Schlagwörter: Aufmerksamkeit an den Rändern, Irritation, Subjektposition
Mit diesem Text möchte ich einen Beitrag zur Konzeptionalisierung einer Praxis leisten, die „zwischen den Stühlen“ situiert ist und genau daraus ihre Dynamik entfalten kann. Dabei beziehe ich mich auf die Tätigkeit von Kulturagent*innen, die im Projekt „Kulturagent.innen Schweiz“ die teilnehmenden Schulen darin begleiten, sich ein kulturelles Schulprofil zu erarbeiten.
Als künstlerischer Leiter im Kulturagent.innen-Projekt (bis Mai 2022) hatte ich die Aufgabe, die Kolleg*innen darin zu unterstützen, die Arbeit vor Ort zu reflektieren. Dazu muss man wissen, dass Kulturagent*innen allein schon strukturell aus einer ‚Zwischenposition‘ heraus agieren. So kommen sie etwa von aussen an eine Schule und gehören nicht zum Schulpersonal. Sie werden von einer Stiftung bezahlt, die mit dem Projekt das Ziel verfolgt, kulturelle Teilhabe und mehr Partizipation im Schulalltag zu verankern. Bei dem Versuch, dieses Ziel mit den Schulen konkret zu verfolgen, machen sich jedoch unterschiedliche Verständnisse von Kultur und von Schule, die Interessen der Schulverwaltungen und manchmal auch verletzte Eitelkeiten bemerkbar.
Beim Nachdenken über die Arbeit in diesem Spannungsfeld sind mir folgende drei Begriffe in den Sinn gekommen: ‚Aufmerksamkeit an den Rändern‘Damit meine ich Beobachtungen, Stimmungen, Sprachinhalte etc., die ‚hängen bleiben‘ und für die wir in einer Situation oft nicht den inneren Abstand, die Ruhe oder die Aufmerksamkeit dazu haben, uns mit ihnen zu befassen. Diese teilweise mehr gespürten als sprachlich benennbaren Impulse können im Sinne von Sigmund Freuds „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ als Ansatzpunkt für eine dekonstruierende Interpretation der jeweiligen Situation genutzt werden. Sie können aber auch als störend ausgeblendet bleiben, als etwas, dem wir keine nähere Beachtung schenken wollen. Im angelsächsischen Raum gibt es einen Begriff, der eine Fähigkeit beschreibt, die mir damit verwandt erscheint, nämlich „sitting with discomfort“. Hier geht es um das Aushalten eines negativ empfundenen Impulses oder Gefühls, ohne dem Abwehrimpuls nachzugeben. , ‚Irritation‘ und ‚Subjektposition‘. Ausgangspunkt hierfür waren konkrete Anekdoten einzelner Kulturagent*innen, aber auch meine Tätigkeit als Dozent an der Pädagogischen Hochschule FHNW sowie als Forschender in einem Projekt, das seit einigen Jahren abgeschlossen ist und in dem der Umgang mit Kontingenz im Schulkontext untersucht wurde. Der hier vorgelegte Versuch, die drei Begriffe in eine Beziehung zueinander zu setzen, ist von all den genannten Kontexten informiert. Mir geht es dabei darum, das (subjekt)bildende Potenzial der Künste näher zu bestimmen und damit auch zu begründen.
Beginnen möchte ich mit einem Spielzeug für Kleinkinder, das auch für meine Kinder eine gewisse Zeit lang relevant war. Es geht um das so genannte Steckhaus. Können Sie sich etwas darunter vorstellen? Ein Steckhaus gibt es in vielen Ausführungen. Das Prinzip ist stets gleich: Es gibt ein Gehäuse mit verschieden geformten Öffnungen, durch die hindurch Spielsteine gesteckt werden können – vorausgesetzt, ihre Form passt. Die Kinder sind aufgefordert, herauszufinden, welches Element zu welcher Öffnung gehört. Auf diese Weise lernen sie bspw. Formen und Farben zuzuordnen.
Stellen wir uns für einen Moment vor, unser Bewusstsein wäre ein Steckhaus. Es befände sich im Inneren und wir würden durch die Öffnungen hinaus in die Welt schauen. Die Öffnungen würden den Kategorien und Normen entsprechen, durch die hindurch unser Bewusstsein das Wahrgenommene filtert und Wirklichkeit konstruiert. Im Gegensatz zum Steckhaus wären die Öffnungen dabei allerdings nicht statisch, sondern elastisch. Je nach Ausformung geben sie unserem Bewusstsein unterschiedliche Aspekte zu sehen. Die Form der Formen spielt dabei mit unserer jeweiligen Subjektposition zusammen. Es macht einen Unterschied, ob man sich beispielsweise als Künstler*in, als Elternteil, als Lehrer*in, als Student*in, als Westeuropäer*in etc. in einer Situation bewegt und aus den eigenen Steckhaus-Öffnungen schaut.
Als ich im Internet das erste Mal das Bild The Creation of God von Harmonia Rosales sah, habe ich nicht nur ungewohnte Körper in ikonischen Posen gesehen. Denn schliesslich zeigt der ursprüngliche, millionenfach reproduzierte Ausschnitt aus Michelangelos Deckenfresko nicht irgendwelche Figuren. Michelangelo stellt Gott bei der Erschaffung des Adam dar, der laut biblischem Schöpfungsmythos als Urahn aller Menschen gilt. Und beide werden von Michelangelo als männlich und in heller Hautfarbe dargestellt (was im Bibeltext so nicht vermerkt ist). Das Deckenfresko reproduziert eine Norm, die im Umkehrschluss Menschen implizit als minderwertig markiert, die von dieser Norm abweichen. Ich war beim Anblick der Figuren in Rosales’ künstlerischer Aneignung darüber irritiert, wie sehr mir ins Auge stach, dass Michelangelos Personal komplett weissUm den Konstruktionscharakter von ‚weiss‘ zu verdeutlichen und es von einer Verwendung als Farbadjektiv abzugrenzen, wird es kursiv geschrieben. ist. Und habe mich dann gefragt, wie ich dies all die Jahre habe ‚übersehen‘ können?
Der Blick aus meinem Steckhaus auf ein vielfach wiederholtes Bild trug dazu bei, das weiss-Sein als Norm zu internalisieren und meine Subjektposition als männliches, weisses Mitglied der deutschen respektive europäischen Mehrheitsgesellschaft hervorzubringen. Indem ich durch das Deckengemälde als Angehöriger der „europäischen Familie“ angerufen wurde, übersah ich aufgrund des Privilegs eigener Zugehörigkeit und meiner Passung (männlich/weiss) den Ausschluss anderer. Die Bedingungen der Hervorbringung meines Verständnisses von mir selbst als weisse, männliche Person hatte ich nicht im Blick – was eine exakte Bestätigung dessen darstellt, dass die eigene soziale Position als weisse Person unmarkiert ist.
Aus Sicht des Konstruktivismus verhält es sich so, dass wir Wirklichkeit nicht nur sprachlich repräsentieren (abbilden), sondern konstruieren. ‚Sehen‘ oder – allgemeiner formuliert – das Wahrnehmen ist demnach kein neutraler Akt, sondern eine aktive Tätigkeit. Was wir sehen, deuten wir aus erlernten Kategorien heraus. Die Kategorien selbst wiederum bleiben im Hintergrund und werden gar nicht bewusst. Obwohl sie bestimmen, was uns wie vor Augen tritt und wie wir es deuten, bleiben sie wie der Rand einer Brille ausgeblendet. Dadurch entsteht der Eindruck eines unmittelbaren, direkten Zugriffs auf Wirklichkeit.
Ein Auftrag von Bildung kann darin gesehen werden, essentialisierende Zu- und Festschreibungen aufzulösen und transformatorische Prozesse – also „Prozesse der Veränderung der kategorialen Figuren, kraft derer sich das Verhältnis von Subjekt und Welt entwirft“ (Kokemohr 2007: 16) – zu ermöglichen. Aber wodurch können solche Prozesse angestossen oder zumindest begünstigt werden?
Bildungstheoretische AnsätzeBeispielsweise im Kontext der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von Klaus Holzkamp, der transformatorischen Bildungstheorie nach Rainer Kokemohr, Christoph Koller und Arnd-Michael Nohl sowie der Negativität des Lernprozesses bei Käte Meyer-Drawe. verweisen hier auf Erfahrungen, die sich der Einordnung mittels gewohnter Deutungsmuster entziehen. So wird ein bildendes Potenzial in Irritationen respektive in Situationen der Begegnung mit „Fremdem“ oder „Anderem“ gesehen, in denen grundlegende Kategorien des eigenen Welt- und Selbstentwurfs herausgefordert werden, da sie nicht greifen und brüchig werden (vgl. Kokemohr 2007: 14).
Das Video Gender Queer, Qu’est-ce Que C’est? (2005) zeigt eine etwas ältere Aktion der Aktivist*in und Künstler*in Del LaGrace Volcano. Im Video verwickelt Del LaGrace Passant*innen auf der Strasse in ein Gespräch darüber, was ein Mann sei oder was eine Person nach ihrer Ansicht zu einem Mann mache und ob sie sich selbst für einen halten würden. Durch seine körperliche Präsenz und Erscheinung sowie der scheinbar einfachen Frage, was einen Mann zu einem Mann mache, begibt er*sie sich für die Passant*innen in die Subjektposition des Anderen.
Das Andere verstehe ich hier als etwas, das vom selbstverständlich gewordenen und daher transparenten Eigenen abweicht (vgl. Reuter 2002) und das sich gewohnter Einordnungen und Deutungen widersetzt und daher stört (vgl. Meyer-Drawe 2008). Es kann sich dabei um reale Personen handeln, die sich ausserhalb vorherrschender Normen der Mehrheitsgesellschaft bewegen als auch um Aktionen wie die von De LaGrace Volcano im Video.
Die Erfahrung von Differenz, der Anspruch des Anderen, kann als Störung (des Eigenen, des sozialen Konsens, der Passung mit anderen etc.) empfunden werden oder als etwas Herausforderndes (vgl. Reuter 2002: 10). Dieses Störende und Widerständige (bspw. in einer Lehr-Lern-Situation) mag dazu führen, dass es am Rand der eigenen Aufmerksamkeit hängen bleibt und als Impuls lieber übergangen wird. Dabei kann das, was als seltsam oder irritierend empfunden wird, in der Reflexion eben auch als Marker für eigene Normen und Kategorien produktiv gemacht werden, um sich ihrer so überhaupt bewusst zu werden. Denn das, was hier nicht in den gewohnten Deutungsmustern aufgeht, ist der Einstieg in ein anderes Verstehen, in eine Neukonstruktion des Eigenen – und damit vielleicht ein Weg, die Öffnungen im eigenen Steckhaus zu erweitern.
Mit einer Anekdote möchte ich zum Schluss den Bogen zur Tätigkeit der Kulturagent*innen zurückzuschlagen. Sie handelt von einem Kulturagenten, der sich zu Beginn eines Projekts den Schüler*innen einer heilpädagogischen Schule vorgestellt hatte. Hier kam es zu einem bemerkenswerten Vorfall: Er war in einer Klasse mit sechs Kindern und hatte seinen Fotoapparat dabei, um seinen ersten Besuch in der Schule zu dokumentieren. Er sprach gerade, als plötzlich eines der Kinder auf ihn zukommt und ihm die Kamera aus seinen Händen nimmt. Die Betreuer*innen, die dabei waren, haben das Kind ermahnt und von ihm verlangt, dass es die Kamera zurückgibt, was es auch tat. Doch danach hat es geschrien und geweint, so dass die Betreuer*innen mit ihm aus dem Raum gegangen sind. Im Zug auf dem Weg nach Hause fällt dem Kulturagenten auf, dass er gar nicht wusste, was dieses Kind mit der Kamera anfangen wollte. Vielleicht, so kommt es ihm plötzlich in den Sinn, wollte es einfach nur Fotos machen! Er erfährt bei seinem nächsten Besuch, dass es in der Schule einige Kinder gibt, die gerne fotografieren und so kommt es zu einem ersten Foto-Projekt und schliesslich zu einer Kooperation mit einem Fotomuseum, das bis dato noch wenig Erfahrungen in der Arbeit mit kognitiv und/oder körperlich beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen hatte.
Das Bemerkenswerte dieser Anekdote liegt für mich darin, dass das Kind nach herkömmlichen Kategorien übergriffig agierte und die Betreuer*innen dementsprechend „folgerichtig“ agierten, indem sie es ermahnten und die Rückgabe einforderten. In dieser Perspektive handelte es sich um ein störendes Verhalten. Man hätte es gut dabei belassen können. Schliesslich sind solche Situationen in einer heilpädagogischen Schule keine Seltenheit. In der Wahrnehmung des Kulturagenten bleibt aber etwas stehen, das ungelöst bleibt – bis sich dieses „Etwas“ in die Frage übersetzt, was das Kind denn eigentlich mit der Kamera wollte. Durch diese Frage wird es möglich, die Handlung des Kindes nicht nur als Regelverstoss zu werten, sondern auch als Ausdruck eines Bedürfnisses zu lesen.
Für mich ist diese Anekdote ein gutes Beispiel dafür, wie eine Aufmerksamkeit an den Rändern bewusster Wahrnehmung dafür sorgen kann, eine auf Grundlage bestehender Kategorien ‚vorausverstehend‘ interpretierte Situation anders zu lesen – was gewissermassen eine Erweiterung der Öffnungen im eigenen Steckhaus darstellt. Möglich wird die andere Deutung nicht zuletzt durch die Zwischenposition, aus der heraus Kulturagent*innen agieren können, weil sie weder zum Schulpersonal noch zur Gruppe der Schüler*innen oder der Eltern gehören.
Literatur/Referenzen:
Kokemohr, Reiner (2007): Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, Hans-Christoph/Marotzki, Winfried/Sanders, Olaf (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung: Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Berlin: de Gruyter, S. 13–68.
Reuter, Julia (2002): Ordnungen des Anderen – Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld, transcript Verlag.
Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens. München, Wilhelm Fink Verlag.