poor images – Über copies in motion und wo man sie findet
Abstract:
Der Beitrag „poor images — Über copies in motion und wo man sie findet“ beschäftigt sich mit dem Begriff sogenannter „poor images“, nach Hito Steyerl (2009), und verortet ihn in einer gegenwärtigen Kunstvermittlungspraxis, die sich kritisch mit dem Internet und daraus resultierenden neuen Bildphänomenen und Praxen auseinandersetzt. Dabei wird verhandelt, welches Potenzial der Bildbegriff poor image für unser Bildhandeln in der postdigitalen Zeit hat.

Heutzutage gibt es mehr Bilder im Internet als je zuvor. Allein auf Instagram wurden bisher über vierzig Milliarden Fotos geteilt, wobei sich die Nutzung der sozialmedialen App zwischen Juni 2016 und 2018 verdoppelt hat.Diese Informationen entstammen der Plattform https://www.brandwatch.com/de/blog/instagram-statistiken/ [22.2.2019]. Eine Kommunikation mittels, durch und über Bilder ist spätestens seit dem Aufkommen der Smartphones Bestandteil unseres Alltags geworden. Konstanze Schütze, die in ihrer Dissertation zur Bildlichkeit nach dem Internet geforscht hat, bezeichnet das Bild als „geschäftsführende kulturelle Einheit der Gegenwart“. (Schütze 2018) Das bedeutet, dass Bilder wie kein anderes Phänomen unsere zeitgenössische Kultur prägen und widerspiegeln (vgl. Schütze 2019: 88). Eine Tatsache, die zentral ist für eine kritische Kunstvermittlung, die einen reflektierten Umgang mit dem relativ neuen Phänomen digital verfügbarer Bilder lehren und leisten soll.

In meinem Dissertationsvorhaben „Poor Image Art Education“ (Arbeitstitel)Die Idee zum Untertitel dieses Beitrags "Über copies in motion und wo man sie findet" verdanke ich Bernadett Settele und ihrer E-Mail-Anfrage, diesen Artikel zu schreiben. Sie fasste darin die in meinem Vortrag „radical (post-)digital“ vorgestellten Thesen zu Hito Steyerls Begriff des „poor image“ (Steyerl 2009) so zusammen. Der Vortrag fand im Rahmen des SFKP Forschungskolloquiums „radical räumlich“ im Oktober 2018 in Luzern statt. beschäftige ich mich mit digitalen, sich im Internet im Umlauf befindenden Bildern, die für uns als User*innen zugänglich sind, kopiert und weiterverwendet werden können.Ich beschäftige mich seit meinem Masterstudium an der Hochschule der Künste Bern mit den „armen Bildern“ im weitesten Sinne. In meiner Masterarbeit fand das auf eine künstlerisch-forschende Weise statt – https://www.arteducation.ch/de/projekte/alle_0/inszenierte-archive-das-arme-bild-154.html. Seit 2017 verfolge ich davon ausgehend das Dissertationsvorhaben „Poor Image Art Education“ (Arbeitstitel) an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Spezifisch interessiert es mich – vor einem bildungswissenschaftlichen, kunstvermittelnden Hintergrund – nach dem Gebrauch dieser Bilder im ästhetischen Kontext zu fragen. Um diese neue Kategorie von Bildern, die seit dem Aufkommen des Internets existiert, besser fassen zu können, beschäftige ich mich mit Hito Steyerls „poor image“-Begriff aus dem Essay In Defense of the Poor Image von 2009, der schlecht aufgelöste Bildkopien, die sich im Internet bewegen, beschreibt. Der vorliegende Artikel ist der Versuch, mich dem Terminus mithilfe bild- und medienwissenschaftlicher Theorien zu nähern und seine von Hito Steyerl etablierte Definition zusammenzufassen, um ihn zehn Jahre nach seinem Erscheinen in der Gegenwart zu verorten, die einem stark veränderten Umgang mit digitalen Medien unterliegt. Dies ist aufgrund meiner These, dass sich poor images als Rohstoff für ein zeitgenössisches, performatives Bildhandeln (nach Sachs-Hombach/Schürmann 2005: 118) eignen, relevant. Den poor images sind die Gegebenheiten unserer Zeit eingeschrieben, das Performative ist ihnen immanent, denn sie unterliegen durch ihre Wanderbewegung durch das Netz ständig ästhetischen Transformationen. Poor images sind heute sowohl im Alltag als auch im künstlerischen Arbeiten Teil des kommunikativen Handelns, was vor dem Hintergrund einer zu erlangenden Bildkompetenz von höchster Relevanz für die Kunstvermittlung ist.

IN DEFENSE OF THE POOR IMAGES

„The poor image is a copy in motion“ — so beginnt die Künstlerin Hito SteyerlSteyerl wurde 2017 zur bedeutendsten Künstlerin der Gegenwart gewählt: https://artreview.com/power_100/2017/ [18.2.2019]. ihr 2009 auf e-flux erstmals veröffentlichtes Essay In Defense of the Poor Image. Ihre Verteidigung der poor images, also der schlechten/armen/ärmlichen Bilder ist nach zehn Jahren immer noch äusserst relevant.Erst kürzlich erschien die deutsche Übersetzung des Texts im Band Cinema #64. http://www.cinemabuch.ch/book/64. Der Text ist vollständig online zugänglich unter https://www.filmexplorer.ch/detail/cinema-buch-64-hito-steyerl/ [22.2.2019]. In dem Text beschreibt Steyerl eine zeitgenössische Bildhierarchie, in denen die poor images ganz unten stehen. Als digitale, schlecht aufgelöste Kopie des Originalbilds zirkuliert das arme Bild teils ohne Verweis auf seinen Ursprung oder seine Autor*innenschaft im Netz: „Seine Qualität ist schlecht, seine Auflösung minderwertig. Wie es sich beschleunigt, verschlechtert es sich. Es ist der Geist eines Bildes, eine Vorschau, ein Miniaturbild, eine verirrte Idee, ein umhertreibendes Bild, das kostenlos verteilt, durch langsame digitale Verbindungen gequetscht, komprimiert, reproduziert, gerippt, geremixed, kopiert und in neue Medien übertragen wird.“ (Steyerl 2009)

Steyerl beschreibt das Phänomen anhand von Beispielen aus der Filmgeschichte. Experimentelle und essayistische Filme verschwanden nach dem Aufkommen des kommerziellen Kinos von der Bildfläche, weil sie durch letzteres verdrängt und aufgrund geringerer Nachfrage kaum noch gezeigt wurden. Hochaufgelöste Videos wurden in elitären (Kunst-)Institutionen auf entsprechenden Projektoren für ein kleines Publikum installiert, um danach wiederum im Archiv zu verschwinden. Seit dem Aufkommen verschiedener Streaming-Websites und mit Usercontent gefüllten Plattformen wie Youtube hat sich das geändert – Steyerl führt aus, dass im Archiv verschwunden geglaubte Filmklassiker plötzlich ganz einfach, wenn auch in schlechter Qualität, im Internet zugänglich sind. Andererseits kann auch Videokunst per Handykamera aus dem Museum geschmuggelt werden und in Form von poor images plötzlich im Internet wieder auftauchen.

Abb. 1. Wenn Bilder geschäftsführende Einheit der Gegenwart sind (Schütze 2018), sind dann Katzenbilder geschäftsführende Einheit des Internets? Quelle: Museum of the Internet, https://www.facebook.com/MuseumOfInternet/photos/a.183183591827452/1654311511381312/?type=3&theater [23.2.2019].

Vor dem Hintergrund unserer mit digitalen Medien untrennbar verbundenen, postdigitalen„Post-Internet“ oder die „post-digitale Zeit“ beschreibt nicht eine Zeit nach dem Internet (vgl. Hito Steyerl 2017: Is the Internet dead?). Das „post“ im Sinne von „nach“ beschreibt vielmehr eine Gegenwart, in der das Internet normal – im Sinne von jederzeit und überall verfügbar – geworden ist. Der Einstieg ins Netz ist kein bewusster Akt mehr, man kann ganz nebenbei mittels verschiedener Devices online sein (vgl. Bunz 2012). Benjamin Jörissen führt aus: „Die vor nicht allzu langer Zeit wohl noch sinnvollen Unterscheidungen von On- versus Offline, Cyberspace versus Meatspace oder gar ‚realer’ Welt versus ‚virtueller’ Welt des Internets, eigentlich ebenso die Rede von ihrer Durchdringung, sind derart obsolet, dass selbst schon der Verweis auf diese einen historischen Charakter hat.“ (Jörissen 2016: 63) Zeit stellt sich mir die Frage, was denn poor images (heutzutage) genau sind. Gila Kolb und Konstanze Schütze sprechen im Rückgriff auf ein Interview von Karen Archey mit Carson Chan davon, dass wir uns in einem Internet State of Mind befinden, einem von den Medien grundsätzlich veränderten Blick auf die Welt seit dem Internet. (Schütze/Kolb 2019)„Dabei gehen wir von einem Internet State of Mind aus und legen einen radikal bewussten Umgang damit (gerade für Kunstpädagog*innen) nahe. Denn Internet State of Mind (Chan 2011), als einem grundsätzlich veränderten Blick auf die Welt verstanden, führt uns zu einer anderen Wahrnehmung von Welt, der es nun eben auch fachlich nachzugehen gilt.“ (Schütze/Kolb; vgl. Archey/Chan 2013). Zehn Jahre nach Steyerls Text hat die digitale Technologie sich enorm weiterentwickelt. Smartphones filmen in 4K-Auflösung, Drohnen und Mini-Actionkameras sind für den Hausgebrauch erhältlich und erschwinglich. Mussten vor nicht allzu langer Zeit mit der kompakten Digitalkamera aufgenommene Urlaubsbilder noch per Kabel auf den Computer geladen und aussortiert werden, bevor man einzelne davon ins Netz lud, ist das heute alles in einem Schritt möglich. Man kann in einer Ausstellung stehend eine Aufnahme einer Videoinstallation mit einem Klick und in Realtime beispielsweise über die Instagram-Storyfunktion ins Netz stellen und mit seiner Onlinecommunity live teilen. Aber sind solche Aufnahmen, die längst nicht mehr digitale Abbilder ursprünglich analoger Originale sind, dann auch poor images? Sicher sind sie copies in motion, aber „poor“ im Sinne von „schlecht aufgelöst“ sind sie bestimmt nicht mehr. Kann der Begriff der poor images also heute in Zeiten der guten Auflösung, der Live-Streams und der Insta-Mitteilung noch verwendet werden? Wo sind poor images zu finden und bedürfen sie einer Neudefinition unter den medialen Bedingungen der Gegenwart?

Abb. 2: Auf der Website http://www.helenaschmidt.com/ sammle ich seit 2015 poor images, die anonym und ohne Kontext hochgeladen werden können. Die Bildersammlung entsteht so gemeinsam mit anonymen Kollaborateur*innen aus dem „digital elsewhere“, wie meine Kollegin vom Dissertierendenseminar Sophie Lingg in ihrer Forschung in Bezug auf Donna Haraway vom Internet spricht (vgl. Haraway 2016).

WHAT IS A POOR IMAGE (TODAY)? – KONTEXTUALISIERUNG

Zunächst möchte ich den Begriff, um den ich kreise, näher betrachten. In der deutschen Übersetzung von Steyerls Text wird „poor image“ zum „ärmlichen Bild“: „Das ärmliche Bild ist eine Kopie, die sich bewegt. […] Das ärmliche Bild ist ein Fetzen oder Riss; ein AVI oder ein JPEG, ein Lumpenproletarier in der Klassengesellschaft der Erscheinungen, geordnet und bewertet nach seiner Auflösung. Das ärmliche Bild wurde hochgeladen, heruntergeladen, geteilt, neu formatiert und bearbeitet. […]“

Man könnte „poor“ aber auch anders übersetzen. Bereits eine einfache Google-Anfrage gibt eine Vielzahl von Begriffen aus:

Abb. 3: Google-Übersetzung Englisch—Deutsch (Screenshot). Abgefragt: 22.2.2019, 15:32.

Die Künstlerin Marisa Olson beschreibt das „poor image“ als „lossy copy“: „a digital artifact accelerating toward a thing of the past; an accidental fallacy“. (Olson 2018: 2) Das bedeutet, das Ursprungsbild ist zwar noch erkennbar, das Fehlen gewisser Informationen aber auch, was das Bild „arm an etwas“ macht. So gesehen treffen die meisten Übersetzungen, die Google ausgespuckt hat, auf das poor vor dem image zu, was die Wandelbarkeit des Begriffs zeigt. Das poor kann in einem von Zirkulation geprägten und sich ständig selbst aktualisierenden Internet „The Web, although certainly a powerful social tool, has seeped so deeply into the foundations of everyday life that it has collapsed understandings of the present in exchange for a constantly refreshing sequence of now’s.“ (Kowalski 2018: 26) also diverse Bedeutungen in sich vereinen, seien es niedrige Auflösung, verloren gegangene Bildteile oder Informationen oder auch spärlich erkennbare Inhalte.

Genauso hat das Wort „image“ verschiedene Bedeutungen, je nach Sprache und Kontext. Im Deutschen steht das Bild als Allgemeinbegriff für innere und äussere Bilder. Im Gegensatz dazu unterscheidet die Bildwissenschaft im Englischen das „image“ vom Begriff „picture“ (vgl. Mitchell 2005:15). Bei „pictures“ handelt es sich um materielle Bilder, um physische Artefakte, während „images“ immaterielle Bilder bezeichnet, mit denen ich mich hier auch beschäftige. Der Medienwissenschaftler Simon Rothöhler bezeichnet digitale Bilder als „Informationen, die Bilder haben“. (Rothöhler 2018: 89) Digitale Bilder bestehen, wie er ausführt, aus unsichtbarem, gespeichertem Code, den Computer lesen können und den sie, manifestiert durch pixelförmige Lichtpunkte, in für uns Menschen lesbare Bilder umrechnen. Diese Informationen bewegen sich als immaterielle Bilder im Internet, in dem sie sich als poor images scheinbar unkontrollierbar vervielfältigen und verbreiten und als zahllose Kopien ihrer Selbst an verschiedenen Zeiten und Orten existieren. Die Kontexte variieren dabei in einer Weise, wie sie in der Zeit vor dem Internet technisch gar nicht möglich gewesen wären, was das von Steyerl beschriebene Übermass an Bildinformationen digitaler Natur zufolge hat. Poor images sind also zunächst immaterielle, digitale Bilder, die in signifikant schlechterer Auflösung im Vergleich zum analogen Originalbild im Internet existieren, wo sie öffentlich zirkulieren und sich potenziell immer wieder verändern und vermehren. Steyerl verteidigt eben diese Bilder in In Defense of the Poor Image, weil sie sowohl politisches, verbindendes als auch künstlerisches Potenzial in ihnen sieht: „Das ärmliche Bild konstruiert so anonyme globale Netzwerke, genauso eine geteilte Geschichte. Indem es reist, schliesst es Allianzen, provoziert Übersetzungen oder Fehlübersetzungen und schafft neue Debatten und Öffentlichkeiten. Indem es seine visuelle Substanz verliert, gewinnt es an politischer Brisanz und schafft sich eine neue Aura. Diese Aura basiert nicht mehr auf der Permanenz des ‚Originals’, sondern auf der Vergänglichkeit der Kopie. […] Indem es aus den Gewölben des Kinos verschwindet, scheint es auf zahlreichen neuen und ephemeren Bildschirmen wieder auf, zusammengeflickt von den Wünschen verstreuter Zuschauer.“ (Steyerl 2019)

Bilder, die früher nur wenigen zugänglich waren, sind das also nun dank neuer Technologien für die Massen, die sie als Prosumer*innen nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten, verändern und wieder weiterverbreiten „Ärmliche Bilder werden aber auch von Handykameras, Heimcomputern und unkonventionellen Vertriebskanälen produziert und verbreitet. Die optischen Verbindungen – kollektive Bearbeitung, Filesharing oder basisorganisierte Verteilmechanismen – zeigen erratische und zufällige Verbindungen zwischen Produzenten, die gleichzeitig ein verstreutes Publikum konstituieren.“ (ebd.)

