Eintopf der radikalen Gleichzeitigkeit
Raphael Di Canio
Beginnen Sie, indem Sie die Kunst als Basis in einem großen Topf erhitzen. Fügen Sie nach und nach etwas Alltag und einen Löffel Bildkultur hinzu, um die Masse zu bereichern. Rühren Sie den Kunstbegriff unter, bis sich alles gut vermischt hat. Gießen Sie die Demokratie hinein und lassen Sie die Mischung kurz köcheln. Geben Sie den Bund Wissenschaft hinzu und lassen Sie alles eine halbe Stunde ziehen. Verfeinern Sie das Ganze mit Fakten und einer Handvoll Medien. Ein Schuss Kollaboration sorgt für die nötige Verbindung. Zum Schluss geben Sie einen Bund Humor und eine Prise Unsinn dazu und lassen das Gericht noch einmal ziehen, um die Aromen zu intensivieren. Der Eintopf der radikalen Gleichzeitigkeit sollte heiß serviert werden.
So leicht wie hier ist es sicherlich nicht immer, ein Rezept für gelingenden Kunstunterricht zu verfassen, doch gute Zutaten wie diese finden sich so einige in Everything but the World. Die Videoarbeit präsentiert in beeindruckender Weise den Facettenreichtum unserer Gegenwart mit ihren gesellschaftlichen und persönlichen Herausforderungen. Der Kunstunterricht eröffnet uns darüber hinaus wie kein anderes Fach die Möglichkeit, Raum zu schaffen, um unsere Lebenswelten multiperspektivisch und kritisch zu erforschen und zu hinterfragen. Und dennoch können wir auch mit der besten Vorbereitung kein Gelingen garantieren.
In Anbetracht aktueller globaler und nationaler Entwicklungen müssen wir Schüler*innen auf eine ungewisse Zukunft vorbereiten, die von einer Gleichzeitigkeit digitaler Bildkultur geprägt ist und alle möglichen Eventualitäten, Unsicherheiten und Wendungen impliziert. Wir müssen ihnen die Werkzeuge geben, die sie brauchen, um unsere demokratischen Werte und Prinzipien zu schützen: Kunst, kritisches Denken und eine Prise Humor.
Kunst ist besonders relevant, weil sie Freiheiten und neue Perspektiven schaffen kann. Sie fordert zum kritischen Denken auf und lädt dazu ein, alternative Ideen zu formulieren und Lösungen für gesellschaftskritische Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Kunst ermutigt Schüler*innen, die Welt nicht nur so zu akzeptieren, wie sie ist, sondern zu experimentieren, wie sie sein könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei faktenorientiert die Demokratie zu verteidigen und den Schüler*innen die Kompetenz zu vermitteln, in Zeiten von Desinformation, KI und Fake News zwischen Fakten und Fiktion (gerade in Bezug auf Bilder) zu unterscheiden. Humor und spielerische Ansätze helfen uns dabei, neue Wege des Ausdrucks zu finden, ohne die Ernsthaftigkeit der Themen zu vernachlässigen.
Mensch-werden, Mensch-sein und Mensch-bleiben erleben
Marlène Tencha
Die Relevanz des Materials für die Kunstpädagogik und den Kunstunterricht findet sich bereits im Titel der Arbeit selbst: Alles außer die Welt. Das außer verstehe ich hier als Wegweiser in eine Richtung außerhalb der menschlichen Existenz. Betrachter*innen des Films werden spielerisch in eine nicht-menschliche und zeitlich undefinierte, ja fast außerirdisch-futuristische Perspektive gebracht, von wo aus sie das Mensch-werden, Mensch-sein und Mensch-bleiben erleben, und vielleicht so etwas wie eine menschliche Essenz entlarven.
Das Einnehmen dieser „außerirdischen“ Position gelingt im Video mit intelligenten, an die Betrachter*innen gerichtete Fragen und gezielt eingesetzten filmischen Mitteln. So leitet eine erzählende Person durch das Video (zunächst im Off, dann auch im Bild). Auch werden wir beispielsweise nach dem Konzept der Toilette befragt – Warum denkst du, dass andere Menschen sich um deine Scheiße kümmern wollen? – und merken sofort, dass eben nicht alles einfach immer so war, sondern über die Zeit hinweg etabliert wurde. Eine Frage führt zur nächsten und auch auf filmischer Bildebene gelingt diese Dekonstruktion und Hinterfragung von etablierten Konzepten oder gängigen Sachverhalten und Ethnomethodologien. Was uns zunächst als eine Wüstenlandschaft vorkommt, wird plötzlich zum Filmset, indem sich irgendwo im Bild eine Tür öffnet und eine Set-Aufnahmeleitung hereinspaziert. So wird das potentiell Reale zur Imagination (und umgekehrt).
Das inhaltlich sehr dicht vermittelnde Video ist außerdem filmisch hervorragend an die visuellen Gewohnheiten einer mit den sozialen Medien aufgewachsenen Generation angepasst. Es ist ein perfektes Beispiel dafür, welche unendlichen Möglichkeiten des Erzählens sich beim gezielten Umgang mit (Bild-)Material ergeben. Media Literacy im Kunstunterricht – und damit meine ich eben diesen erlernten Umgang mit (Bild-)Material – eröffnet den Schüler*innen eine neue Form der Kommunikation und somit eine neue Form der Wissensproduktion, gerade weil sich die Kunstpädagogik durch eine produzierende Wissenserlangung definiert: dem Zusammenschluss von Kreativität und Produktion, der so genannten Kreation. Konkret scheint mir hier das Videoessay als Format besonders effektiv, denn wir vermitteln spielerisch ohne uns sprachlich (im Rahmen universeller Möglichkeiten) zu limitieren, indem wir dekonstruieren und neu konstruieren. Ebenso ist dies bei Filmsequenzen: Wir schneiden das Material und verbinden es neu. Wir trennen und verbinden Welten und brechen mit Dimensionen. Wir erschaffen sogar ganz neue Szenarien. Zusammenhänge entstehen und können wieder entwirrt werden.
Gerade heutzutage wird unsere Weltanschauung und unser gesellschaftlicher Umgang zutiefst von (Bewegt-)Bildern beeinflusst, ebenso umgekehrt. Wo, wenn nicht in der Kunstpädagogik, sollte man sich deshalb mit dieser Form der gezielten Einnahme unterschiedlicher Perspektiven und der spielerischen Trennung oder Verbindung von Content (deutsch: Inhalten) beschäftigen? Wie gelingt multiperspektivisches Erzählen? Vielleicht mit einer spielenden Narration, die so tut, als würde sie keinem menschlichen Gefüge unterlegen? Birgt dieser Versuch des „nicht-menschlichen“ und imaginierenden Vermittelns nicht vielleicht das größte Potential für die Kunstpädagogik?
Die Absurdität des Jetzt hat künstlerisches Potenzial
Samuel Rauber
Um gefühlt vier Uhr morgens versucht jemand, dir etwas über Exponentialfunktionen beizubringen. In deiner „For You“-Page erscheint eine australische Breakdancerin, die sich bewegt, als wäre sie ein Känguru. Du befindest dich inmitten einer Diskussion über Gaza, bei der es gilt – du schickst rasch ein verwackeltes Bild via Snapchat an deine beste Freundin – eine eigene Haltung zu entwickeln. Dir wird ein recht verwirrendes Video einer deutschen Künstlerin gezeigt. Wenn du es richtig verstanden hast, geht es darum, Tanzbewegungen zur Energiegewinnung zu nutzen. Du checkst kurz deinen Fortschritt bei Clash of Clans. Was das Video wohl mit dem Stop-Motion-Projekt zu tun hat, welches du bald schon abliefern musst? Die Schlange in der Mensa wirkt endlos. Auf der Snap Map siehst du, dass die anderen schon fast beim Döner-Imbiss angekommen sind. Der Tag zieht an dir vorbei wie Reels auf Instagram.
Der schulische Alltag aus Sicht eines jungen Menschen scheint sich für mich (Millennial, 34 J.) gar nicht so stark von Everything but the World zu unterscheiden: Tiefgründiges, Überforderndes, Emanzipierendes und Absurdes gehen bei beiden scheinbar Hand in Hand. Wie auch in der Schule dreht sich bei Everything but the World Vieles um den Akt des Vermittelns (beispielsweise als How-to-Video, als Podcast, als juristisches Lehrstück, als Burgführung oder als Fast-Food-Pep-Talk). Durch die Aneinanderreihung mutmasslich divergierender Szenen erzeugt DIS eine skurril-aufdringliche Form der Gleichzeitigkeit, mit der auch Jugendliche in ihrem Alltag täglich konfrontiert werden.
Als Kunstpädagoge möchte ich solche Gleichzeitigkeiten oder auch Widersprüchlichkeiten produktiv nutzen und vermeintlich bewährte Erzählpfade hinterfragen (beispielsweise in der Kunstgeschichte). Zuweilen fügt sich schlüssig zusammen, was in einem ersten Moment verwunderlich oder gar disparat erschien. Auch geht vom Impliziten, noch nicht Abgeschlossenen und daher noch nicht Beurteilten ein gestalterisches Potenzial aus, dem ich im Kunstunterricht gerne weiter auf den Grund gehen möchte. Dafür will ich mir Zeit nehmen.
Everything at Once
Zoé Haupts
In Everything but the World, einer Videoarbeit des DIS Kollektivs, entfaltet sich ein Potpourri relevanter Themen, die sowohl Neugier wecken als auch rezeptiv herausfordern. Durch das häufige Wechseln von Ebenen und das Eröffnen neuer Bühnen entsteht zeitweise eine Reizüberflutung sowie eine Gleichzeitigkeit verschiedener Erzählstränge. Die Parallelität von Realitäten und Erzählsträngen wird bereits in der Anfangsszene angedeutet, als die Protagonistin durch eine freistehende Tür aus einer Wüstenlandschaft in ein Filmstudio tritt und somit den Prozess des Geschichtenerzählens sichtbar macht.
Der Titel kann als kritischer Kommentar auf eine anthropozentrische Haltung verstanden werden, bei der der Mensch alles fordert – Ressourcen, Fortschritt, Entwicklung – ohne jedoch die Verantwortung für die Konsequenzen seines Handelns zu übernehmen. Polemisch gesagt: Der moderne Mensch will alles auf einmal, und das möglichst schnell.
Wie lässt sich diese Arbeit in der Kunstpädagogik behandeln?
Mit ihrer spielerischen bis philosophischen Vielfalt, durchzogen von popkulturellen und trashigen Elementen, zieht die Arbeit ihre Betrachter*innen in den Bann und bietet Anknüpfungspunkte für ein breites Publikum. Die Mischung aus Themen und Ästhetik eröffnet Denkräume, die im kunstpädagogischen Rahmen eine Basis für Ästhetische Forschungen sein können.
Mögliche Forschungsthemen reichen von der Verantwortung des Menschen für unseren Planeten und Ressourcennutzung, über den Übergang zur Sesshaftigkeit und die Entstehung des Kapitalismus, bis hin zur Definition von Rechtssystemen.
Eine weitere Forschungsfrage wäre: Weshalb nehmen wir Menschen uns als überlegen gegenüber nichtmenschlichen Existenzformen wahr? Woher kommt dieser Ehrgeiz? Denn eines Tages werden auch wir, wie alle anderen Entitäten, zu Staub und Fossilien, wie es uns Branch und Banter in ihrem ultra-ironischen How-to-Videos darlegen. Das genutzte DIY-Videoformat knüpft an die aktuelle Lebensrealität von Schüler*innen an und lässt sich daher im Schulkontext aufgreifen – so kann sie beispielsweise als Folge-Episode weiterentwickelt werden.
Formalästhetisch wie auch inhaltlich wird der Kapitalismus als Wirtschaftssystem und Gesellschaftsform thematisiert. Schnelle Schnitte, Tempowechsel sowie der Erzähltonus spielen auf dessen treibende Kraft an. Zusätzlich wird ein lineares Zeitverständnis thematisiert, bei dem Fortschritt und (Selbst-)Optimierungsprozesse möglichst schnell erfolgen.
Beispielhaft für ein kapitalistisches Unternehmen steht das White Castle Fast-Food-Restaurant. Dort kommt es in der Videoarbeit zu einer unerwarteten Konfrontation eines konsumorientierten Teenagers mit einem sarkastisch-reflektierenden Mitarbeiter, der, anstatt seine Produkte schnell zu verkaufen, kritische Denkanstöße durch die Gegensprechanlage liefert. Zeit für Reflexion wird hier provokant eingefordert.
Take some time to recover, baby!
Wie aber lässt sich das Tempo herausnehmen und der Komplexität unserer Gegenwart begegnen?
Ein Ausstieg aus dem alltäglichen Hustle, mehr Zeit einplanen für Reflexionen der eigenen Handlungen und Kontexte könnte einer Art „Komplexitätskompetenz“ zugutekommen. Vielleicht lohnt es sich, modellartig komplexe Gefüge zu erfahren und zu erproben, wie es die Rezeption der Videoarbeit anbietet.
Das bewusste Wahrnehmen eines wuseligen Nebeneinanders, unabgeschlossener Ereignisse, und daraus resultierende Überforderung können im geschützten Raum dazu beitragen, derartige Situationen aushalten zu lernen. Diese Erfahrungen können dann im kunstpädagogischen Rahmen eingeordnet und infolgedessen ein konstruktiver Umgang mit komplexen Themen erlernt werden.
In Zeiten der Polykrisen und Fake News, in denen sich gesellschaftliche Dynamiken schnell verändern und politische Diskurse alarmierende Verschiebungen erfahren, ist dies relevanter denn je.
Your Opinion Matters. Fossilwerden in der Kunstpädagogik
Xavier Sägesser
Zu Beginn des Filmessays von DIS begrüssen uns die zwei Figuren namens Branch und Banter. Sie filmen sich selbst mit einem Selfie-Stick, der Schriftzug „Your opinion matters“ ziert Banters Oberteil. Die beiden befinden sich auf einem Hof und führen in ein „How-To“ ein, ein Tutorial darüber, wie wir zu Fossilien werden können. Nach ihrer Einleitung tauchen Branch und Banter im ganzen Film bis nach dem Abspann nicht mehr auf. So bilden sie im Film eine Klammer, die die Szenen dazwischen, die scheinbar nicht mehr mit ihnen in Verbindung stehen, als Teil ihres Tutorials über das Fossilwerden lesen lassen.
Fossilien sind grundsätzlich versteinerte Überreste von Lebewesen, Pflanzen oder Gegenständen in der Erde. Anhand dieser können Erkenntnisse zu einer vergangenen Zeit gewonnen werden. Branch und Banter sehen das Fossil jedoch nicht als statischen Gegenstand, der an eine gewisse Zeit erinnert. Stattdessen fordert ihr Tutorial dazu auf, sich mit der Geschichtsschreibung und der linear verlaufenden Zeit auseinanderzusetzen. Da ein Fossil dadurch nicht mehr nur eine Geschichte erzählt, sondern verschieden interpretiert werden kann, entsteht eine Vielstimmigkeit. Demnach ist das Fossilwerden eine Strategie, die etwas angeblich Unveränderbares plötzlich verhandelbar macht.
Das Fossilwerden als Strategie lässt sich in die Kunstpädagogik übertragen. Sie erlaubt es, Sachverhalte, beispielsweise historische Gegenstände oder Kunstwerke, neu zu lesen, einzuordnen und auch zu produzieren. Ein behandeltes Thema sollte in einem kunstpädagogischen Format also nie als gegeben wahrgenommen, sondern stets von den Partizipierenden neu erforscht werden. Somit ermöglicht die Strategie die Partizipation an der (Kunst-)Geschichtsschreibung, in der alle Meinungen wertgeschätzt werden – „Your opinion matters.“ Denn alle Partizipierenden eines kunstpädagogischen Formats sind narrative Komponenten, die die Realität gemeinsam konstruieren (min. 36:25).
Im Abspann des Filmessays fangen uns Branch und Banter wieder auf. Dabei werden Banter und der Schriftzug „Your opinion matters“ auf ihrem Oberteil zum Fossil. Das Filmessay veranschaulicht den Betrachter*innen, dass das Fossilwerden nach Branch und Banter Neuinterpretation sowie Meinungsvielfalt ermöglicht – indem angeblich unveränderbare Dinge verhandelbar werden – und somit eine demokratiefördernde Strategie im (kunst-)pädagogischen Kontext ist.