Eine mehrperspektivische Untersuchung der Unterrichts- und Reflexionskompetenz von Lehrkräften. Empirische Erziehungswissenschaft, Bd. 44. Münster, New York, München, Berlin, Waxmann.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: Uccello, Paolo, Saint George and the Dragon (Drachenkampf), um 1470, Öl auf Leinwand, 55,6 × 74,2 cm, National Gallery London (Inventur Nummer NG6294). https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/paolo-uccello-saint-george-and-the-dragon [01-07.2025].
Abb. 2: Playmobilfiguren – dreidimensionale Objekte als Zeichenvorlage für Ritterspiele
Abb. 3: Ein Stift steckt in der Warteschlaufe fest, 2017, Originaldarstellung PDF ohne Titel, S. Z.
Abb. 4: Ein brauner ledernder Koffer öffnet sich, 2017, Text S. Z.
Die Urheberrechte für alle Texte von scheinbar unscheinbar (Abb. 3 und 4) liegen bei den Autor*innen. Sie sind entstanden im Rahmen des Studiums Master Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).