Schlagwörter: Diskriminierung, Gewalt, Social Media
Die britische Kunsthistorikerin Claire Bishop beschreibt in Disordered Attention. How We Look at Art and Performance Today (2024) eine Gleichzeitigkeit der Aufmerksamkeit und deren Zusammenhang mit digitalen Technologien im Kontext von Kunst, Kunstbetrachtung und Kunst-Machen: „We are physically present in the performance but also networked to multiple elsewheres.“ (Bishop 2024: 4) Besuchende sind gleichzeitig betrachtend und postend – instant-rezensierend auf Social Media und in Chats. Bishop argumentiert gegen die grundlegende Opposition von Aufmerksamkeit und Ablenkung, die sie als falsche Binarität bezeichnet (vgl. ebd.: 8). Die Normiertheit von Aufmerksamkeit und Ablenkung wird schon lange diskutiert und kritisiert, in der Kunst, Kunstvermittlung, im Bildungsbereich und in kritischen Theorien. Bishop nennt hier Feminismus, Black Studies, Queer- und Transtheorie und Disability Studies. Die Ablenkung, die in der normierten Vorstellung des aufmerksamen Subjekts Als aufmerksames Subjekt wird oft genug immer noch eines verstanden, das der Norm (privilegiert, weiß, heterosexuell, able-bodied, willensstark/mündig) entspricht und überdies andere, die dieser Norm nicht entsprechen, zum Objekt der Aufmerksamkeit macht (vgl. Bishop 2024: 15). Siehe ebenfalls Laura Mulveys Forschung zum Male Gaze (Mulvey 1975). keinen Platz hat, wird, so schreibt Bishop weiter, als moralisches Urteil gehandelt und nicht als Beschreibung dessen, „how we look and think“ (ebd.: 15). Der Vorwurf des Abgelenkt-Seins wird als eine Form definiert, wie eine dominante soziale Gruppe Ablehnung gegenüber einer anderen Gruppe äußert (vgl. ebd.: 17–18). Claire Bishop beschreibt Ablenkung demgegenüber nicht als Gegenteil von Aufmerksamkeit, sondern selbst als eine Art von Aufmerksamkeit (vgl. ebd.: 18).
Der Film Everything but the World (2022) Über das Kollektiv DIS, den Film und deren Ausstellung How to Become a Fossile (Secession Wien) siehe Christian Höllers Rezension in springerin Heft 2/2022 (vgl. Höller 2022). des US-amerikanischen Kollektivs DIS macht Ablenkung als Aufmerksamkeit zur Methode: Im Film werden eine Vielzahl narrativer Stränge und Darstellungsweisen beinahe gleichzeitig oder schnell aufeinanderfolgend zueinander in Beziehung gestellt und erinnern an die vielen alltäglichen Handlungen, die, ebenfalls gleichzeitig, unterschiedliche Aufmerksamkeiten fordern – parallel aktive Gruppenchats, Kommentarspalten auf Social Media, virtuelle Arbeitstreffen. Everything but the World lädt im Sinne einer produktiven Ablenkung dazu ein, sich mit einzelnen Elementen tiefergehend zu beschäftigen, gedanklich bei etwas „hängenzubleiben“. Mein Ausgangspunkt ist das wiederkehrende Sujet des Castles Das Castle kommt wiederholt vor, etwa auch in Form von geführten Touren durch mittelalterliche Burgen, Aufnahmen von Fast-Food-Ketten mit Castle-Namen und eben auch als juristische Doktrin., der Festung, und genauer eine Szene, in der ein Anwalt in seinem Büro die sogenannte Castle Doctrine erklärt (min. 10:00 – 16:11). Es handelt sich dabei, laut Anwalt im Film, um ein rechtliches Prinzip, das ins 13. Jahrhundert in England zurückgeht und bis heute dort sowie im angloamerikanischen Raum Teil der Rechtsordnung ist. Es besagt, dass die Anwendung von tödlicher Gewalt gegenüber bedrohlichen Eindringlingen in das eigene Zuhause gerechtfertigt ist (ebd.). Im Film wird ein realer Fall beschrieben, in dem die Castle Doctrine herangezogen wurde, um eine obdachlose Person in den USA zu verteidigen, die in ihrem selbstgebauten Shelter aus Karton auf dem Gehweg von gewalttätigen Männern angegriffen wurde und sich mit einem Messer gegen die Angreifenden verteidigte (vgl. DIS Kollektiv 2022).
Diese Szene lässt mich nicht los, am alltäglichen Weg in mein eigenes Zuhause schweifen meine Gedanken ab – hin zur Frage, wovor ein Zuhause geschützt werden kann und muss. Ich denke an Krieg, Militär, Mieterhöhungen und angedrohte und vollzogene Wohnungsräumungen. Aber sofort denke ich auch an die nicht enden wollenden Fälle von Polizeigewalt (oft, aber nicht ausschließlich aus den USA), bei denen Polizist*innen Personen in deren Zuhause töten. Um einen konkreten Fall zu benennen, der sich, während ich diesen Text im Juli 2024 schrieb, ereignete: Am 6. Juli 2024 wurde Sonya Massey, eine Schwarze Frau, in ihrem Zuhause in den USA von einem weißen Polizisten erschossen, nachdem sie selbst polizeiliche Hilfe anforderte. Ich halte dies auch im Hinblick auf die Initiative #saytheirnames fest, die unter anderem die Namen von durch institutionelle rassistische Gewalt getöteten Personen sammelt und erinnert. Außerdem möchte ich hier die in den USA geltenden „no-knock warrants” erwähnen, die es der Polizei ermöglichen, ein Zuhause zu betreten, ohne sich zuvor anzukündigen. Diese Handlung gilt als absolut gefährlich und wird scharf kritisiert (vgl. Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/No-knock_warrant#cite_note-:0-2 [06.80.2024]). In ihrem Buch Eine feministische Theorie der Gewalt (2024) analysiert Françoise Vergès, wie Schutz und Beschützt-Werden mit Klasse, Race und Heteronormativität zusammenhängen (Vergès 2024: 20). Sie denkt eine „feministische und dekoloniale Politik des Schutzes“ (ebd.: 17), die sich durch Depatriarchalisierung und Dekolonisierung äußert und als Alternative zu patriarchalem, staatlichem Schutz, „diesem weiten Feld besetzt von Staat, privaten Milizen, Polizei, Gerichten, der Wirtschaft und ‚zivilisatorischem Feminismus‘“ (ebd.: 19) verstanden werden kann. Depatriarchalisierter und dekolonisierter Schutz zeichnet sich aus durch eine Politik, die auf den Erfahrungen von Gemeinschaften, aktivistischen Gruppen und Expert*innen beruht (vgl. ebd.: 19) und die durch deren Handeln neoliberale Politiken, Extraktivismus und den endlosen Fortschrittsglauben hinter sich lassen (vgl. ebd.: 20).
In diesem Text interessieren mich die unterschiedlichen diskriminierenden Sphären patriarchaler Räume. Dabei beschäftige ich mich mit dem halböffentlichen Arbeitsraum namens Social Media, in dem neben Firmen und Influencer*innen auch Künstler*innen arbeiten. Social Media fungiert für Künstler*innen als Arbeitsraum, als Ausstellungsraum, als Diskussionsraum und als Raum, der genutzt wird, um Sichtbarkeit zu erlangen, Kontakt aufzunehmen und Inhalte unterschiedlicher Bild-/Videoqualitäten, Darstellungsweisen, Positionen, Styles und Themen zu sichten. Ich bringe Arbeitserfahrungen von queerfeministischen Künstler*innen, die ich in Form von Gesprächen festgehalten habe, mit dem theoretischen Material zur Beschreibung der unterschiedlichen Formen von Diskriminierung in Verbindung.
Sphären des Patriarchats
Hinsichtlich der Frage, für wen so etwas wie die Castle Doctrine ursprünglich verfasst wurde, lässt sich auf Vergès’ „validen Körper“ (Vergès 2024: 18) hinweisen. Dieser ist weiß, männlich und gilt – jedoch nur aufgrund der Arbeit rassialisierter Körper – als wirtschaftlich leistungsfähig, und somit schützenswert: durch verschiedene polizeiliche Maßnahmen, die naturalisiert und dadurch sozusagen unsichtbar sind (vgl. ebd.: 18). „Eingesperrt in ihren Enklaven schließen die validen Körper diejenigen Körper aus, die als bedrohlich wahrgenommen werden, die ihre Welt nie ohne Erlaubnis und immer unter der Anordnung willkürlicher Festnahme betreten.“ (ebd.: 19) Francoise Vergès’ valider Körper ist wohl Bishops aufmerksamem Subjekt nicht ganz unähnlich, das sie als „privileged, white, straight, able-bodied, volitional“ (Bishop 2024: 8) beschreibt. Voraussetzung für so etwas wie Castle Doctrine ist die Annahme, dass das eigene Zuhause per se der Ort ist, wo jemand sicher ist und alles (auch sich verteidigen) darf. Dies ist aber zu oft nicht Realität für Frauen, Kinder, trans und nonbinären Personen, für BIPoC und außerdem, wie erwähnt, sehr unrealistisch, wenn die Polizei vor der Tür steht. Für Personen, für die statistisch das Zuhause einer der gefährlichsten Orte ist, ist eine Regelung wie die Castle Doctrine weniger schlüssig, wenn ebendieses Zuhause auch der Ort ist, der mit gewaltbereiten Personen geteilt wird. Als Beleg dafür stehen zahlreiche Statistiken zu Femi(ni)ziden „Eine Frau* stirbt, weil sie eine Frau* ist.“ (Wahl-Herrera/Orsi 2024: 46) Die Bezeichnung „Femi(ni)zide“ markiert und vereint die zwei unterschiedlichen Schreibweisen, einmal femicide aus der englischsprachigen Debatte der 1970er (ab 1976, geprägt von Diana Russell) sowie feminicido aus der Debatte der 1990er-Jahre, gestartet vom massenhaften Verschwinden und Ermorden von Frauen und Mädchen im mexikanischen Ciudad Juárez (ab 1997, geprägt von Marcela Lagarde), und soll nochmals mehr die vielschichtigen gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen betonen, die diese ermöglichen (vgl. AK Biwi Kefempom 2023: 24–25). Die Schreibweise mit der Klammer, Femi(ni)zide, verweist auf die lokalen, politischen und theoretischen Kontexte und Traditionen und markiert die Vielzahl an Gewaltformen, die neben der direkten Tötung von FLINTAs (Frauen, Lesben, inter, nichtbinären, trans und agender Personen) Femi(ni)zide bedingen: Gewaltausübung, fehlende (staatliche) Versorgungsleistungen oder Abtreibungspolitiken (vgl. AK Biwi Kefempom 2023: 12–13). und häuslicher Gewalt, deren Vergleichbarkeit aber aufgrund uneinheitlicher Definitionen – sowohl zwischen einzelnen Ländern als auch innerhalb eines Landes – schwierig ist (vgl. Wahl-Herrera/Orsi 2024: 49–50). 2017 war Österreich europaweit das Land mit den meisten Femi(ni)ziden, das Land in dem am meisten als weiblich gelesene Personen getötet wurden, im Verhältnis zu Einwohnendenzahlen, zu Gewalttaten und Tötungen insgesamt. Obwohl die Vergleichbarkeit nicht einfach möglich ist, zeigen solche Statistiken klare Tendenzen auf (vgl. AK Fe.In 2020: 96).
Die argentinisch-brasilianische Anthropologin Rita Segato schreibt vom „Frauenkörper als Territorium des Krieges“ (Segato 2022), sie beschreibt gender-based violence Den Begriff „sexuelle Gewalt“ beschreibt sie als irreführend, da es nicht um Libido und Sexualität geht, sondern um öffentliche Zurschaustellung von Macht und Gruppenzugehörigkeit in der mafiösen Struktur des Patriarchats (vgl. Segato 2022: 15–16). umfassend als Aneignung, Macht und Entmachtung (vgl. Segato 2022: 16), als Verurteilung von Körpern, über die Aneignung hinaus (vgl. ebd.: 19). Das Patriarchat, als die „archaischste und dauerhafteste politische Struktur in der Geschichte der Menschheit“ (ebd.: 16), wird durch Mythen gestützt und gefestigt und macht die Veränderung der Gesellschaftsstruktur scheinbar unmöglich (vgl. ebd.: 17–18). Das Männliche wird darin zum „Subjekt der paradigmatischen Äusserung in der öffentlichen Sphäre“ (ebd.: 18), hingegen wird das Häusliche zum Privaten, Intimen, zum Rand, ohne Politizität, was erst die „Vulnerabilität und die tödliche Verletzbarkeit“ ermöglicht (ebd.: 19). Die Alltäglichkeit dieser patriarchalen Gewaltausübung führt zur Pädagogik der Grausamkeit und hat enorme Folgen: Sie spricht von Normalisierungseffekten, von der Abnahme von Empathie und der Zunahme von Habgier; diese Desensibilisierung fördert die Isolierung der Mitmenschen (vgl. ebd.: 20). Dies geschieht, in Bezug auf die angesprochene gender-based violence, in privaten Näheverhältnissen, auf Arbeit, in öffentlichen Einrichtungen, durch Filme, Musik, in der Kunst und in der Bildung usw., aber auch in der scheinbaren Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum. Bestimmte öffentliche Räume werden zu gewissen Tages- bzw. Nachtzeiten von einzelnen Personengruppen gemieden So wie Personen auch private Räume unter bestimmten Umständen, zu gewissen Tages- und Nachtzeiten meiden, weshalb dem öffentlichen Raum als Ausweich-Raum eine ganz besondere Wichtigkeit zukommt., wobei dabei auf höchst problematischer Weise anstelle von „Täter*innenräumen“ von „Angsträumen“ im öffentlichen Raum gesprochen wird (vgl. Krasny/Lingg/Lomoschitz 2024: 175).
Segatos Pädagogik der Grausamkeit bildet sich – selbstverständlich in anderer Form – auch in digitalen Räumen ab, in denen die jahrhundertelange koloniale, patriarchale, genderbasierte Gewalt fortgeführt wird, sowohl durch Verhaltensweisen wie Hassnachrichten, nicht-konsensuelle Dick-Pics, Drohungen von Einzelpersonen oder orchestrierten Gruppen und Vergewaltigungsphantasien als auch auf der Ebene der Technologie selbst. Technologie ist nie losgelöst von ihren Entstehungsbedingungen zu betrachten und zu bewerten (vgl. Sollfrank 2018: 16). Diese äussern sich auf der Ebene des Codes, der Entwicklung sowie in Nutzung und Instandhaltung, wo Diskriminierung und Gewalt programmiert wird. Besonders hervorheben möchte ich hier zwei Positionen: In Race after Technology. Abolistionist Tools for the new Jim Code (2019) analysiert die US-amerikansiche Soziologin und Professorin für African American Studies Ruha Benjamin, wie aufkommende Technologie rassistische Vorurteile und Ungleichheit nicht bekämpft oder beseitigt, sondern im Gegenteil die bestehenden Verhältnisse verstärkt und verfestigt (vgl. Benjamin 2019: 5). Sie nennt diese umfassende Problematik, die sie anhand vieler Beispielen analysiert, subtile Formen der Diskriminierung, kodierte Ungleichheit, die, obwohl die Technologien den Anschein von Fortschritt und Neutralität geben, die Verbreitung von rassistischen Ergebnissen vereinfachen und beschleunigen (vgl. Benjamin 2019: 22). Mit Google Search hat sich die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin, Gender-, African American- und Information Studies Professorin Safiya Umoja Noble in Algorithms of Oppressions. How Search Engines Reinforce Racism (2018) aus der Perspektive der „critical information studies and critical race and gender studies“ (Noble 2018: 6) umfänglich auseinandergesetzt. Dabei steht im Mittelpunkt, dass eine Werbefirma relativ unhinterfragt das Monopol über das Teilen und Finden von Informationen im Web behauptet, mit allen damit verknüpften epistemologischen Gefahren von Filterblasen, Diskriminierung, rassialisiertem und sexualisiertem Bias, etc. (vgl. Noble 2018: 5). Noble plädiert basierend auf in sechs Kapiteln analysierten Schwerpunkten für eine „Reevaluierung der Informationsressourcen, die von den Interessen eines Werbekonzerns kontrolliert werden.“ (ebd.: 5; eigene Übersetzung) Dabei stehen ebenfalls wieder automatisierte Abläufe und Algorithmen im Mittelpunkt, die alle möglichen Infos heranziehen und verstärken, mit teilweise fatalen Folgen, beispielsweise für von Diskriminierung betroffene Personen, wenn Informationen und Automatisierungen von allen möglichen Stellen unhinterfragt angewendet oder übernommen werden (vgl. Noble 2018: 13). Im Fall von Social Media sind es die Plattformen – diejenigen, die darüber bestimmen und daran zentral verdienen, was geteilt wird Dem digitalen Bild im Kontext der Kunstvermittlung geht meine Kollegin Helena Schmidt in „Poor images“ – arme Bilder? (2024, im Erscheinen) nach. So spricht sie von Bildregimen (nach Rogoff) und beschreibt ein Paradoxon der Gleichzeitigkeit: die Fülle an Bildern wird als „unüberblickbar“ beschrieben, die einfache Zugänglichkeit suggeriert jedoch gleichzeitig eine gewisse Überschaubarkeit. Die verfügbaren Inhalte scheinen voller Verschiedenheit, sind aber auch durch visuelle Bildregime, von bestimmten Unternehmen und Plattformen geprägt, die sie formen und vereinheitlichen, sodass Social Media die scheinbar gleichen Inhalte immer wieder hervorbringt (vgl. Schmidt 2024: 72–74). – und genauer Algorithmen, KIs und Arbeiter*innen, die nach festgelegten, aber der Öffentlichkeit oft unbekannten Kriterien bestimmen, welche Inhalte als konform, nicht-gewaltvoll gelten bzw. welche Art von Online-Aufmerksamkeit noch gerechtfertigt oder schon Hass ist.
Social-Media-Arbeiten in der Kunst
Nachdem somit der private, der öffentliche und auch der digitale Raum als von Gewalt und Diskriminierung durchzogen festgehalten ist, bewegt sich dieser Text im Folgenden hin zum halböffentlichen Raum des Arbeitsplatzes. Konkret beschäftigt mich der digitale Raum, in dem – wie alle anderen auch, und doch anders – Künstler*innen in Kontakt mit Öffentlichkeiten treten: Social Media fungiert für Künstler*innen als Arbeitsraum, als Ausstellungsraum, als Diskussionsraum und als Raum, der genutzt wird, um Sichtbarkeit zu erlangen, Kontakt aufzunehmen und Inhalte unterschiedlicher Bild-/Videoqualitäten, Darstellungsweisen, Positionen, Styles und Themen zu sichten. Gleichzeitig kann der eigene Account als Zuhause gelesen werden, in Anlehnung an das Castle – der Account als Raum, dessen Inhalte und Gestaltung selbst bestimmt werden. Das Land, auf dem das Castle steht, könnte beispielsweise die Plattform sein, das Castle (der Wohnraum) der Account, die Einrichtung die eigenen Posts. Insbesondere für queerfeministische Künstler*innen ist Selbstbestimmung in diesem System wieder mit grossen Fragezeichen verbunden: Sie sind (auch) im digitalen Raum mit Problemen und Gewalt konfrontiert, durch Trolle, Shitstorms, Hatespeech, Löschungen wegen Nacktheit – kurz gesagt, Problemen, die den beschriebenen Ordnungen und Regeln des Patriarchats entstammen. Social Media als Arbeitsplatz der Diskriminierung und Unsichtbarmachung, an dem gesellschaftlicher Ausschluss und epistemische Gewalt reproduziert wird: Was heisst dies konkret für queerfeministische Künstler*innen, die auf Social Media arbeiten, die sich mit im Patriarchat von Social Media tabuisierten Themen beschäftigen, für Künstler*innen, die Nacktheit und Körper abseits des patriarchalen Blicks, des Male Gaze, begreifen und darstellen, oder die mit satirischen Mitteln die vorherrschenden gesellschaftlichen Zustände aufzeigen und kritisieren?
Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis: Künstler*innen-Interviews
Im Zuge des Nachdenkens über diese Fragen habe ich die im Herbst 2023 und Winter 2024 mit fünf Künstler*innen geführten Gespräche herangezogen, in denen wir über ihren Arbeitsalltag auf Social Media gesprochen haben. Meine Auswahl basiert auf der langjährigen Beobachtung von Arbeiten und Arbeitsbedingungen von Künstler*innen in meiner Bubble, in Echtzeit konnte und kann ich deren unterschiedliche Probleme und Herausforderungen verfolgen. Die Künstler*innen Anahita Neghabat, Julischka Stengele, Natalie Assmann, Stefanie Sargnagel und Sophia Süßmilch arbeiten mit unterschiedlichsten Medien. Anahita Neghabat habe ich wegen ihrer Erfahrungen als Meme-Macherin zum Gespräch eingeladen. Sie betreibt seit 2019 den Meme-Account @ibiza_austrian_memes, mit dem sie seit der sogenannten Ibiza-Affäre 2020 haben meine Kollegin Helena Schmidt und ich gemeinsam einen Artikel zu politischen Memes im Kunstunterricht verfasst, in dem wir Bezug nahmen auf @ibiza_austrian_memes. Der Artikel ist in der 18. Ausgabe des SFKP veröffentlicht (siehe https://sfkp.ch/artikel/coming-back-from-ibiza). die rechtspopulistische Innenpolitik Österreichs in Form von Memes kommentiert(e) und deren rassistische, menschenverachtende, diskriminierende Praxis in detaillierten Bildcaptions vermittelt(e) (vgl. Neghabat 2021). Anahita Neghabat hat viel Erfahrung mit der ausufernden Arbeit von unbezahlter Content Creation und Moderation von mansplainenden, sexistischen Kommentaren und DMs gesammelt. Julischka Stengele ist transdisziplinäre Künstlerin, Performance-Macherin, Vermittlerin und Lehrende. Sie arbeitet mit Spaziergängen, beschäftigt sich mit Klasse und Konsum, mit Körpern und deren Bewertung im Hinblick auf Begehren, Schönheit, Gesundheit oder auch Beziehung zu Natur. Viele Projekte, wie „BUSSI AUS WIEN“ (2022/2023), „Wandertag 1“ (2021), „Lobauversuchung“ (2022), „Von der Hand in den Mund“ (2024), „Ballast | Existenz“ (2020), „FAT FEMME FURIOUS“ (2019), „Bodies of Water“ (2020/2021), „Here to Stay (Natural Habitat)“ (seit 2009) von Julischka Stengele sind auf ihrer Website nachzulesen (siehe https://julischka.eu/). Da sich ihre künstlerische und aktivistische Arbeit auch mit Nackt-Sein und Nacktheit auseinandersetzt, wird sie somit auf Social Media generell zum Problem. Die Grenze des Möglichen auf Social Media thematisiert Julischka Stengele immer wieder direkt auf ihrem Profil, wenn Screenshots von ihrer Content Violation mit Follower*innen geteilt werden und somit das Thema sichtbar und zurück in die Community getragen wird. Natalie Assmann ist Regisseurin, Theaterschaffende, Performerin, Kuratorin und Aktivistin in queerfeministischen und antifaschistischen Kontexten. Für mehr Informationen zu Natalie Assman, siehe https://brut-wien.at/de/Kuenstler-innen/Assmann-Natalie-Ananda. In ihren Stücken beschäftigte sie sich zuletzt mit queeren Formen von Zusammenleben, Alleinsein und Einsamkeit „Lonely for You – die Super Show“, 2024, WUK Wien (siehe https://www.wuk.at/programm/natalie-assmann-lonely-for-you-die-super-show/). oder mit verschiedenen Formen der Sexarbeit und deren unterschiedlichen Arbeitsrealitäten. „City of Whores“, 2021, F23 Wien, Konzept und Regie Natalie Assmann (siehe http://www.natalieassmann.com/city-of-whores-red-rules-vienna). Ich habe sie als Gesprächspartnerin angefragt, da sie 2021 ihren Account und somit ihr jahrelang aufgebautes Netzwerk verlor. Stefanie Sargnagel ist Schriftstellerin, Satirikerin und Cartoonistin. Auf Social Media wurde sie in den 2010er-Jahren mit veröffentlichten Kurztexten bekannt, die dann in Buchform erschienen. Binge Living: Callcenter-Monologe (Wien, redelsteiner dahimène edition: 2013); In der Zukunft sind wir alle tot. Neue Callcenter-Monologe (Berlin, mikrotext 2014); Fitness (Wien, redelsteiner dahimène edition: 2015), Statusmeldungen (Reinbek, Rowohlt 2017). Ihre satirischen Cartoons sind immer wieder Teil von Kampagnen gegen Sexismus und Femi(ni)zide Frauenbüro der Stadt Linz (https://www.linz.at/frauen/sargnagel-cartoons.php); #etwasläuftfalsch, Plakatkampagne seit 2020 in Südtirol (https://etwaslaeuftfalsch.it/plakate/)., werden seit Jahren regelmässig in verschiedenen deutschsprachigen Medien publiziert, Unter anderem in der Falter Wochenzeitung und der Augustin Stadtzeitung. und wurden 2018 als Mini-Serie animiert. Die Normale Show, 2018, Regie: Stefanie Sargnagel (siehe https://w.sixpackfilm.com/de/catalogue/2785/). Stefanie Sargnagel hat über die Jahre enorme Social-Media-Reichweite erlangt, die neben der Aufmerksamkeit vieler Fans auch jene von mansplainenden, gewaltbereiten, rechtsextremen Individuen und Gruppen auf sich zog und zieht (inklusive Shitstorms). Sophia Süßmilch ist Künstlerin, sie arbeitet mit Malerei, Zeichnung, Performance, Fotografie, Objekten, Video und Text. Für mehr Informationen zu Sophia Süßmilch, siehe https://sophiasuessmilch.com/ Sie und ihre Arbeiten werden immer wieder heftig kritisiert, angegriffen und bedroht, von konservativen, rechten, nationalistischen, anti-feministischen, patriarchalen Personen. Dies geschah zuletzt ausgelöst durch lokale Vertretende der deutschen Partei CDU, die im Juni 2024 eine Performance im Rahmen ihrer Ausstellung in Osnabrück verbieten lassen wollten (vgl. Monopol Magazin 2024). Sophia Süßmilch ist seit Jahren sehr aktiv auf Social Media, sie nutzt die Plattformen als Performance-Space, um ihre Arbeiten zu zeigen und auch, um Werbung für ihre Projekte zu machen. Mit ihr über Arbeitsbedingungen zu sprechen war sehr aufschlussreich, da das Gespräch an ein vor Jahren für einen anderen Artikel geführtes anknüpft (vgl. Lingg 2021). Ich nehme ihre Arbeit auf Social Media seit Jahren als Followerin wahr, sehe die Probleme: Shadowbans Wikipedia beschreibt Shadowban als das „vollständige oder teilweise Blockieren eines Benutzers beziehungsweise seiner Inhalte in einer Online-Community, sodass für den Benutzer nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, dass er gesperrt oder gedrosselt wurde.“ (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Shadowban) , Sperrung und Löschungen von Beiträgen. Sophia Süßmilch hat viel Erfahrung im Umgang mit Social Media, den existierenden Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und Übergriffen und der damit einhergehenden Ignoranz der Problematik seitens der Kunstwelt.
Auch wenn die künstlerischen Praxen unterschiedlich sind, sind die stark normierten Rahmenbedingungen, in denen sich die Künstler*innen betätigen, die Plattform (in der Kunstwelt vor allem Instagram) für alle gleich. Obwohl der Social-Media-Account Teil eines fragwürdigen Gebildes ist, dessen Regeln starr wie Festungsmauern sind, ist er doch eine wichtige Repräsentationsform, eine wenig komplizierte Möglichkeit, zu präsentieren, was Kunstschaffende arbeiten, vertreten, tun. Losgelöst vom gewaltvollen Umfeld öffentlicher und privater Räume, ist der Account dennoch kein Castle, das nach Belieben gebaut, geöffnet, zugänglich gemacht, aber auch geschützt werden kann. Vielmehr ist der Arbeitsalltag geprägt von Einflussnahme der Plattform allgemein (Community Guidelines, Nutzungsbedingungen), aber auch von übergriffigem, gewaltvollem und diskriminierendem Verhalten seitens der Follower*innen und User*innen. Im Rahmen meiner Recherchen habe ich drei zentrale Problembereiche herausgearbeitet, die die Grundlage für die Gespräche mit Anahita Neghabat (AN), Natalie Assmann (NA), Julischka Stengele (JS), Stefanie Sargnagel (StS) und Sophia Süßmilch (SSM) bildeten und die auch als Leitfaden für meine Analyse von Social Media als Arbeits-, Performance- und Ausstellungsraum für queerfeministische Kunst funktionieren. Die drei Problemfelder sind: 1. Diskriminierung durch die regulativen Instrumente der Social-Media-Plattformen, basierend auf Plattform Policies und Community Guidelines; 2. Diskriminierung durch Nutzer*innen und Follower*innen, manifestiert durch direct messages (DMs), Meldungen, Hasskommentare, Shitstorms u.Ä.; 3. Reflexion dieser Probleme und Suche nach Strategien, ihnen zu begegnen.
Im folgenden Abschnitt teile ich Erfahrungen der Künstler*innen aus den Interviews: konkrete Beobachtungen und Fälle, die verdeutlichen, wie weit das eigene digital-virtuelle Zuhause queerfeministischer Künstler*innen davon entfernt ist, ein selbstbestimmter Raum zu sein.
1. Plattformprobleme
Alle bis auf eine Gesprächspartnerin haben schon einmal einen Account mindestens temporär „verloren“. Sophia Süßmilch ist von einer Plattform „auf Lebenszeit gesperrt“ (SSM, Abs. 28), Stefanie Sargnagel hat den Zugang zu ihrem Account zurückerhalten, weil sich „ganz viele Leute eingesetzt“ haben (StS, Abs. 3). Natalie Assmann hat ihr aus unterschiedlichen Feldern zusammengesetztes „kleines Netzwerk“ (NA, Abs. 3) durch die Löschung ihres Accounts für immer verloren. Alle Gesprächspartnerinnen beschreiben die Handhabung von Regelverstössen, Streitfällen bzw. die blosse Definition dieser Regeln als „intransparent“ und „willkürlich“ (JS, Abs. 29) und auch durch die „schwammig formulierten“ Guidelines nicht eindeutig nachvollziehbar (SSM, Abs. 246). Dies gilt ebenso für die mitunter starken Schwankungen bei der Anzahl der Views (AN, Abs. 3; StS, Abs. 120). Wann ein Post (Fotos, Videos, aber auch geschriebener Content) als Übertretung gilt, scheint jedenfalls unterschiedlich beurteilt zu werden – abhängig von Ästhetik, Bodytype (SSM, Abs. 4), vorhergegangene Vergehen (StS, Abs. 17; SSM, Abs. 16) oder sogar von Verknüpfungen und Verlinkungen mehrerer an früheren Vergehen beteiligter Accounts (NA, Abs. 23). Teilweise sind Entscheidungen und Zulässigkeiten widersprüchlich, je nachdem ob der betroffene Inhalt als Beitrag im Profil oder als Story veröffentlicht wurde (SSM, Abs. 28). Manchmal trifft eine Art Frühwarnung ein, die als neoliberale Schein-Wahlfreiheit bezeichnet werden könnte: Wenn gegen keine der Community Guidelines eindeutig verstossen wurde, überlässt diese es den User*innen, ob sie das Risiko eingehen, dass ein Post eventuell nicht zulässig sein wird oder ob sie sicherheitshalber doch löschen möchten (SSM, Abs. 62). Die bereitgestellten Mittel, nach denen Beschwerden kategorisiert eingebracht werden können, damit Löschungen reevaluiert werden, sind nicht ausreichend. Zudem wird das, was nach der Beschwerde-Eingabe passiert bzw. wie ein „Urteil“ gefällt wird, nicht transparent gemacht (JS, Abs. 25; JS, Abs. 67; NA, Abs. 27; StS, Abs. 120; SSM, Abs. 242–243). Viele der hier genannten Aspekte spielen zusammen, als Natalie Assmann im Zuge des eingangs erwähnten Projekts City of Whores ein Posting des Covers des österreichischen feministischen Magazins an.schläge (Ausgabe (VIII / 2021) Die Ausgabe kann hier nachbestellt werden: https://anschlaege.at/produkt/anschlaege-ausgabe-2021-08/. teilt, das am Projekt beteiligte, unbekleidet posierende Personen zeigt. Schon während des Covershoots und Layoutprozesses wurde darauf geachtet, dass die Fotografie sowie das Cover den Community Guidelines von Social Media entsprechen, sodass es auf den Social-Media-Accounts des Magazins und der Künstler*innen und Projektbeteiligten geteilt werden kann. Alle unzulässigen Körperteile waren also nicht sichtbar oder mit Text verdeckt (NA, Abs. 15). Natalie Assmann teilte das Cover mit etwas Verzögerung auf ihrem Account und erhielt daraufhin eine Warnung, die gefolgt war von der Löschung ihres Accounts (NA, Abs. 9). Zwei von Natalie Assmanns veröffentlichten Beiträgen waren zuvor bereits gelöscht worden, was mit dem „Verstoss gegen die Richtlinien“ rechtfertigt wurde (NA, Abs. 13). Das Projekt war insgesamt begleitet von Shadowbans sowie von der allgemeinen Sorge um Profil-Verlust und Sanktionen, so wurden für bestimmte Buzzwords Schreibweisen mit Sonderzeichen verwendet oder diese abgekürzt, ausserdem hatten einige am Projekt beteiligte Personen Backup-Accounts erstellt, für den Fall, dass ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichen (NA, Abs. 7). Das fragliche Magazin-Cover, das zur Löschung von Assmanns Account führte, ist auf anderen Accounts noch abrufbar.
2. User*innenprobleme
Die Probleme, die durch individuelle Accounts von Privatpersonen ausgelöst werden, sind vielschichtig. So beschreiben zwei Gesprächspartnerinnen „schmierige“ oder sexuell anzügliche Nachrichten (JS, Abs. 51; AN, Abs. 72), die teilweise auch dazu führen, dass der eigene Content von aussen sexualisiert wird (AN, Abs. 72). In einem Fall wird eine jahrelang wiederkehrende unerwünschte Kontaktaufnahme via DMs beschrieben, die, einmal blockiert, von immer wieder neuen Accounts geschieht. Die Inhalte dieser Nachrichten sind definitiv als wiederholte sexualisierte Gewaltnachrichten zu werten und werden von Sophia Süßmilch als „Sadismus“ bezeichnet (SSM, Abs. 40). Das Blockieren von Accounts wird immer wieder beschrieben, wegen Hassnachrichten, Bedrohungen, Stalking durch Personen, die teilweise wieder mit neuen Accounts zurückkommen (JS, Abs. 51, Abs. 59; AN, Abs. 9; SSM, Abs. 40). Auch haben fast alle schon Shitstorms erlebt, die misogynen Charakter hatten und teilweise auch als politisch motiviert beschrieben werden – etwa wenn politische Parteien bzw. parteinahe Gruppierungen Shitstorms konstruierten (StS, Abs. 69), oder gezielt Profile durchsuchen, um Beiträge zu melden, die schon lange Zeit online und ursprünglich von der Plattform-Prüfung als in Ordnung eingestuft waren (AN, Abs. 3; StS, Abs. 15; SSM, Abs. 36). Wie sich Sexismus von Follower*innen ausserdem äussert, kann Anahita Neghabat berichten: Lange Zeit war nicht bekannt, dass der Meme-Account @ibiza_austrian_memes von Anahita Neghabat betrieben wird. DMs von Follower*innen waren immer wieder an ein „Team von Burschen“ adressiert (AN, Abs. 9). Nachdem sich Anahita in einem Fernsehinterview als Autorin des Accounts zu erkennen gab, wandelten sich die Nachrichten immer öfter zu mansplaining, besserwisserischen Kommentaren, die erklären, dass sie einen Fehler gemacht habe in ihren Beschreibungen. Der inhaltliche Fokus wird verschoben, weg von der politischen Bildungsarbeit des Memes und der erläuternden Captions, hin zu einer Diskussion über vermeintliche Fehler, die durch zustimmende Likes amplifiziert wird, denn je mehr Likes ein Kommentar bekommt, desto mehr Sichtbarkeit bekommt er in den Comments. Anahita Neghabat beschreibt dies als Untergrabung ihrer Arbeit, die die gesamte politische Arbeit und die Seriosität des Accounts allgemein zur Disposition stellt. Folglich hat sie immer versucht, sofort auf Kommentare dieser Art, die sehr nerven- und zeitaufwendig und meistens faktisch falsch sind, zu antworten und sie quellenbasiert zu korrigieren (AN, Abs. 32).
3. Problemreflexion
Die Gespräche waren eine gute Möglichkeit, die Beschaffenheit des halböffentlichen Arbeitsraumes Social Media und dessen Nutzung als Künstler*in umfänglich zu reflektieren. Die Erfahrungsberichte zeigen, wie Arbeitsrealitäten von Künstler*innen mit den Analysen des patriarchalen diskrimierenden Raumes von Vergès und Segato sowie den weiters hervorgehobenen Autor*innen korrespondieren. Der digitale Raum führt Rassismus, Sexismus und alle Formen der Diskriminierung fort. Aus den Gesprächen habe ich folgende sechs Hauptpunkte für meine Forschung ausgemacht, die ich in Zukunft für weiterführende Vermittlungsformate in der feministischen Kunstvermittlung heranziehen möchte: 1. Die Stimmung auf Social Media hat sich zugespitzt, Kommunikation ist weniger wertschätzend, Kritik angriffiger (AN, Abs. 44), die Reaktion auf nackte Körper zunehmend prüder (SSM, Abs. 188). 2. Es gibt einen grossen Wunsch nach Alternativen zu den Plattformen der „mächtigen Typen“ (NA, Abs. 83). 3. Es gibt Wut auf die Plattform, wegen der Kontrollabgabe und dem eigenen mangelhaften Wissen über die deren Abläufe (NA, Abs. 35), aber auch Selbstkritik an den selbstgewählten Protestmitteln, die als kreisläufig beschrieben werden – etwa wenn die vonseiten der Plattform ausgesprochene Drohung, dass der eigene Account gesperrt werden könnte, dann als Screenshot mit Kritik daran wiederum auf ebendieser Plattform geteilt und von einigen Follower*innen kommentiert wird (JS, Abs. 41). 4. Trotzdem wird von „Öffentlichkeit als Schutz“ (StS, Abs. 29) gesprochen, wenn Follower*innen eine Öffentlichkeit für ein Problem generieren. Zuspruch und Unterstützung ist wichtig, um nicht nur die Ungerechtigkeit seitens der Plattform, sondern auch seitens der User*innen (Hass-)Kommentare, Sexismus, Shitstorms) abzufedern (StS, Abs. 25; SSM, Abs. 16; SSM, Abs. 56; SSM, Abs. 217–218). 5. Die Moderation von Accounts erfordert ein hohes Maß an zeitlichen Ressourcen (AN, Abs. 36), dazu kommt die Erstellung und Pflege von Backup-Accounts, als Absicherung für den Fall des Account-Verlustes (SSM, Abs. 94). 6. Sich von den Plattformen fernzuhalten, sie freiwillig zu verlassen, wird aus unterschiedlichen Gründen als unrealistisch beschrieben, da sie für alle wichtig für das Kontakt-Halten mit der Welt sind, in Hinblick auf die Veröffentlichung der eigenen Arbeiten, berufliche Möglichkeiten sowie in Bezug auf die Arbeiten der anderen und als Inspiration (JS, Abs. 67; SSM, Abs. 82; SSM, Abs. 160).
Ausgehend von diesen konkreten Erfahrungen von Künstler*innen lässt sich die Bedeutung des Filmtitels Everything but the World nochmals „ablenken“: Der Account in den virtuell-sozialen Medien kann nicht ohne die Welt um ihn herum verstanden werden. Kunstschaffen findet auch online mitten in der patriarchalen Ordnung statt, wie die Arbeitsbedingungen zeigen. Um diese Strukturen zu verlassen, damit sich die heteronormative, patriarchale, rassistische und diskriminierende Aufmerksamkeit hin zu queerer Ablenkung wandelt – um mit Bishop zu sprechen –, muss die Normiertheit dessen, wer oder was Aufmerksamkeit bekommt und performen kann, täglich aktiv hinterfragt werden. Die von Vergès geforderte Depatriarchalisierung und Dekolonisierung von Schutz, der auf den Erfahrungen von Expert*innen und Aktivist*innen in Gemeinschaften aufbaut, könnte für Follower*innen von queerfeministischem Content bedeuten, die Schutz-Arbeit, die Kunstschaffen online erfordert, mitzuleisten: ab und zu die Kommentarspalten der Social-Media-Lieblinge durchzusehen, um diskriminierenden, sexistischen, rassistischen, gewaltvollen und mansplainenden Kommentaren etwas entgegenzusetzen. Backup-Accounts und Aufrufe zur Solidarität können geteilt werden, es kann der Plattform direkt geschrieben und gefordert werden, dass fälschlicherweise geschlossene Accounts von queerfeministischen Künstler*innen wieder zugänglich gemacht werden. Den betroffenen Künstler*innen kann geholfen werden, durch Accountlöschung verlorengegangene Netzwerke wieder neu aufzubauen – und ganz generell können die fragwürdigen Plattformen mit-verlassen werden, falls es zu einem größeren Umzug der queerfeministischen Kunstbubble auf ein anderes Netzwerk käme. Zu guter Letzt können wir alle, als Kunstvermittler*innen, Kurator*innen, Lehrende, Kunsthistoriker*innen und alle anderen In-der-Kunstwelt-Tätigen, die Arbeit von queerfeministischen Künstler*innen auf Social Media stärker als Teil der jeweiligen künstlerischen Praxen begreifen, betonen und entsprechend beachten, betrachten, behandeln, beschreiben, beschützen und entlohnen.
–– support your local queerfeminist artists online <3
Referenzen
an.schläge. Das feministische Magazin VIII/2021: Sexarbeit. Only Rights Can Stop The Wrongs. https://anschlaege.at/produkt/anschlaege-ausgabe-2021-08/ [13.08.2024].
Autor*innen-Kollektiv „Biwi Kefempom“ (2023): Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen. Berlin, Verbrecher Verlag.
Autor*innen-Kollektiv „Feministische Interventionen“ (2020): Frauen*Rechte und Frauen*Hass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin, Verbrecher Verlag.
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Bishop, Claire (2024): Disordered Attention. How We Look at Art and Performance Today. London/New York, Verso.
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Lingg, Sophie (2021): Caring Curatorial Practice in Digital Times. In: Krasny, Elke et al. (Hgs.), Radicalizing Care. Feminist and Queer Activism in Curating. Berlin, Sternberg Press, S. 48–57.
Monopol Magazin (2024): Sophia Süßmilch. Künstlerin wird nach CDU-Boykottaufruf bedroht. 19. Juni. https://www.monopol-magazin.de/kuenstlerin-wird-nach-cdu-boykottaufruf-bedroht [30.08.2024].
Mulvey, Laura (1975): Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen, 16/3/1975, S. 6–18.
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