Stuhl Dazwischen Stuhl, oder: Über die Qualitäten eines Blickes und die Öffnung hin zu neuen Narrationen
Abstract:
„Stuhl Dazwischen Stuhl, oder: Über die Qualitäten eines Blickes und die Öffnung hin zu neuen Narrationen“ beschäftigt sich mit Definitionen und Blicken auf ein vermeintliches „Weder-richtig-hier-noch-richtig-dort“, das sich entlang von Erinnerungen und theoretischen Kontextualisierungen entwickelt. Anna Schapiro fragt nach dem Dazwischen und sucht nach einer Definition, die dieses Dazwischen nicht nur beschreib-, sondern darüber hinaus erleb- und anwendbar macht: Was bedeuten zwei getrennte Stühle? Was bildet der Raum ab, in dem diese stehen? Wie sähe eine Gegenwart aus, in der wir ausgehend von unserer gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit denken? Existiert diese vielleicht schon und haben wir nur keinen Zugang zu ihr, da unser Denken und die Fixierung auf immer nur einen Stuhl nicht erlaubt, den Zwischenraum als eigenständige Form zu erkennen? Welche Verletzungen entstehen dabei? Wo werden wem Wunden zugeführt? Wie öffnen sich die Geschichtsbücher – wie werden sie aufnahmefähig für mehr als eine Narration, mehr als einen Stuhl, beginnend die eigene Gewordenheit zu hinterfragen?

Zwischen den Stühlen meint: Weder richtig hier noch richtig dort. Weder auf dem einen noch auf dem anderen Stuhl „so richtig“. Andersherum beschreibt es die mentale Fixierung auf immer nur einen Pol, indem das Dazwischen als vermeintlicher Nicht-Ort markiert wird – ein Nicht-Ort zwischen den fixierten, benennbaren und dementsprechend „richtigen“ Orten (oder: Stühlen). Es beschreibt auch ein unausgesprochenes Gefühl; den Blick der Veranderung, den viele Personen mit mehreren biographischen, geographischen, sprachlichen Herkünften und Verortungen im Aufwachsen in Deutschland auf ihren Körpern liegend spürten und noch immer spüren. Kann ein Blick, eine bestimmte Form des Schauens Gewalt sein? Mit Sicherheit ja.

Ich denke an meine Schulzeit in den 90er Jahren in Westdeutschland. Dass ich es im Deutschunterricht nicht schaffen würde, stand bereits in der ersten Klasse fest. In der zweiten Klasse folgte die Hauptschulempfehlung. In ihrer Panik packte mich meine Mutter gegen den Willen meines Vaters auf die Waldorfschule, die sie noch bezahlte, als ich diese schon lange verlassen hatte. Sie machte es freiwillig, ein kleiner Betrag aus Dankbarkeit. Diese Schule rettete mir im deutschen Bildungssystem sprichwörtlich „den Arsch“, an Stühle war dabei nicht einmal zu denken. Meiner Mutter kann ich dafür nicht genug danken. Für ihre Intuition, auf die sie beharrte, allen gutgemeinten Ratschlägen anderer, die sich besser im deutschen Schulsystem auszukennen schienen, zum Trotz, in einem fremden Land, dessen Schulsystem bereits in der zweiten Klasse aussiebt, und auch mich aussieben wollte. Ich war nicht nur verträumt, ich war auch ein unbequemes „Ausländerkind“, das nachmittags lieber spielte als Hausaufgaben zu machen. Mein Platz schien zugeschrieben.

Zusammen mit T sollte ich ausgesiebt werden. In der ersten Klasse waren wir beide die „schlechtesten der Klasse“. Was aus ihm geworden ist, weiß ich leider nicht. Im Spiel bemerkte ich den Blick, nicht auf mir, sondern auf T sehr viel deutlicher liegen. Sobald er das Schulgebäude betrat, den Turnbeutel mit einer Hand schleudernd, während er die breiten, geschwungenen Treppen der Grundschule hoch rannte, erwarteten alle, die ihn sahen: Trubel (einen Wirbel oder, im herkömmlichen Gebrauch: Ärger.) T hatte Energie. Was er gebraucht hätte, wäre ein verständnisvoller Blick und Personen, die ihm helfen würden, diese Energie lenken zu lernen.

Als Pädagog*innen im Schuldienst, im eigenen Leben, im Leben unserer Kinder und der Kinder unserer Freunde erfahren wir ständig, dass nichts so stark wirkt wie der Blick, mit dem ich ein Kind anschaue oder mit dem wir einmal selbst betrachtet worden sind. Was formuliert mein Blick? Was ist in ihm bereits angelegt, noch bevor ein gesprochenes Wort im Raum steht? Sehe ich die Potenziale des Menschen, den ich anschaue, seine Verwundungen und Wunder? Fokussiere ich mich auf das, was mich stört oder mich selbst im Anderen beängstigt: die Vielsprachigkeit in den Sprachen, die nicht an der Schule gelehrt werden? Die Erfahrung einer Flucht? Das Wissen einer Siebenjährigen darüber, wie man sich im Krieg zu verhalten hat? Der bohrende Blick eines Zwölfjährigen, der furchtlos ist? Das Chaos im Schulranzen einer Sechsjährigen, gepaart mit ihrem Desinteresse daran, auf einem Stuhl zu sitzen, während vor dem Fenster die Welt passiert?