Steyerl sieht darin einen Einfluss auf die kapitalistische Medienproduktion und wittert das Potenzial alternativer Ökonomien im Netz. Dass sich diese Utopie von Freiheit und Losgelöstheit vom kapitalistischen System nicht so eingelöst hat, wissen wir heute.„It was thought that the Internet would rejuvenate democracy, but just as the use of Youtube, Twitter, and Facebook during the 2011 Arab Spring carried the promise that the immediacy afforded by digital technology was going to empower a new wave of positive social change, the past several years have shown that emancipation and subordination can be enacted by exactly the same tools. It seems however, that these tools are all that we, those deemed the users, have left. (Kowalski 2018: 24–25) Weiters möchte ich hier auf Standpunkte verweisen, die sich mit Machtstrukturen im Netz auseinandersetzen: Angela Nagle (Kill all normies: the online culture wars from Tumblr and 4chan to the alt-right and Trump, 2017). Michael Seemann (Das neue Spiel: Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust, 2014). Fakt ist allerdings, dass wir zu so vielen Bildern, Videos und Informationen im Netz Zugang haben, wie noch nie und damit die Möglichkeit, diese sowohl im Alltag als auch in unserer künstlerischen und vermittelnden Praxis zu nutzen. Steyerls „poor images“-Begriff erfasste vor zehn Jahren theoretisch, was heute praktisch der Fall ist. Die Verwendung von poor images als künstlerisches Rohmaterial ist zur selbstverständlichen Praxis geworden, was nun bedingt, dass sich die Vermittlung des Begriffs annimmt, um seine Eigentümlichkeiten und Möglichkeiten kritisch zu verhandeln.

WHAT DO POOR IMAGES WANT (TO BE)? – POTENZIAL

W.T.J. Mitchell stellte 1997 die bekannte Frage danach, was Bilder eigentlich wollen – „What do pictures want?“. (Mitchell 2005) Er schreibt Bildern eine Schaffenskraft zu und erklärt, dass die Poetik der Bilder die Erforschung ihres eigenen Lebens sei – seien es historische Götzenbilder oder Cyborgs. (Mitchell 2008: 13) Und weiter: „Zu fragen, was Bilder wollen, heisst nicht bloss, ihnen Leben, Macht und Begehren zuzuschreiben, sondern auch die Frage danach aufzuwerfen, was es ist, woran es ihnen mangelt, was es ist, das sie nicht besitzen, was ihnen nicht beigemessen werden kann.“ (Ebenda: 26)

Wenn Mitchell fragt, was die Bilder begehren oder verlangen, meint er damit nicht, dass die Bilder selbst sich das wünschen können, sondern dass wir als Betrachtende ein Begehren auf sie projizieren. Wir bringen den Bildern Animismus entgegen und bilden so nach Mitchell Ikonen, also Kultbilder, die bestimmte Wert- und Lebensvorstellungen verkörpern. Mitchell sieht den Bildern eine Poiesis, ein hervorbringendes Handeln innewohnend. Das Bild wird also produktiv, was sich in Bezug auf die heutige Abbildproduktion, sei es beispielsweise auf Instagram, gut weiterdenken lässt und meine eingangs erwähnte These, die „poor images“ in Zusammenhang mit einem neuen performativen Bildhandeln„Man kann Bildhandeln als performative Tätigkeit begreifen.“ (Sachs-Hombach/Schürmann 2005: 118) zu sehen, stützt. Das Bild wird mit seiner Veröffentlichung im Netz automatisch in eine Vielzahl möglicher Kontexte gestellt und potenziell nicht nur Ausgangspunkt für Inspiration sondern für die Weiterbe- und Verarbeitung einer grossen Gruppe anonymer Prosumer*innen, die ein Bild weiterverwenden, beschneiden, kommentieren, vervielfältigen, erweitern, und so weiter können. Dabei ist die Ursprüngliche Autor*innenschaft – je nach Kontext der Distribution – irgendwann nicht mehr unbedingt zurückverfolgbar, was es auch nötig macht, im Internet gefundenes Bildmaterial anders und unter neuen Umständen zu rezipieren als in der prädigitalen Zeit. Mit dem Bild im Internet wird konstant gehandelt, es kann als Link an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten auftauchen und auch wieder verschwinden, wobei die Dauer und Häufigkeit dieser Handlungen für die ursprünglichen Autor*innen nicht mehr vollständig kontrollierbar ist. Selbst von Kopien geschützte Bilder können durch Screenshots vervielfältigt und als mangelhaft Aufgelöste Kopien ihrer selbst in neuen Kontexten wieder auftauchen und somit im Sinne Mitchells neue Konnotationen hervorbringen. Poor images sind in diesem Sinne Ikonen einer postdigitalen Zeit, sie evozieren ein Bildhandeln und wandeln sich dabei ständig selbst – qualitativ und quantitativ.

Mitchells Frage sei also neu gestellt – What do poor images want? Beziehungsweise präziser – What do poor images want to be? Seit ich mich mit diesem Bildphänomen beschäftige, werde ich danach gefragt, was heutzutage in Zeiten der beschriebenen hohen Auflösung denn (noch) ein poor image sei. Ausgehend davon, dass wir uns in einem Internet State of Mind befinden (vgl. Archey/Chan 2013), passen sich auch neue Bildarten, die nach der digitalen Zeit entstanden sind, an ihre Bedingungen an. Internetbilder sind Teil eines offenen und beweglichen visuellen Feldes, „in dem Bildklassen neu entstehen, sich festigen, auseinander streben und wieder zerfallen.“ (Heidenreich 2005: 390) Die poor images sind eine solche (digitale) Bildklasse. Sie definieren sich nicht mehr nur durch ihre (schlechte) Auflösung, noch durch ihren Inhalt, sondern durch die Tatsache, dass sie im Internet als vielzählige Kopien verfügbar sind. Die Herkunft der Bilder ist nicht mehr zwangsläufig rückverfolgbar und mit ihrer Migrationsbewegung gehen auch qualitative und ästhetische Transformationen einher. Im Gegensatz zu einer schlechten Schwarzweiss-Kopie sind diese Transformationen digitaler Natur. Ausserdem definiert sich der Status eines Bildes als poor image durch seine Verwendung – sobald ich ein hoch aufgelöstes rich image, etwa von nationalgeographic.com, screenshotte und weiterverwende, wird es zum poor image. Es beginnt, in anderen Kontexten aktiv zu werden, es bekommt neue Handlungsräume.Teile des letzten Absatzes, den ich im Laufe meines Beitrages radical (post-)digital am Forschungskolloquium des SFKP in Luzern im Herbst 2018 vorgestellt habe, kommen in leicht abweichender Form auch in meinem Artikel Post Internet Art Education vor, an dem ich parallel zum Vortrag gearbeitet habe. (Schmidt 2019) Das bedeutet, ein Bild kann nicht nur poor sein, es kann auch poor werden.Meine Dissertationsbetreuerin Elke Krasny hat mich auf die Analogie zum Begriff des „becoming“ von Deleuze/Guattari aufmerksam gemacht. Vgl. Deleuze/Guattari Mille Plateaux, erstmals erschienen 1980. Man könnte im Sinne Agambens von einer Profanierung der Bilder sprechen – was soviel bedeutet, wie dass etwas, das ‚heilig’ war, also dem Gebrauch der Menschen entzogen, durch bestimmte Handlungen entzaubert und dem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben wird (vgl. Agamben 2015: 70).Agamben bewegt sich mit dem Begriff im Kontext der Religion und römischer Jurisprudenz – ich entlehne den Begriff bewusst aus diesen Kontexten, auf die ich hier keinen Fokus legen möchte. Bilder bekommen als poor images neues performatives Potenzial und fungieren, wie Hito Steyerl am Schluss ihres Essays schreibt, als „Link zur Gegenwart“.

THE POOR IMAGE IN MOTION – VERMITTLUNG

Das poor image ist nicht mehr nur Kopie in Bewegung, sondern bewegt sich selbst. Wie beschrieben, zirkulieren nicht nur Bildkopien im Internet, sondern auch unsere Gegenwart mit ihren digitalen medialen Möglichkeiten bewegt und verändert sich konstant: „Gegenwart lässt sich nicht von Medien trennen, muss als etwas konsequent von ihnen Durchdrungenes gedacht werden.“ (Schütze/Kolb 2019) Analog muss sich auch der Begriff des „poor image“ an die Gegebenheiten anpassen und verändern. Wie beschrieben, sind poor images digitale, sich im Umlauf befindende Internetbilder, auf die jederzeit zugegriffen werden kann. Durch ihre Streuung und Bewegung durch das Internet, die mit ständiger Transformation verbunden ist, sind sie an sich performativ. Genau darum eignen sie sich sowohl als Rohstoff für ein zeitgenössisches Bildhandeln wie auch als Gegenstand für kritisch-theoretische Reflexion der aktuellen Kunst und Bildlichkeit. Denn während visuelle Praxen, Medien und Verfahren sich mit den digitalen Möglichkeiten momentan schnell wandeln und vervielfältigen, muss sich auch die Kunstvermittlung an die postdigitalen Gegebenheiten anpassen. Lehrer*innen und Vermittler*innen sind mit völlig unterschiedlichen Medienrealitäten aufgewachsen und ausgebildet worden – vor allem, seit es das Internet gibt. Vanessa Kowalski setzt den vielzitierten Kategorien digital native und digital immigrant den Begriff digital naïve entgegen, womit sie beschreibt, dass wir alle uns mit einer gewissen Unwissenheit und ohne klar definierte Rechte und Pflichten im Cyberspace bewegen, obschon wir digitale Devices und das Internet als selbstverständlich sehen, wenn wir Netzinhalte konsumieren und produzieren. (Kowalski 2018: 22) Diese Naivität soll und kann eine kritische Kunstvermittlung thematisieren – vor allem in der Schule, wenn es darum geht, visual literacy zu erlangen, also visuelle Phänomene unserer Zeit, wie eben das der digitalen Bilder, lesen, einordnen und kritisch hinterfragen zu können. Darum muss das poor image Teil einer radikal (post-)digitalen künstlerischen und vermittelnden Praxis sein. Gerade Kunstunterricht heute kann sich am poor image orientieren – nicht, um traditionelle Inhalte abzulösen, sondern um zusätzlich dazu die Möglichkeit zu bieten, mit einer Zeit zu gehen, die sich vor allem in ihrer Bildlichkeit sehr schnell verändert und sich durch diese definiert. Konstanze Schütze schreibt in ihrer Dissertation, dass Bilder in den gegenwärtig medial vorherrschenden Debatten um die Verbreitungskulturen der digitalen medialen Wirklichkeit als omnipräsentes und nahezu omnipotentes Material wahrgenommen und verhandelt werden. (Schütze 2019) Gleichzeitig verändern das Internet und die fortschreitende Digitalisierung „ästhetische und soziale Praxen, die sich für die Künste in besonderem Masse als ausgesprochen einflussreiche Messpunkte und überaus brauchbares Aneignungsmaterial zeigen.“ (Schütze 2019) Was diese Veränderungen konkret im Spiegel einer Untersuchung der „poor images“ für eine kritische Kunstvermittlung bedeuten, beforsche ich in meinem Dissertationsvorhaben in Theorie und Praxis. So eröffnen sich neue Handlungsräume durch die beschriebene Zugänglichkeit, Gleichzeitigkeit und Prozesshaftigkeit der Bilder, die nichtmehr in on- oder offline zu trennen sind, sondern eben radikal postdigital gedacht und vermittelt werden müssen.

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Kurzbiografien der Autor_innen: