1. Toleriert im Öffentlichen, Verstossen im Privaten
2. Staub, der sich niederschlägt
Ausgangsstoff meiner künstlerischen und kunstpädagogischen Untersuchung ist das Material Staubniederschlag. Ein Gemisch aus anthropogenen und von der Natur abgeriebenen Stäuben. Die Staubpartikel sind primär Abreibungen, die von den Menschen verursacht sind. Prozesse der Industrie, wie Kehrrichtverbrennungen, Bauarbeiten, Rohstoffverarbeitung und Tierhaltung in der Landwirtschaft erzeugen Staub. Aber auch gesellschaftliches Treiben, von motorisiertem Verkehr bis zur eigenen Schuhsohlenabnutzungen, Verlust von Kleiderfasern und Hautschuppen hinterlassen Spuren (vgl. BAFU 2016: 34). Jegliches Material im Kontakt mit anderem Material erzeugt Reibung und führt zu Abrieben.
Neben dem vom Menschen erzeugten Emissionen entsteht ein kleinerer Anteil durch natürliche Prozesse, wie beispielsweise Blütenstäube im Frühling oder Staub in Folge von Vulkanausbrüchen. Es sind leichte und schwere Erosionen, die allesamt durch meteorologische Faktoren verursacht werden. Diese Stäube lassen sich vom Boden aufwirbeln, vom Wind verwehen, bis sie aufgrund ihres Gewichts wieder auf der Erdoberfläche sedimentieren. Die eben benannte Differenzierung zwischen „natürlichen“ und „vom Menschen verursachten“ Emissionen ist für die Naturwissenschaft wichtig, um die direkten Verursacher zu finden und zu analysieren. Da sich der Mensch seit der Industrialisierung zur „treibenden Kraft bei der Veränderung der Natur“ entwickelt hat (vgl. Bennett 2013: 18), ist die eigentliche Ursache nicht mehr zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu unterscheiden (vgl. Witzgall 2017:30). Der Klimawandel ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass sich beide Kräfte bedingen und nicht mehr oder eigentlich noch nie differenzieren liessen. Menschgemachte Emissionen wie der überdurchschnittlichen Ausstoss von CO2 führen dazu, dass sich die Welt über ihre eigentliche Temperatur erhitzt. Die Folge davon sind extremere Wetterverhältnisse, wie Hitze, Stürme und Überschwemmungen. Gänzlich ohne CO2 auf Erden wäre die Temperatur auf Erden bei -18 Grad Celsius und somit kaum belebt. Das Verhältnis, in diesem Fall von Sauerstoff und Kohlendioxid, ist entscheidend für die Lebendigkeit des ganzen Systems. Ähnlich wie Kohlenstoffdioxid ist auch das Material Staubniederschlag zu betrachten. Winde transportieren Partikel wie Pollen, Samen, Pilzsporen und Mineralien, aber auch Schwermetalle, Kunststoffteile, und Viren durch die Atmosphäre. Staubniederschlag wie auch CO2 gehören in einem ausgewogenen Verhältnis zum System Erde dazu. Die Problematik ist, dass diese Ausgewogenheit durch menschliches Handeln aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Kategorisiert die Naturwissenschaft den Staubniederschlag, kann er in organische, mineralische, metallische und elementare Kohlenstoffpartikel eingeteilt werden. Diese Unterteilung ist ein notwendiges Konstrukt, um (Schad)-stoffwerte auf Ursache und Verursacher zurückführen zu können. Jede Staubansammlung ist in ihrer Zusammensetzung einzigartig und – ohne Beschränkung eines Gefässes, – flüchtig. Infolgedessen ist die jeweilige Zusammensetzung der Partikel, ihre Grösse, Farbe und Form abhängig von den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten (vgl. Umweltbundesamt GmbH 2018). Bei leichter Veränderung durch weltliche Kräfte kollidieren die Abriebe in der Luft und bilden weitere Gefüge. Die ausgestossenen (Schad)-stoffpartikel formieren sich chemisch neu und breiten sich in der Atmosphäre aus (vgl. ETH 2018). Es ist eine stetige Transmission, die sich fortwährend, beständig in der Erdatmosphäre ausdehnt. Greifbar werden diese Stoffpartikel erst, wenn sie sich aufgrund ihres Gewichts auf der Erdoberfläche ablagern oder die Luft sich durch Regenfälle reinigt (vgl. Gesundheits- und Umweltdepartement Zürich 2018). Auf dem Boden bleibt eine sichtbare und sedimentierte Form von grobem Staub, der sich auf jeder beliebigen Oberfläche ablagert.
3. Staubniederschlag – Eine selbstorganisierte Materie
Einige obengenannte Begriffe wie Migration, Transmission, Zirkulation, Formation und Akkumulation von Materialien unterstreichen die Selbstständigkeit des Materials Staubniederschlag. Doch inwiefern ist es wichtig, Material als selbstständig anzuerkennen?
Material als eigenständigen Organismus zu begreifen bedeutet, die tradierten Hierarchien von Material, Form, Werk und gesellschaftlichen Normierungen in Bezug auf ihre Lebendigkeit und Wertigkeit zu dekonstruieren. Material dient nicht mehr nur als „passiver und toter Füllstoff einer Form oder Materialisierung von Bildinhalten“, sondern ist in seiner Stofflichkeit präsent (Wagner 2013:11). Das Material steht in wechselseitiger Beziehung mit der Umgebung und ist geprägt von historischen und gesellschaftlichen Bedeutungen.
Nikolaus Langs Werk Farbfeld – Sand und Ocker, Adelaide im Jahre 1991 zeigt etliche kleine spitzförmige Häufchen Erde, beziehungsweise Ocker und Sand in diversen farblichen Erscheinungen und leicht veränderten Zusammensetzungen. Die kleine farbliche Differenzierung zwischen Ocker des einen Standort und Ocker eines anderen Standorts zeigen einerseits die Vielfältigkeit des Materials auf oder weisen andererseits auf die Begrenzung der engen Bezeichnung des Materials hin. Ocker ist nie gleich Ocker. In der ordentlich gereihten Inszenierung am Boden werden die feinen Differenzierungen ersichtlich. Materialien sind je nach Fundort und Wirken der Umgebung in einer anderen Konstitution. Allen Ockersorten gemein ist, dass sie aus Eisenoxid bestehen und je nach Ort andere Verbindungen zu mineralischen und metallischen Elementen eingehen. Ocker und Sand werden nicht als Füllstoff für eine Form oder als farbgebende Komponente eines Werkes gebraucht, sondern sprechen durch ihre rohe Zurschaustellung und feine Differenzierung der Erscheinung über das Material selbst, dessen Herkunft, Zusammensetzung und Wirkungsmacht.
Material definiert sich im neuen Materialismus (vgl. Witzgall 2017:30-33) als interaktiver Ausgangsstoff jedes Werkes (vgl. Wagner 2013: 12). Es ist lebendig und als ebenbürtig wie auch selbstorganisiert zu betrachten (vgl. Witzgall 2017:31). Wie Nikolaus Langs Kunstwerk führt auch die Auseinandersetzung mit Staubniederschlag dazu, die Vielfältigkeit von Materialien zu erkennen. Dessen transformierende Zusammensetzung – und je nach Blickrichtung verändernde kulturelle Tradition Kulturelle Tradition interpretiere ich als Verkettung von allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Prägungen mit dem Material. (vgl. Wagner 2013.:11) – erklärt die Wirkungsmacht von Materialien mit aller Deutlichkeit. Zusätzlich ist Staubniederschlag, wie auch die kleinere schwebende Form des Feinstaubs, ähnlich wie Luft überall, wo keine Verdrängung einer anderen Masse oder willentlicher Reinigung stattfindet. Erika Wagner beschreibt den Staubniederschlag sehr zutreffend, wenn sie betont, dass jedes formende Ding der Abnutzung oder Verrottung verschrieben ist. Dieser fortlaufende Prozess erzeugt aus den einzelnen abgefallenen Materialien eine Art Universalstoff und stetig bewegende Zirkulation von Formung und Entformung (vgl. ebd.: 67). Diese stetige Transformation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, morphologischer Dinglichkeit und amorpher Flüchtigkeit macht eine starre Definition schwierig.
Material bietet Faszination und weckt das Interesse, die Beschaffenheit und Intraaktion Mein Verständnis zu Intraaktion als Begrifflichkeit von Barad ist als dynamischer Prozess zwischen Phänomenen zu verstehen, die sich im Wechselwirkungsprinzip austauschen und bedingen. Dadurch gibt es fliessende Übergänge und Vermischungen zwischen Begrifflichkeiten wie Nicht-Mensch und Mensch und keine definierten Grenzen mehr. Siehe Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus, Seite 50 mit der körperlichen Berührung auszukundschaften. Jedes Material riecht anders, sieht anders aus und ist in seiner Konstitution individuell. Jedes Material agiert im Wechselwirkungsprinzip mit dem Gegenüber. Staubniederschlag ist insbesondere ein Material, beziehungsweise eine Akkumulation von diversen Materialien, welches ohne jeglichen Einfluss menschlichen oder maschinellen Wissens, mit der Umwelt in Aktion tritt, ob Mensch diesen Umstand erforscht oder nicht. Die bewusste Annäherung an Wissen oder mit anderen Worten die Sichtbarwerdung durch Berührung von Auge und Körper führt zu einer Auflösung von Grenzen wie lebendig und tot, Zukünftigem und Vergangenem, Material und Mensch. Materialien lassen – anders als thematische Anfänge – unbegrenzte Denk- und Handlungsräume offen. Agnes Wankmüller interpretiert aufgrund Karen Barad's Buch des agentiellen Realismus Material als doppeldeutig. Es sei „ein gleichzeitig produzierter wie produktiver“ Organismus in stetig bewegender Prozesshaftigkeit. (Wankmüller 2016: 2)
Es ist also entscheidend, ein Material als ebenfalls prozessuales, fliessendes, sinnliches und gleichwertiges Gegenüber anzuerkennen, um die Wirkungsmacht des Materials anzuerkennen. Anhand des folgenden performativen Beispiels eines Staubspazierganges erläutere ich die Auseinandersetzung zwischen Material, Mensch und kulturellen Verstrickungen. Dabei beginne ich ähnlich wie Max Lamp: „Bei jeder neuen Übung habe ich ganz buchstäblich meine Hände in die Materialien gesteckt und beobachtet, was dabei geschah.“ (Witzgall 2017: 85)
4. Staubspaziergang – Eine detektivische Suche nach weltlichen Hinterlassenschaften
Mich beschäftigt während der gesamten Zeit meiner Untersuchung des Materials Staubniederschlag die Intraaktion zwischen dem Material und mir, bzw. den Teilnehmenden. Wie kann Staubniederschlag in seiner Vielfältigkeit ohne richtungsprägende Erörterungen der Naturwissenschaft oder kunsthistorischen Wissen entdeckt werden?
Performative Strategien sind Möglichkeiten eine Intraaktion von Material und Mensch zu erzeugen. Anders als beispielsweise wissenschaftliche Analysen mit klaren Eingangswerten und Zielvorstellungen können performative oder im Allgemeinen künstlerische Handlungen Atmosphären schaffen und unterschiedliche Denkrichtungen eröffnen.
Im folgenden Abschnitt erläutere ich anhand der durchgeführten Staubspaziergänge in diversen Städten der Schweiz, wie die Teilnehmenden mit dem Material intraagieren und inwiefern kunstpädagogische Strategien vom Material aus gedacht werden können.
Die Staubspaziergänge sind städtische Begehungen an verkehrsdichten, meist vernachlässigten Durchgangsorten; Gemacht für die Zirkulation, aber nicht um zu verweilen. An diesen Orten sammeln sich abgefallene Materialien, eine Form anarchistischer Unordnung von Materialien.
Gemeint sind starkbefahrene Strassen, wie die Rosengartenstrasse in Zürich oder die Achse St. Johann in Basel. Die auf Blickhöhe angebrachten Fenster der Gebäude zeugen meist aus einer anderen Zeit. Sie werden kaum mehr geöffnet und die Vorhänge sind zugezogen. Die Fenster, Hausmauern, Fensterbänke sind mit einer grauen camouflageartigen Schicht überzogen. An diesen Orten kratzen wir Staubdedektivinnen und Staubdedektive den Staub ab.
4.1. Material berühren
Die Nähe oder gar Berührung mit dem Material auf die Haut kombiniert mit dem leichten Geruch nach Verwesung und nassem Strassenbelag löst Ekel und Skepsis gegenüber dem Material und der Handlung des Sammelns aus. Der graue vermengte Staub klebt fest an der Haut und lässt sich kaum durch einfaches Abklopfen loswerden. Die erkennbaren Reste verrotteten Materials und insbesondere die unkenntlichen Reste von Materialien sind fremd und ekelerregend. Reste von toten Insekten, menschlichen Haaren und Kleiderfasern eines Anderen, wie die Existenz von augenscheinlich nicht Definierbarem geht ans leibliche Wohl. Staubniederschlag erscheint als Vermengung von bestimmten und unbestimmten Materialien und löst gleichzeitig Ekel wie Faszination aus.
Auch Fayet beschreibt in seinem Buch Reinigungen. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne wie das Wischen von Hausstaub zur Sichtbarmachung führt und „das Ausschütteln der Waschlappen in alle Himmelsrichtungen“ den Staub wieder von der Kategorisierung Schmutz entkoppelt und zu einem Mitbestanteil der Welt zugehörig macht. (Fayet 2003: 19-20) Staubniederschlag lässt sich demnach ebenso gut als Weltbestandteil wie als Feindbild klassifizieren. Er gehört zu der ständigen Bewegung und Zirkulation von Organismen dazu, wird sozusagen in der äusseren Erscheinung der Welt unterbewusst mitgedacht. Es sind sehr feine Unterschiede in geprägten Wahrnehmungen, die heftige Unterschiede in der Bewertung von Materialien auslösen. Gerade die performative Begehung und Auslieferung der Umgebung wie auch die Berührung mit dem Material hinterfragt tradierte Wertvorstellungen. Ein zuvor kaum beachtetes oder unsichtbares Material wird ins Zentrum gestellt und gesellschaftliche Normierungen von Reinheit und Unreinheit durch die eigene Erfahrung mit dem Material zum Vorschein gebracht.
Die detektivische Suche nach Staub fördert die Auseinandersetzung und Intraaktion mit Staubniederschlag in Bezug auf Wertesysteme. Dies bedeutet, wie auch Ulla Lenze in ihrem Bericht über Abfall. Im Niemandsland der Form beschreibt: „[...] dass Wert und Wertlosigkeit nicht allein von den Gegenständen abhängen, sondern von uns: unseren Absichten, Einschätzungen und Konventionen.“ (Hüsch 2011: 121)
Abgesehen davon, dass der Staub sich in unterschiedliche Zustände von einer störenden Unreinheit zu einem kaum wahrgenommen Mitbestandteil der Aussenwelt verändern kann, erreicht der rohe Staubniederschlag eben wegen kulturellen und kulturelllichen Zuschreibungen in seinem ganzen Leben nie einen Status der Reinheit. Er widerspricht und widersetzt sich jedem möglichen Ordnungssystem, in dem seine Zusammensetzung variiert, seine Bestandteile aus abgefallenen Materialien besteht und als undefinierter vermischter Staub erscheint. Die Berührung mit fremdem und undefinierbarem Staub verstösst gegen eine zuvor klar definierte kulturellen Ordnung von Reinheit, die nur durch die Beseitigungen des Staubes wiederhergestellt werden kann (vgl. Fayet 2003: 18) Fayet bezieht sich dabei auf Mary Douglas Untersuchungen zu Ritual, Reinheit und Gefährdung und zitiert daraus: „Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System. Schmutz ist das Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen, und zwar deshalb, weil Ordnen das Wegwerfen ungeeigneter Elemente einschliesst.“ (Ebd.: 19)
Die Staubdedektiv*innen beschäftigen sich zwangsläufig mit eigenen kulturell geprägten Ordnungssystemen, indem sie mit dem Material Staubniederschlag in Berührung kommen und sich der Öffentlichkeit in ungewohnter Art aussetzten, in dem sie sich an stickigen und lärmigen Orten länger als nötig aufhalten und nach staubigsten Stellen Ausschau halten.
4.2. Archivierung von Staubniederschlag
Was geschieht mit dem gefundenen Staub?
Fein säuberlich wird die Krankenkassenkarte, der Finger oder Ähnliches am einen Ende der Fensterbank angesetzt, um in langsamen Streichbewegungen den Staub zusammenzukratzen. Die meist linienförmigen Anhäufungen werden vorsichtig in Druckverschlussbeutel geleert. Es ist ein Akt der kontrollierten Vorsicht, da Verschwendung angesichts der Menge pro Fensterbank unangebracht ist. Scheinbar wertloses Material wird mit aufwendiger Methodik gesammelt und mit Ort und Datum gekennzeichnet. Das zuvor wertlose unbeachtete Material erlangt durch den erbrachten Aufwand der Suche und des Einsammeln Beachtung. Daraus erfolgt auch eine Umwandlung des Wertes. Auch Gethmann stellt fest: „Denn zur Charakteristik der kriminalistischen Spur gehört, dass zunächst Wertloses durch blossen Kontext- und Ortswechsel in Wert gesetzt wird.” (Gethmann 2013:148)
Die Archivierung erhebt wertloses Material zu einer Kostbarkeit. Die Beschmutzung des eigenen Körpers und dessen öffentliche Zurschaustellung im Akt des Sammelns bringt uns in Verlegenheit, klassifiziert uns als ebenfalls abgewertet, randständig und anders.
4.3. Sichtbarwerdung des Inneren Designs
Jeder einzelne gesammelte Staubniederschlag in einem Druckverschlussbeutel zeugt von individueller Erscheinung und Zusammensetzung. Je nach Fundort, Ablage und Umgebung verändert sich die Zusammensetzung nicht nur mikroskopisch, sondern auch von Auge.
Was geschieht, wenn der Staubniederschlag mit moderner Technologie, in diesem Falle die Vergrösserung der Mikroskopie und dem Vergleich zu Erfahrungswerten von Zusammensetzungen von Staubniederschlag, wissenschaftlich definiert werden kann? Die Rätsel wollen gelöst werden.
Durch die Anwendung der Apparate Nach Karen Barads Auffassung sind Apparate „nicht bloss Beobachtungsinstrumente, sondern grenzziehende Praktiken - spezifische materielle (Re-)Konfigurationen der Welt -, die sich materialisieren und Relevanz erlangen.“ (Barad 2012: 21) (Lichtmikroskop) und dessen Ergebnisinterpretation erfahren mehrere Bedeutungsebenen des Staubniederschlages eine Umwertung. Zuvor Unsichtbares und Amorphes wird unter dem Lichtmikroskop sichtbar und morphologisch. Staubniederschlag besteht aus vielen kleinen Formen, die „Proportionen, Harmonie und Symmetrie“ innehaben. (Böhme 2013: 52) Wohl geformte, in sich wiederholende Muster spiegeln sich unter dem Lichtmikroskop von geometrischer Ausgeglichenheit zu organischer Verspieltheit. Unter dem Lichtmikroskop wirken die Formen der einzelnen Staubniederschlagspartikel ästhetisch und ordentlich.
Böhme beschreibt auf eigene Weise, wie essenziell die moderne Technologie ist, um Material als im Wesen wesentlich zu betrachten. Böhme spricht von einer Sichtbarwerdung des inneren Designs von Materialien. Damit gemeint ist die Erfahrbarkeit von Konstruktion, Zusammensetzung und Eigenschaften des Materials, welche wiederum auch Auswirkungen auf die Erscheinung von Oberflächen haben(vgl. ebd.: 59). Das Eintauchen in die mikrobische Welt ermöglicht eine andere Sichtweise auf Materialien, da sie die Komplexität des Materials aufzeigt. Unter diesen Umständen bewirkt das Fremde Faszination anstatt Ekel. Diese mikrobische Anschauung führt dazu, die vermengte Staubansammlung zu vergessen und in die Welt der abgeriebenen Übrigbleibsel einzutauchen.
Die Technologie und Naturwissenschaft ermöglicht genauere Definitionen vorzunehmen und die Ursache und Verursachung zu ergründen. Das Bundesamt für Umwelt nimmt jährlich Proben von Moospflanzen an diversen Standorten in der Schweiz. Darin zu finden sind „Elemente wie Silber (Ag), Aluminium (Al), Arsen (As), Bismut (Bi), Cadmium (Cd), Cobalt (Co), Chrom (Cr), Kupfer (Cu), Eisen (Fe), Quecksilber (Hg), Molybdän (Mo), Nickel (Ni), Blei (Pb), Antimon (Sb) , Selen (Se), Vanadium (V) und Zink (Zn) gemessen. Zusätzlich wurden Barium (Ba), Cäsium (Cs), Strontium (Sr), Thallium (Tl) und Uran (U) die in regionalen Mischproben von 1990 bis 2015 bestimmt, die sich in den meisten Fällen auch nicht abbauen lassen.“ (BAFU 2018:7)
Staubniederschlag, eingeteilt in Partikel mit unterschiedlichen Herkunftsorten, erhält als Ganzes Zugehörigkeit und somit kulturellen Wert. Es ist ein wirkungsmächtiges Material und Mitbestandteil eines gesellschaftlichen und kulturell verketteten Systems.
4.4. Brennen und Sinnieren
Es gibt innerhalb des Staubspazierganges diverse Ansätze dem Material Wirkungsmacht und Wert zuzuschreiben. Die Wirkungsmacht wird durch die Selbständigkeit des Materials im Bezug auf Örtlichkeit und Zusammensetzung, wie dessen Intraaktion mit der Umgebung unterstrichen. Die Veränderung von ästhetischem und kulturellem Wert kann durch den die Archivierung und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Material, wie durch die naturwissenschaftliche Definierung der einzelnen Partikel ausgelöst werden.
In diesem Absatz Brennen und Sinnieren wird die letzte Methode innerhalb des Staubspazierganges beschrieben, um Wertigkeiten gegenüber dem Material zu hinterfragen und umzudeuten.
Der gesammelte Staubniederschlag wird mit dem Pinsel oder den Fingern auf vorgebrannte Tongefässe aufgetragen. Es sind kleine Vasen oder Trinkbehälter modelliert aus schamottiertem Ton und überzogen mit einer Schicht transparenter glänzender Glasur. Die Gefässe mit ihrer doppelcharakteristischen Beschichtung werden in einem holzbeheizten Ofen gebrannt. Durch die Erhitzung verschmelzen Staubniederschlag und die keramische Glasur, als Sinnbild für Reinheit, Glanz und Kostbarkeit, ineinander. Der aufwendig gesuchte und gesammelte Staub wird in einem Ofen ohne mögliche Überprüfung sprichwörtlich verheizt. Der Ausgang des Experiments ist ungewiss, da die Temperatur, der Auftrag, die Zusammensetzung des Staubes, bei jeder Durchführung anders ist - ein Moment des Bangens und Aushaltens.
Mit Sicherheit werden durch die Hitze von circa 1000° Celsius alle organischen Stoffe, wie beispielsweise Pilzsporen, Blütenstäube, kleine Insekten und Haare verbrannt. Zurück bleiben mineralische und metallische Anteile. Es sind die Anteile, die erst bei viel höheren Temperaturen verbrennen würden. Die Temperatur hat zur Folge, dass sich die zuvor als grau wahrgenommenen Partikel in ihrer Erscheinung verändern. Die metallischen und mineralischen Partikel erscheinen in grünen, gelben, blauen, braunen, roten, violetten und braunen Farbtönen auf den keramischen Trägern. Das sonst ewig flüchtige Material wird auf einen beinahe ewig haltbaren keramischen Träger eingebrannt. Flüchtiges soll fixiert werden. Unreiner Staub soll auf reine glänzende Glasur aufgetragen werden. Während des Brennprozess verschmelzen Glasur und Staubniederschlag ineinander. Staub wird zur farbgebenden Pigmentierung und Veredlung der Tonvase. Es folgt eine bewusste Umkehrung von Wertzuschreibungen.
Ganz nach Seels Theorie des artistischen Erscheinens lege ich diesen Teil des Staubspazierganges als „im Vornherein interpretierte und auf Interpretation angelegte Objekte“ aus. (Seel 2016: 158) Staubniederschlag erscheint als glänzende, farbige, reinliche Oberflächengestaltung auf dem Material Ton. Ebenfalls soll die Mischung von Ton und Staubniederschlag als Sinnbild für die Erde, worauf sich der Staubniederschlag wiederum sedimentiert, stehen. Die eingebrannten Zeitzeugen, wie ich die gebrannten Hinterlassenschaften auf dem Ton nenne, zeigen die Heftigkeit und Beständigkeit von ausgestossenen Emissionen. In den eigenen gebrannten Staubniederschlagsproben, beispielsweise des Seilergrabens in Zürich im Jahr 2018, wurden die Elemente Sauerstoff (O), Silicium (Si), Eisen (Fe), Calcium (Ca), Aluminium (Al), Magnesium (Mg), Natrium (Na), Kalium (Ka), Chrom (Cr), Titanium (Ti), Kalium (K) und Phosphor (P) gefunden. Die Proben wurden in der Firma Particle Vision GMbH analysiert und ausgewertet. Dieser Grobstaub besteht zu 90 % aus Reifenabreibungen. Die restlichen 10 % sind metallische und mineralische Partikel, deren Zuschreibung und Herkunft unklar bleibt.
Die Ursache der metallischen Rückstände finden sich im anthropogenen Handeln, wie am oben genannten Beispiel des Abriebs von motorisierten Verkehr, wieder.
5. Vom Material aus denkend
Um abschliessend nochmals auf meine Frage einzugehen, inwiefern kunstpädagogische Strategien vom Material aus gedacht werden können, möchte ich die wichtigsten Punkten hier zusammenfassen.
Materialien sind nicht nur Mittel zum Zweck, sondern eröffnen ein tätig sein mit ihnen, in sich selbst und der Umgebung (vgl. Barad 2012: 40).
Material kann durch performative Strategien berührt, sinnlich erfahrbar und in Umgebungskontext gebracht werden. Es ist ein dauernder Austausch mit dem Gegenüber.
Material ist per se vielfältig und kann im Kontext unterschiedlicher Disziplinen thematisiert werden. Es kann aus historischer, gesellschaftlicher, kunstepochaler, politischer, naturwissenschaftlicher und kultureller Sicht oder anderen Bereichen, sowie Kombinationen davon untersucht werden. Es kann für eigene thematische Zwecke gebraucht werden, umgedeutet, umgewertet oder als sich darbietendes rohes Material Räume der Interpretation ermöglichen. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Material Staubniederschlag wie dessen Kontextualisierung eröffnet Diskussionsräume zu tradierten Systemen von Wertigkeit, Zugehörigkeiten und kulturellen Vorstellungen von Un-/Ordnung.
Die physische Auseinandersetzung mit dem Material ermöglicht die kulturellen Ordnungssysteme bewusst wahrzunehmen und sie zu hinterfragen. Die Rolle der Staubdedektiv*innen ermöglicht Grenzen des gewöhnlichen Handelns zu übertreten, sich schmutzigen Stellen auszusetzten mit dem Interesse Beweise und Wissen zu schaffen.
Für mich bietet das Denken von Material aus schier unbegrenzten Möglichkeiten künstlerischen und kunstpädagogischen Schaffens. Die Arbeit mit Material gibt mir die Gelegenheit mein Verständnis von Kunst (vgl. Sturm 2012:2) als darbietende, interpretationsreiche, prozessuale Handlung der Mitwelt zu vermitteln.
Literaturverzeichnis:
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