Das, worauf ich mich mit meinem Blick fokussiere, wird wachsen – davon gehe ich aus (in diesem Essay und darüber hinaus, im Bewusstsein der Schauenden und in der Projektion auf das Kind). In diesem Sinne sind künstlerisches Arbeiten und die ihm zugrundeliegende Voraussetzung der Imagination mit der Tätigkeit der Pädagogik verwandt. Auch hier braucht es Vorstellung und Einfühlung: Einfühlung in einen Fall, in eine Biographie, die nicht meine ist, der ich begegne und die ich nie vollständig kennen werde. Einem Wunder, das ich nie zu fassen vermögen werde, während ich doch die Weichen für eben dieses Wunder selbst lege. Etwas, das deutlich da ist und dabei auch im Entstehen, das ich nicht ganz kennen werde und dennoch begleite.


Dem Wunder begegnen

Ich halte die Pädagogik für die fundamentalste Aufgabe einer Gesellschaft. Hier legen wir an, was unsere Biographien später prägen wird. Zuhause, in der Schule und im Dazwischen. Nichts ist so offen und so verletzlich wie die Seele eines Kindes. Hier haben wir es mit einem Wunder zu tun. Ich konnte nicht Pädagogin werden – meine Ehrfurcht vor dieser Disziplin war zu groß. Im Angesicht eines Kindes oder Jugendlichen könnte ich nicht unter-richten oder (be-)lehren – ich würde mir dabei selbst täglich das Herz brechen, so wie es mir damals als Kind in der Sowjetunion versucht wurde zu brechen. In den Überresten der autoritären Pädagogik – auch sie nannte sich Pädagogik – sollte mir, bei der früh festgestellt wurde, dass sie einen starken Willen hatte, dieser Wille gebrochen werden. Damit ich funktionieren würde in der ‚Gesellschaft‘. Auch hier rettete mich meine Mutter, wieder mit ihrer Intuition oder auch ihrer Weisheit: „Hätten sie das mit dir gemacht, du würdest nicht mehr leben. Davon bin ich überzeugt“, sagt sie.

Sie hat das sich vor ihren Augen Entwickelnde gerettet, vor einem System, in dem wir beide und überhaupt jedes menschliche Leben keine Bedeutung hatten und haben. In den Händen, vor Augen das Wunder, mit beiden Beinen in gesellschaftlichen Zwängen stehend.


Bruch

Ich will zu dem Bruch oder dem Schmerz kommen und dem, was er verursacht oder verursachen kann, wenn wir ihm zuhören.  Davon ausgehend, dass das Leben keine glatte Oberfläche ist, sondern eine Landschaft – innerlich und äußerlich, in der radikal ALLES vorkommt: Brüche und Abbrüche, Abgründe, Bäche und Flüsse, die nähren und auch gefährlich werden können. Die ALLE DA sind.

Wie wollen wir uns in dieser Landschaft bewegen? Und können wir uns in ihr bewegen, im Wissen um die eigene Prägung?


Erfahrungswissen im Dazwischen

Schauen wir uns Geschichte aus den Perspektiven der marginalisierten, immer schon dagewesenen Personen an, dann lernen wir, die Welt und die Machtverhältnisse zu erkennen und aus dem Dazwischen heraus zu denken. Wir würden in dieser Handlung – dem Denken und dem Wahrnehmen vom Zwischenraum aus – die Welt und unsere Vorstellung von ihr umstülpen. Auch wären wir in diesem Handeln permanent mit der eigenen Verletzbarkeit verbunden.

    

Hiersein

Hinter jedem Teilchen Welt, das ich berühre, liegt die Bemühung, die Arbeit, die Existenz anderer, die meine eigene ermöglichen. Das ist die Grundlage meines Hierseins.

Wie sieht eine Welt der Verbundenheit aus, existiert diese vielleicht schon und haben wir nur keinen Zugang zu ihr, da unser Denken und die Fixierung auf immer nur einen Stuhl es nicht erlaubt, den Zwischenraum als eigenständige Form zu erkennen? Kann ich mich kurz rauszoomen, den Raum sehen, in dem die Stühle stehen? Und überhaupt: Wer hat diese Stühle gebaut? Wie sind sie in diesen Raum gekommen?

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ein Gespräch – ein vertrauensvolles Gespräch – mit einem Freund, der frage, warum Personen mit, nennen wir es „Heimerfahrung“, nicht aufhören können, über diese zu sprechen. Über den Blick der Veranderung, der auf ihnen lag. Darüber, wie sie sich selbst und ihr Aufwachsen auch anders hätten und immer noch anders vorstellen können. Darüber, dass sie immer das Gemachte an dieser Situation spürten. Dass die Gewalt, die sie erfuhren, eine Gemachte war und nicht gott- oder naturgegeben. Weil sie als Kinder sahen, wie ihre Eltern gedemütigt worden sind, aufgrund ihres Aussehens, des Akzents und vielem Weiteren.

Weil du als Kind ganz genau spürst, wer aus der Schlange herausgezogen wird und warum. Dir fehlen nur die Worte, um es benennen zu können. Und weil sich diese Erfahrung einfrisst in eine Kinderseele und in einen Körper.

Sie ist drin.

Er wollte ein Aber einlegen, und ich ließ es zu, auch wenn ich wusste, dies könnte ihn entblößen – oder auch mich, sollte ich wütend werden. 

„Aber, was wenn alles erreicht ist?“, sagte er.

Ich beschreibe dieses Gespräch, da das Verständnis dafür, dass auch die Pflege von Wunden bei dem Vorhaben einer anderen, gerechteren Gesellschaft existenziell ist. Wenn wir in den Bruch, in das Dazwischen gehen, wenn wir an Umstülpung interessiert sind, tauchen wir durch die Wunde. Und diese Wunde braucht Pflege. Das war auch meine Antwort in dieser Nacht. Ich muss mich ihr zuwenden, sie umgibt mich, sie spricht zu mir aus allen Richtungen – siehst du, wie sie dort unter dem Baum steht? Wenn ich die Wunde einmal erfahren habe, kann ich nicht über sie hinweg gehen, sie überspringen, so tun, als sei sie nicht da. Das Gespräch fand in der Nacht statt, auf der Straße, und war vielleicht mehrfach ummantelt von ihr – sprechend und dabei das Gesicht des anderen nicht ganz sehen können; sich dadurch die Frage, im Mantel der Nacht, noch mehr erlauben.

Als ich zu diesem Text eingeladen wurde, bat man mich, über Allianzen zu schreiben, über Allianzen und Stühle. Als ich 2018 begann, mich mit Allianzen zu beschäftigen, erschien es mir nur logisch, sich zu verbünden. Keine Frage. Bald schon fielen die Unterschiede zwischen den Sich-verbünden-Wollenden auf, was es schmerzhaft machte, sich für sich gegenseitig einzusetzen. Heute bin ich bei der Wunde angekommen, bei dem Wunder und auch dem Schmerz, mit der Wunde weiter durch die Welt zu schreiten. Und ob nicht das Bewusstsein, die Frage nach der Wunde, die erste Voraussetzung sein sollte – die Grundlage jeder weiteren Frage und Überlegung.

Der Psychosoziologe Charles Rojzman sagt: Wir alle sind Verletzte, wir handeln aus Verletzungen und fügen den Menschen um uns weitere hinzu.Charles Rojzman, in einem Workshop an dem ich teilnahm, in dem Winter als Pegida anfing in Dresden zu marschieren. Der Verein Dresden für Alle wollte mit Hilfe der Stadt Trainer*innen in Thérapie Sociale ausbilden, damit diese in den verschiedenen Stadtteilen mit Gruppen arbeiten würden. Im Zentrum von Rojzmans Arbeit steht die Arbeit mit verfeindeten Gruppen. Die Stadt sprach sich dagegen aus. Seine Praxis der Thérapie Sociale baut auf Verletztheit als Grundbedingung menschlicher Existenz auf. Wie kann das Bewusstsein für Verwundbarkeit und gegenseitige Abhängigkeit den Boden unserer Handlungen bilden, bereits in der Schule?

Heute verstehe ich, dass mein Desinteresse am Unterricht damit zusammenhängen musste, dass die Fragen und Herausforderungen, die mich beschäftigten, darin keine Rolle spielten. (Eine Veranstaltung, bei der ein Experte spricht und alle anderen 90 % der Zeit schweigen sollen, empfinde ich bis heute als eigenartig. Jedes Mal scheint mir, dass das sich im Raum befindende Potenzial nicht ausgeschöpft wird.)

Die Gruppen und Geschichten derer, aus der meine eigene Existenz hervorgeht, kamen nie im Unterricht vor und somit auch ich nicht. Sie wurden nur als Opfer aus der Sicht der Täter*innen-Nachkommen thematisiert. (Dann: Blick auf mich, ich sitze da, denke: Schon wieder, was wollen sie? Hoffentlich ist es gleich vorbei. Darüber, dass mein Opa jüdischer General in der Roten Armee war, schweige ich, zu komplex für den Geschichtsunterricht in Deutschland.)

Wie öffnet sich der Blick und auch die Literatur und die Geschichtsbücher, wie werden sie aufnahmefähig im Schauen und im Umdenken für mehr als eine Narration, mehr als einen Stuhl und die eigene Machtposition in diesem Gefüge?

Im Klassenzimmer stehen bereits viele Stühle, und die Geschichten haben auch schon lange auf ihnen Platz genommen – auch wenn manchmal noch die Worte fehlen.







Kurzbiografien der Autor_innen: