Schlagwörter: counter-image, criticism, decolonizing, gaps, political education, representation, school, structural racism, unlearning, visibility
Untie To Tie. Koloniale Fragmente im Kontext Schule - Colonial Fragments in School Contexts (DE/EN) – eine Rezension.
Die Publikation Untie to TieUntie To Tie. Koloniale Fragmente im Kontext Schule - Colonial Fragments in School Contexts (DE/EN). Diallo, Aïcha/Niemann, Annika/Shabafrouz, Miriam (Hg./Eds.) (2021): Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.ist ein Ergebnis der gleichnamigen Kooperation zwischen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und dem ifa (Institut für Auslandbeziehungen). Das Buch begleitet das mehrjährige Forschungs- und Ausstellungsprogramm der ifa-Galerie Berlin. Untie to Tie widmet sich dem Diskurs rund um Kolonialismus, Migration und Rassismus und legt dabei einen besonderen Fokus auf den Kontext Schule.
In der Einführung wird festgestellt, dass in deutschen Lehrplänen kaum eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus stattfindet. Unterschwellig werde dadurch, so die Herausgeber*innen, die Reproduktion eines eurozentrischen, unkritischen Bildungskanons begünstigt. Auf diesen Umstand reagiert der Band mit Beiträgen, welche die kolonialen Elemente in Bildungsmaterialien und Curricula - in Deutschland aber auch international - thematisieren und kontextualisieren. Mit dem bildungspolitischen Schwerpunkt richtet sich die Publikation in erster Linie an Lehrpersonen, Eltern, Pädagog*innen und Schüler*innen. Ein explizit formuliertes Ziel besteht darüber hinaus darin, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, um dadurch die Diskussion für alle zu öffnen.
Diese Bestrebung wird sowohl inhaltlich verfolgt wie auch mit formalen Mitteln unterstützt. Die Publikation ist in deutsch/englischer und in deutsch/französischer Ausgabe erschienen. Zudem gibt es ein digitales Flipbook, welches Zugänge über zusätzliche, nicht textliche Medien schafft.
Leser*innen können sich entlang der Strukturierung in die vier Sektionen Prozesse des Verlernens (Diallo/Niemann/Shabafrouz 2021: 37), Die Lücken neu füllen (ebd.: 57), Dekolonialisierung und Widerstand (ebd.: 119) und Kritische Re-Lektüre (ebd.: 191) orientieren. Innerhalb dieser Sektionen beinhaltet die Publikation insgesamt rund 40 Beiträge von Künstler*innen, (Kunst)-pädagog*innen, Forscher*innen und Bildungsakteur*innen. Diese umfassen Textbeiträge, Interviews, visuelle Essays, Bildreihen und Skulpturen bis hin zu einer musikalischen Komposition. Die Autor*innen haben verschiedene kulturelle und geografische Hintergründe, argumentieren aus unterschiedlichen Disziplinen heraus und bedienen sich vielfältige Ausdrucksmedien. Synergien werden nicht nur zwischen den individuellen Beiträgen, sondern vor allem auch durch das gezielte Kollaborieren von Künstler*innen und Autor*inne erzeugt und produktiv gemacht.
Durch das Aufeinandertreffen von persönlichen Erzählungen einerseits und systematischen Analysen andererseits werden neue Zwischenräume eröffnet und verschiedene Anknüpfungspunkte geschaffen. Auch die inhaltlichen Schwerpunkte sind vielfältig. Um nur einige Beispiele zu nennen: Wir erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Personen, die so aussehen wie wir selbst, in den Schulbüchern ausschliesslich in Opferrollen gezeigt werden. Wir lernen, welche langanhaltenden Konsequenzen es hat, wenn Lehrpersonen verletzende Stereotypen weitergeben – und dies unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht. Wir erkennen, wie katastrophal es für die Identitätsbildung ist, wenn Kinder ab dem ersten Schuljahr entwurzelt werden, in dem sie gezwungen sind, die Sprache der ehemaligen Kolonialherrschaft zu sprechen. Wir schärfen unser Bewusstsein dafür, welche gesellschaftlichen Probleme in den Statistiken von Mathematikbüchern unsichtbar werden. Über solch individuelle Fokusse schaffen die Autor*innen unterschiedliche Zugänge zu Themen wie Repräsentation, rassismuskritische Kompetenzen, kulturelle Wissensformen und neue Bildwelten. Gleichzeitig werden Strategien vorgestellt, wie solchen Mustern künstlerisch, literarisch und handelnd entgegengewirkt werden kann. Durch diese Heterogenität werden koloniale Strukturen in unterschiedlichen Kontexten und aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert und sichtbar gemacht. (Abb. 1)
Die Einführung der drei Herausgeber*innen Aïcha Diallo, Annika Niemann und Miriam Shabafrouz umreisst pointiert die Thematik des Bandes und tut dies auf eine sehr poetische Weise. Beim Lesen werden bei den Rezipient*innen Fragen evoziert, die sogleich auch adressiert und erläutert werden. Ein Beispiel dafür ist die Farbe Blau. Aufgegriffen wird, wie sie mit den Arbeiten der Künstlerin Juliana dos Santos, deren Werk auf dem Cover abgebildet ist, in Beziehung steht, welche Bedeutung ihr in der Gestaltung der Publikation zukommt und wie sie je nach kulturellem Kontext verschieden gelesen werden kann. Diese Vielfalt an Bedeutung verdeutlicht die Multiperspektivität, welche die Autor*innen mit der Publikation anregen wollen.
In Ihrem einleitenden Beitrag Die zerrissene Textur verweben – Postkoloniale Revision (Diallo/Niemann/Shabafrouz 2021: 38) unterstreicht María do Mar Castro Varela die Wichtigkeit der Schule als Ort, der massgeblich mitbestimmt, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Der Raum Schule prägt nicht nur die Art und Weise, wie wir uns Lerninhalte aneignen, sondern auch, welche Muster wir dabei verinnerlichen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie problematisch Schulmaterial für das Heranwachsen von Individuen ist, welches zu einem Grossteil von Lehrbuchmonopolen konzipiert und herausgegeben wird, sich primär an eine homogene Zielgruppe wendet und oftmals nur eine einzige Perspektive auf die Dinge postuliert.
Gestützt auf Positionen der postkolonialen Theorie, plädiert María do Mar Castro Varela für die Dekolonialisierung der Bildung, die nur mit einer pluralisierten Wissensproduktion und einem kritischen Selbsterziehungsprozess eintreten kann. Dieser Forderung wird in der Zusammenstellung der Beiträge sowohl sprachlich, inhaltlich als auch medial entsprochen.
Das Fragment, als ein zentraler Begriff der Publikation, wird sehr eindrücklich in den Leseraum übersetzt. Dabei ist doch jeder Beitrag in sich selbst abgeschlossen, was eine lineare Lektüre nicht zur Notwendigkeit macht. Das Voraussetzen von bestimmtem Vorwissen und die sprachliche Komplexität variieren von Beitrag zu Beitrag, sodass die Zugänglichkeit der Publikation insgesamt eine gewisse Niederschwelligkeit aufrechterhält.
Die enthaltenen subjektiven Erzählungen, die persönlichen Erfahrungen, die individuellen Ausdrucksweisen und die verschiedenen geografischen und politischen Einbettungen schaffen einen direkten Zugang zur Thematik und schärfen gleichzeitig auch das Bewusstsein dafür, dass es noch unendlich viel mehr solche Geschichten und Perspektiven gibt. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch die Medienvielfalt, die verdeutlicht, dass es eben nicht nur das Wissen, die Lesart und das Medium zur Wissensvermittlung gibt.
Die Beiträge skizzieren Potenziale, antizipieren neue Sichtweisen auf unsere Welt und unseren Wissensstand und decken so allgegenwärtige koloniale Strukturen auf. Durch den Kontext Schule sind viele der Beiträge konkret nachvollziehbar. Der Effekt zeigt sich in einer unmittelbaren Sensibilisierung, die sich beim Lesen kontinuierlich verschärft und bemerkbar macht.
Die Publikation führt Leser*innen an eine kritische Auseinandersetzung mit bestehendem Schulmaterial und die darin eingeschriebenen strukturellen Diskriminierungsformen heran. Die Autor*innen bieten spannende Einblicke in ihre Forschungstätigkeit, ihre künstlerische Praxis, ihre Gedankenwelten und ihre persönlichen Sichtweisen. Die Kontextualisierung mittels kurzer historischer Exkurse reichern den Band zusätzlich an. Der Anspruch der Herausgeber*innen, Einschreibungen und Wirkungsweisen kolonialer Strukturen im Kontext Schule anhand fragmentarischer Einblicke aufzuzeigen, um daraus ein besseres Verständnis für strukturelle Rassismen und koloniale Kontexte zu generieren, wird mit der Publikation durchaus eingelöst. Die einzelnen Beiträge sind sorgfältig ausgewählt und stimmig zusammengestellt.
Als Person mit ostasiatischen Wurzeln und entsprechendem Identifikationspotenzial merke ich an, dass Kolonialismen von ost- und südostasiatischen Regionen und Menschen nicht repräsentiert werden. Das Augenmerk kolonialer Aufarbeitung liegt oftmals auf dem globalen Süden (südliches Afrika, Lateinamerika und Südasien)Ähnlich nehme ich das im ganzen Diskurs um Rassismus und Kolonialismus wahr. Folglich handelt es sich dabei um eine Problematik, die über diesen Band hinausgeht bzw. keinesfalls nur eine bandspezifische Kritik darstellt.. Selbstverständlich wäre es (zu) viel verlangt, die kolonialen Verhältnisse aller betroffenen Regionen in einem Band aufzuzeigen, aber gerade weil die Methode der fragmentarischen Beleuchtung so wirkungsvoll auf ein grösseres Ganzes schliessen lässt, wäre es umso wichtiger, ein globales Bild zu skizzieren. Der Kolonialismus ist und bleibt heterogen und komplex, aber die globale Realität dieser Problematik muss zumindest benannt werden, damit nicht neue blinde Flecken und weitere Lücken generiert werden.
Weniger zugänglich ist die Beispielliste „Schultypischer Privilegiertheit weisser Lehrer*innen“ (Diallo/Niemann/Shabafrouz 2021: 291) oder spezifischer die darin verwendete Zuschreibung „weiß“. Dass die kursive Schreibweise dem theoretischen Diskurs entlehnt ist und sich nicht auf Hautfarbe bezieht, sondern als Gegensatz zu BIPoCBlack, Indigenous, People of Color verstanden werden kann, wird trotz kurzem Verweis in den Fussnoten im Text selbst zu knapp thematisiert. Die gesellschaftspolitische Konnotation der Bezeichnung der Weissen wird zu wenig deutlich. So besteht die Gefahr, dass Weisse zu einer undifferenzierten Masse zusammengefasst werden, denen sämtliche Rassismuserfahrungen abgesprochen werden. Dies verstärkt meiner Meinung nach nur das Narrativ eines binären Systems. Gerade weil die meisten anderen Beiträge auch ohne Vorwissen oder Kenntnisse des theoretischen Diskurses gut gelesen werden können, fällt dieser Beitrag etwas aus der Reihe.
Untie to Tie bietet breit gefächerte Einblicke in den kolonialen Diskurs und dessen strukturelle Einschreibung in Bildungsmaterialien. Der Fokus auf den Kontext Schule ermöglicht einem breiten Publikum einen lebensweltorientierten Zugang und liefert gleichzeitig konkrete Beispiele dafür, was unter kolonialen Strukturen alles (nicht abschliessend) verstanden werden muss. Der Band schafft einen interdisziplinären, multiperspektivischen Rahmen, um grosse Themen wie Rassismus und Kolonialismus zu thematisieren. Dabei leistet jeder einzelne Beitrag wichtige Aufschlüsse und Anknüpfungspunkte für die Rezipient*innen, um über die Thematik nachzudenken.
Eine inhaltliche Zusammenfassung würde der Vielfalt und den Qualitäten der individuellen Beiträge nicht gerecht werden. Vielmehr möchte ich alle dazu anregen, sich selbst ein Bild davon zu machen. Durch die sprachlich, inhaltlich und medial gebotene Vielfalt können meiner Meinung nach alle einen Zugang finden.
Ob um in die Thematik einzusteigen, sich weiter dafür zu sensibilisieren, um spannende Geschichten zu erfahren, neue Denkweisen und Positionen aus Kunst und Wissenschaft kennenzulernen - es gibt keine Leser*innengruppe, die keinen Mehrwert aus dieser Publikation ziehen könnte. Besonders möchte ich das Buch auch jungen Leser*innen empfehlen. Die Aussicht auf einen inklusiveren Dialog, die Bejahung des Kritischseins und die transkulturelle Repräsentation, die die Publikation aufzeigt, zeichnet ein emanzipatorisches Zukunftsbild.
Literatur
Diallo, Aïcha/Niemann, Annika/Shabafrouz, Miriam (Hg./Eds.) (2021): Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.