„Wenn ich schon ganz genau wüsste, was ich wissen will, bräuchte ich gar nicht zu forschen.“
(Craig 2015: 131)
Einleitung
Die Untersuchung Fragen über FragenDiese Forschung entstand im Rahmen des ersten Zugs des Joint-Masterstudiengangs Fachdidaktik Künste, Profil Bildnerisches Gestalten (2019). Hier beschloss ich, den Fragen nach einer stufenspezifischen Fachdidaktik, welche das kindliche Potenzial an Fragebereitschaft und Neugier ernsthaft aufgreift und für die Entwicklung eines subjektorientierten Unterrichts nutzt, nachzugehen. Vgl.: Masterstudiengang „Fachdidaktik Künste“ https://phzh.ch/de/Ausbildung/Studiengaenge/Master-Fachdidaktik/master-studiengang-fachdidaktik-kunste/ [1.7.2022]. habe ich 2020/21 im Rahmen meiner Masterarbeit im Studiengang Fachdidaktik Kunst: Bildnerisches Gestalten an den Zürcher Hochschulen PHZH und ZHdK durchgeführt. Sie beschäftigt sich mit dem kindlichen Fragen in offenen Unterrichtssituationen, welche das ästhetisch forschende, interessengeleitete und weitgehend selbstbestimmte Erkunden von Themenfeldern im Fach Bildnerisches Gestalten, Zyklus 2, beabsichtigen.
Ein kognitiv-konstruktivistisches Lernverständnis geht davon aus, dass individuelle Interessen und Fragen Lernprozesse begünstigen (vgl. Reusser 2006). Dementsprechend sind zeitgemässe Unterrichtskonzepte mit Fokus auf subjektorientierte und interessengeleitete Lernarrangements beliebt.
Überraschend ist jedoch, dass die intentionalen Aspekte des kindlichen Fragens sowie deren Herausbildungen als Folge fachdidaktischen Handelns im Rahmen von Unterrichtsforschung im Bildnerischen Gestalten nicht stärker in den Fokus des Interesses rücken. Ein forschender Unterricht sollte die Fragen der Lernenden initiieren. So stellen sich mir Fragen wie: Wann innerhalb von offen angelegten, ästhetischen Erkundungsprozessen entwickeln Kinder Fragen? Welche fachdidaktischen Handlungsweisen können Frageprozesse begünstigen? Welcher Art und Beschaffenheit sind solche Fragen und mit welchen bildnerisch-gestalterischen Strategien wird ihnen begegnet?
Aus meiner Unterrichtspraxis auf Primar- und Sekundarstufe und 12 Jahren Lehre in der Ausbildung angehender Primarlehrpersonen im Fach Bildnerisches Gestalten am Institut Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern wuchs bei mir das Bedürfnis, diesen Fragen nach dem kindlichen Fragen nachzugehen.
Vier Theoriefelder – eine Grundlage
Diese Untersuchung nimmt das kindliche Fragen im Kontext ästhetisch forschenden Handelns aus mehrperspektivischer Sicht auf. Sie beabsichtigt, im Hinblick auf die Weiterentwicklung der stufenspezifischen Fachdidaktik neue Impulse zu gewinnen und
diese im Rahmen der fachdidaktischen Hochschullehre zukünftiger Primarlehrpersonen wirksam umsetzen zu können. Grundlage dafür ist das Unterrichtsprojekt Kraut&Rüben, welches für den 2. Zyklus, für ästhetisch-forschende Zugänge zum Unterrichtsmaterial und zugleich für die Datenerhebung entwickelt wurde. Ziel ist es, das subjektive Fragen der 3.-Klässler*innen im Rahmen des geplanten Vorhabens provozieren und anschliessend qualitativ erheben zu können. Im Folgenden stelle ich dies in vier Zugängen (a-d) dar:
a. Lernen - nicht ohne Fragen
Lernen und Fragen hängen zusammen. Bildung geschieht dort, wo bereits Interessen vorliegen und neuartige Erfahrungen sowie ein veränderter praktischer Bezug zum Vorhandenen möglich werden. Mit einer besonderen Bereitschaft, die Umgebung und ihre Phänomene zu verstehen und sich diese anzueignen, treiben insbesondere Kinder ihre Entwicklung in hohem Tempo voran. Das fragende, von Interessen und Neugierde gesteuerte Streben nach Erfahrungen, welche zur aktiven Erweiterung bestehender Konzepte beitragen sollen, bildet den Stoff, aus dem Kinder ihre subjektiven Vorstellungen von Welt generieren. Fragen und Hinterfragen resultieren demnach aus dem Bedürfnis nach Überprüfung und Anpassung vermuteter Ordnungen und Muster (vgl. Brenne 2009: 199).
Dass neue Wissensstrukturen in der Interaktion zwischen dem Menschen und seiner Umgebung gebildet werden und dass der Mensch der aktive Teilnehmende seines eigenen Lernens ist, stellt eine Grundlage eines konstruktivistischen Verständnisses von Lehren und Lernen, welches in der didaktischen Kultur seit einiger Zeit boomt, dar (vgl. Reusser 2006). Entsprechend werden didaktische Modelle, welche Lernprozesse über das handlungsaktive, interessengeleitete und selbstgesteuerte Erkunden des Unterrichtsstoffes zu evozieren versuchen und die menschliche Fragebereitschaft aufgreifen, für die Gestaltung von Bildungsangeboten genutzt. Explizit forschende Lehr-/Lernformen, welche sich in ihren Grundzügen dadurch auszeichnen, dass sich Lernende analog zu klassischen Forschungsprozessen auf Erkenntnisgewinne fokussieren, finden ihren Ursprung in der Hochschuldidaktik. Als Folge von Pisa 2003 (Prenzel et al 2003) wurde dieser exklusiven Koppelung von Forschung, Lehre und Hochschulbildung eine neue Tendenz bzw. Forderung nach Forschung auf allen Stufen gegenübergestellt. Franz Weinert spricht sich bereits in den 1990er Jahren dafür aus, dass Schüler*innen innerhalb eines qualifizierten schulischen Rahmens vermehrt zum eigenständigen Nachdenken, zur Selbstaktivierung, zur selbstständigen Zielsetzung und somit zum forschenden Lernen angeregt werden sollten (vgl. Weinert 1994: 196). So wird das methodische Format des Forschenden Lernens denn seither zunehmend für ein erweitertes Stufen- und Fächerspektrum entwickelt und erprobt. Studierende sowie Schüler*innen durchlaufen dabei alters- und entwicklungsadäquate Forschungsprozesse, wobei sie eigens generierte Fragestellungen bearbeiten und so Erkenntnisse gewinnen, diese reflektieren und präsentieren (vgl. Münte-Goussar 2009: 149-163).
Auch die Kunstpädagogik interessiert sich für fragen- und interessengeleitete Lernprozesse, wobei sich der Diskurs nach wie vor stark den höheren Stufen annimmt Aus Sicht der Primarstufe bereichern u.a. Manfred Blohm (2006), Andreas Brenne (2019), Thomas Heyl (2008) und Constanze Kirchner (2004) die Debatte.. Dass das Potenzial forschender Unterrichtsformen in einer zeitgemässen Schulpädagogik, insbesondere im Fach Bildnerisches Gestalten auf den unteren Stufen, dennoch mit Zurückhaltung genutzt wird, erstaunt (vgl. Heyl 2008).
Dezidiert bringt Christina Egger diese Forderung auf den Tisch: Lehrpersonen müssen, sollen sie den Anforderungen eines modernen Unterrichts auf der Primarstufe gerecht werden, Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich forschend mit Fragestellungen auseinanderzusetzen, dabei Einsichten zu sammeln und diese für das Bilden von Schlussfolgerungen zu nutzen (vgl. Egger 2019: 192-194).
b. Fragen in ästhetischen Zugängen
Auf der Suche nach dem kindlichen Fragen rückt der Fokus sehr bald auf das ästhetische Lernen: Im Alter bis ca. fünf Jahre bringen Kinder herausragende Lernvoraussetzungen mit, welche auf einem ästhetischen Potenzial Ästhetisch i.S.v. die Lehre von der Wahrnehmung, vom sinnlichen Erleben betreffend; ästhetisch ist demnach alles sinnlich Wahrnehmbare. und der absoluten Bereitschaft zur Fokussierung fussen. Kinder lernen in diesem frühen Stadium ausschliesslich intrinsisch und mit höchster Aufmerksamkeit (vgl. Heyl/Schäfer 2016). Diese kompromisslose „Gerichtetheit auf Impulse“ (vgl. Sickinger 2020: 31) meint den bedingungslosen Drang zur Aufmerksamkeit und Interessensbekundung, wobei Lernen hier ausschliesslich sinnesgeleitet und über dekonstruktive und produktive Handlungsweisen erfolgt (vgl. ebd.).
Parallel zu diesem intuitiven Erwerben von Wissen entwickeln Kinder ab ca. fünf Jahren das bewusst-strategische Lernen, welches aufgrund äusserer Stimuli erfolgt, sofern das Kind lernen will oder muss. Die Aussicht auf Sinnhaftigkeit, welche sich durch Zufall zum Beispiel im freien Spiel oder im schulunterrichtlichen Kontext über didaktische Steuerungsversuche ergeben kann, liefert zunehmend einen Anreiz zur kognitiven Verarbeitung von Sinneserfahrungen (vgl. Kirchner 2004). Diese Parallelität hält bis ans Ende des Primarschulalters an, wobei Lernprozesse im 2. Zyklus nach wie vor primär durch ästhetische Ausprägungen, d. h. durch leibessinnliche Erfahrungen initiiert und gekennzeichnet werden (vgl. Brenne 2019).
Gemäss Fridolin Sickinger lässt sich in Bildungsangeboten auf der Primarstufe die Tendenz beobachten, dass dieses ausgeprägte ästhetische Potenzial von Kindern dem curricularen Druck im Rahmen der Kompetenzorientierung zugunsten einer stark kognitiv angelegten Förderung weichen muss (vgl. Sickinger 2020).
Ludwig Duncker sieht im Abdrängen kindlicher ästhetischer Zugänge zugunsten einer frühzeitigen Verschulung ein Problem der Schule. Er betont, dass Lernen im Kindesalter grundsätzlich und primär ästhetisches Lernen sei und dass die logisch-rationale und begrifflich sich ausdifferenzierende Durchdringung etwas „Zweites und Nachträgliches“ (Duncker 1999: 9) sei. Dass ästhetische Zugänge durch die mit zunehmendem Alter vermehrt logisch-rationale Verarbeitung von Erfahrungen nicht verdrängt, sondern ergänzt werden, ist im Kontext des hier im Fokus stehenden Zyklus 2 zudem von Bedeutung (vgl. ebd.).
c. Inspiration in der künstlerischen Forschung
Künstlerische Praxis beabsichtigt sowohl im traditionellen als auch im gegenwärtigen Verständnis, über das Fragen und die Anwendung forschungsanaloger Verfahren im Sinne einer „ästhetischen Praxis der Exploration, zu neuen Möglichkeiten der Einsicht“ (Badura et al. 2015: 12) zu gelangen. Das Verhältnis von Kunst und Forschung wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Dabei wird zwischen Forschung in der Kunst, Forschung über Kunst und Kunst als Forschung unterschieden (vgl. ebd.: 12).
Ich beziehe mich hier insbesondere auf den Modus Kunst als Forschung, da diese von der laborartigen forschenden Auseinandersetzung mit Fragestellungen ausgeht. Dabei werden Vorgehensweisen der Wissensgenerierung ermöglicht, wie sie in der traditionellen Forschung nicht möglich sind, da über eine „erfahrungsinduzierte Erschliessung“ (ebd.: 24) des Forschungsgegenstandes zu Antworten gelangt werden kann (vgl. ebd.: 23-25).
Konkrete künstlerisch forschende Arbeitsweisen aus dem Bereich der bildenden Kunst, welche aus kunstpädagogischer Sicht inspirierend sein können, sind z.B. das Recherchieren, Experimentieren, Sammeln, Ordnen, Analysieren oder das inhaltliche und soziale Vernetzen. Das methodologische Vorgehen in künstlerischen Forschungsprozessen wird als „nachdenkliche Methodologie“ (vgl. Haarmann 2015: 85) beschrieben. Demnach entwickeln sich künstlerische Methoden hinsichtlich der Produktion von Wissen einer „intrinsischen Logik“ (ebd.: 85) folgend, fortlaufend also und in Prozessen des permanenten Neudefinierens. Der Weg des Wissens erfolgt über die Regeln des Erkennens, also über die präzise Reflexion im Nachhinein, weshalb das methodische Vorgehen nicht beabsichtigt werden kann, sondern sich situativ abhängig ergibt (vgl. ebd.). Als Ziel des assoziativen Erkundens und Ermittelns wird weniger die Wissensproduktion als vielmehr das Sammeln von Wissensfragmenten, von „kleinem Wissen“ (vgl. Orlow 2015: 201), genannt. Brenne spricht hier von „gedeuteten Annahmen“ und nicht von „allgemeingültigen Wahrheiten“ (vgl. Brenne 2019: 25) als Folge künstlerischer Auseinandersetzung mit den Fragen an die Welt. Im Medium der Kunst geschieht forschendes Weltmachen also dadurch, dass Phänomene kritisch und befremdend beleuchtet, befragt, erkundet und konterkariert werden (ebd.: 25).
d. Fragen in kunstpädagogischen Unterrichtskonzepten
In künstlerisch-ästhetischen Unterrichtsmodellen fliessen Aspekte des Frage- und Forscherdrangs, des kindlich-ästhetischen Lernpotentials und der künstlerischen Forschung zusammen. So streben auch die im Folgenden erwähnten kunstpädagogischen Konzepte von Helga Kämpf-Jansen und Lili Fischer an, in offen angelegten, subjektorientierten Unterrichtssituationen das Potenzial des Menschen zur interessengeleiteten forschenden Erkundung seiner Umgebung zu erkennen, zu fördern und für Lernen zu nutzen. Schlüsselbegriffe wie Eigenaktivität, Selbststeuerung, Autonomie und Interessengeleitetes Handeln sind dabei zentral.
Denk- und Handlungsweisen aus dem Feld der künstlerischen Forschung wirken für die methodologischen Vorgehensweisen in solchen Unterrichtssequenzen inspirierend und leitend. Auf der Basis ästhetischer Erfahrungen und subjektiver Fragen können dadurch neue Bezüge zwischen Subjekt und Objekt geschaffen und Lernprozesse evoziert werden (vgl. Brenne 2006: 195).
Am Anfang steht eine Frage, so der populäre Slogan aus der wohl bekanntesten, rund 20-jährigen Unterrichtsidee für forschendes Lernen - Ästhetische Forschung - von Helga Kämpf-Jansen Konzept siehe: Kämpf-Jansen, Helga. 2012. Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Marburg, Tectum..
In ihrem für die höheren Stufen entwickelten, kritisch gehandelten Konzept vertritt die Kunstpädagogin das Anliegen, dass Alltagserfahrungen und Lebensweltbezüge mittels ästhetisch-künstlerischer Recherche untersucht und durchdrungen werden und über selbstreflexive Prozesse in Form einer gestalterischen Transformation in eine Darstellungsform finden. Im interessengeleiteten, selbstverantworteten Suchen von Antworten auf eigens formulierte kulturelle Fragestellungen sollen den Lernenden neue und individuelle Zugänge zu Kunst und Kultur ermöglicht werden, wobei Lernen mit allen Sinnen beabsichtigt wird. Ästhetische Forschung geht von der Annahme aus, dass das Eigeninteresse an einer Sache sowie das Vorliegen einer entsprechenden sachbezogenen Forschungsfrage die Motivation für das Erkunden eines Feldes bilden und Lernprozesse dadurch in Gang setzen. Dabei ist zentral, dass jede Suchbewegung ausdrücklich von einer Frage in Bezug auf einen Gedanken, ein Ding, ein Phänomen, ein Werk, einen Begriff oder einen komplexen Inhalt ausgeht (vgl. Kämpf-Jansen 2012).
„Ästhetische Forschung hat – wie alle Forschung – nur Sinn, wenn die Forschenden eine Frage haben, an einer Sache arbeiten wollen, die sie interessiert, einer Idee folgen oder ein ihnen wichtiges Vorhaben verwirklichen wollen“ (ebd.: 19).
Kämpf-Jansen plädiert klar für das Fragen. Im Fragen als Folge von Interesse sieht sie „Motor und Motivation, etwas für sich zu erarbeiten, um es auch für andere sichtbar und erfahrbar zu machen“ (ebd.: 274). So bildet die Frage den Ausgangspunkt jeder ästhetischen Forschung, wobei das Konzept dem passenden Forschungsgegenstand wenig Beachtung schenkt. Offen bleibt daher, wann und warum Lernende innerhalb selbstgesteuerter Forschungsprozesse denn effektiv auf Interessen stossen, inwiefern sich die Lernenden ihrer Fragen überhaupt bewusst werden und wie sich ihr Umgang mit dem Fragen auf der Handlungsebene zeigt. An dieser offenen Stelle ändern auch der Versuch einer für die Anwendung in der Praxis didaktisch aufbereitete Fassung der Konzepts von Leuschner/Knoke Didaktisierter Versuch siehe: Leuschner, Christina/Andreas Knoke (Hg.) (2015): Selbst entdecken ist die Kunst. Ästhetische Forschung in der Schule. München, kopaed. sowie das Konzept der Künstlerischen Feldforschung von Lili Fischer oder die kritische Diskussion rund um die Ästhetische Forschung durch namhafte Kunstpädagog*innen Siehe: Blohm, Manfred/Christine Heil/Maria Peters/Andrea Sabisch /Fritz Seydel (Hg.)(2006): Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu Texten von Helga Kämpf-Jansen. München, kopaed. wenig.
Methodik: Erhebung und Auswertung der Daten
Die Erhebung der Daten erfolgte im Juni 2020 mittels leitfadengestützter Befragungen von Schüler*innen der am Praxistest beteiligten 3. Primarklasse. Die Aussagen der 8- bis 9-Jährigen wurden daraufhin transkribiert und mit der qualitativen Inhaltsanalyse Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, siehe: Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel, Beltz. kodiert und in Kategorien eingeteilt, um eine qualitative Auswertung vorzunehmen. Neben den Interviews wurden zudem Produkte aus dem Unterricht sowie Lernjournale ergänzend hinzugezogen.
a) Das Unterrichtsprojekt „Kraut&Rüben“
Referenzkonzepte für die didaktische Entwicklung des Unterrichtsprojekts Kraut&Rüben waren die Unterrichtsmodelle von Helga Kämpf-Jansen und Lili Fischer „Ästhetische Forschung’’ gem. Helga Kämpf-Jansen und „Künstlerische Feldforschung” gem. Lili Fischer (vgl. Brenne 2019: 27-36).. Vor dem Hintergrund der Theorie zum kindlichen forschenden und ästhetischen Lernen sowie unter Berücksichtigung des Lehrplans 21 Lehrplan 21, Ausgabe Kanton Bern, Fachbereich Gestalten: https://be.lehrplan.ch/index.php?code=b|7|0&la=yes (16.8.2022). wurden stufenspezifische Anpassungen synthetisiert und eingebaut. Ein wesentliches Augenmerk wurde dabei auf die didaktischen Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten bzgl. der Entwicklung von Fragen bei den Lernenden gelegt.
Zudem stellte der explizite Ansatz nach Christine Egger Christine Egger plädiert im Sinne eines expliziten Ansatzes dafür, das Wissenschaftsverständnis als paralleles, jedoch eigenständiges Lernziel im Unterricht einzuplanen und mittels angeleiteter, in den forschungsorientierten Unterricht integrierter Reflexionsphasen zu fördern (Egger 2019)., wonach die Förderung eines Wissenschaftsverständnisses als Parallelschiene explizit angestrebt werden solle, ein zentrales Anliegen dar (vgl. Egger 2019: 192-196).
Das Unterrichtsprojekt Kaut&Rüben wurde für Zyklus 2 konzipiert und von Januar bis Mai 2020, 26 Lektionen umfassend, an einer 3. Klasse, Zyklus 2, in Burgdorf BE durchgeführt. Die Klasse umfasste zur Zeit der Durchführung 21 Schülerinnen und Schüler (zehn weiblich, elf männlich). Die Unterrichtsverantwortung lag bei mir, wobei die Klassenlehrperson Nicole Heller das Projekt im Teamteaching begleitete. Die folgende Darstellung zeigt die Struktur des Gesamtsettings:
Das Projekt gliederte sich demnach in zwei Forschungsepochen, in denen sich die Schüler*innen in Gruppen von maximal drei Kindern mit dem Forschungsmaterial beschäftigten und eigene Projekte lancierten. Das interessengeleitete, handelnd klärende Bearbeiten des Forschungsmaterials stand dabei im Zentrum. In der ersten Epoche wurde beabsichtigt, die Schüler*innen mittels geführter Einstiegsübungen, wiederholter Phasen der Kunstrezeption sowie fragengeleiteter Reflexionsfenster zum individuellen Fragen zu animieren. In der zweiten Epoche wurden kaum noch geführte Plenumssequenzen durchgeführt. Hier verliefen die Projekte autonomer, wobei die Begleitung der Lernenden in stark divergierenden Forschungsbewegungen durch die Lehrpersonen intensiv erfolgte.
Mit Früchten und Gemüsen als Forschungsgegenstand beabsichtigte ich die Wahl eines ästhetisch affizierten, den Kindern weitgehend vertrauten Themenfeldes, das sich über verschiedene Sinneszugänge erkunden und durch mechanische Bearbeitungszugänge in seiner Form verändern lässt.
Mit dem wiederholten Einbezug von Werken aus der Kunst versuchte ich, die Kinder mit der Beschaffenheit der Fragen von Kunstschaffenden in Kontakt zu bringen und dadurch zum eigenen Fragen anzuregen. Die Werkauswahl erfolgte mit der Absicht, das Fragen über rezeptive Überraschungs-, Irritations- und Erregungsmomente zusätzlich zu animieren.
Individuelle Forscher*innenhefte dienten dem Dokumentieren von Suchspuren, Fragestellungen, Erkenntnissen und Reflexionen und wurden sowohl angeleitet als auch individuell geführt. Jede Epoche wurde durch Schüler*innenpräsentationen abgeschlossen. Die Vorbereitung der Präsentationen erfolgte fragengeleitet Die Schüler*innen erhielten den Auftrag, sich entlang der folgenden Fragen auf die Präsentationen vorzubereiten: Welches Material hat mich für die Forschung angesprochen? Warum gerade dieses? Mit welchen Werkzeugen und Vorgehensweisen habe ich es bearbeitet? Gab es dabei Überraschungen oder Unerwartetes? Wenn ja, in welcher Art? Was habe ich herausgefunden? Was war neu für mich? Welche Frage(n) wollte ich mit meiner Forschung beantworten? Haben sich mir während des Forschens neue Fragen gestellt? Welches Anschlussprojekt würde mich interessieren?.
Wie erwähnt wurde auch dem Aufbau von Methodenkenntnissen nach Christine Egger Rechnung getragen. So wurde der Forschungsprozess als solcher auf der Metaebene wiederholt diskutiert, reflektiert und verortet.
b) Erhebung und Auswertung
Für die Erhebung der Daten folgte ich den Altersempfehlungen von Susanne Vogl, wonach sich nicht standardisierte oder teilstandardisierte, mündliche Face-to-Face-Befragungen mit Kindern bis zum 11. Lebensjahr aufgrund noch nicht ausreichend vorhandener Lese- und Schreibfähigkeiten grundsätzlich anbieten (vgl. Vogl 2015: 55). Um die Verhaltens- und Denkformen der Kinder sowie die subjektiven Erfahrungen bezüglich des eigenen Fragens erfassen zu können, erfolgte die Datenerhebung nach Abschluss des Unterrichtsprojekts und einmaligem Pilotinterview über drei qualitative, problemzentrierte und leitfadengestützte Interviews, wobei insgesamt vier Schüler*innen (zwei männlich, zwei weiblich) im Alter von 8 und 9 Jahren befragt wurden. Bilder aus dem Unterricht sowie die Forscherhefte wurden als visuelle Stimuli bereitgestellt. Die Stichprobe sollte für ihre Grundgesamtheit maximal repräsentativ sein und erfolgte deshalb aufgrund von Freiwilligkeit. Kulturelle Hintergründe sowie Leistungsniveaus waren für die Wahl der Probanden nicht relevant. Für die Auswertung der Daten dienten die ungekürzten Transkripte (rund drei Stunden Audiomaterial).
Für das methodisch kontrollierte und schrittweise Zerlegen des Datenmaterials arbeitete ich mit der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2002). Mittels induktiven Vorgehens und mehrfacher Suchdurchläufe wurden die gesuchten Hinweise zum kindlichen Fragen herausgefiltert, gruppiert und für die Definition der Kategorien genutzt. Der folgende Ausschnitt aus dem Kodierleitfaden bildet die neun Hauptkategorien sowie deren Beschreibungen ab (ohne Definition, Kodierung und Ankerbeispiele).
c) Unterrichtsforschung aus zwei Perspektiven - Methodenreflexion
Die Erfahrungen aus meiner Unterrichtspraxis auf Primarstufe, meine Expertise als Dozentin an der Hochschule und die aus dem Fachdidaktikstudium gewachsenen Anliegen erlaubten mir einen multiperspektivischen Blick auf meine Forschungsdaten. So bot mir mein doppeltes Kompetenzprofil die Möglichkeit, als Forschende meinen eigenen methodischen und inhaltlichen Doppeldecker zu steuern, wobei das Blickfeld immer sowohl die Zielstufe (Zyklus 2) als auch die Fachdidaktiklehre an der Pädagogischen Hochschule Bern umfasste. Ein weiterer Doppeldecker entpuppte sich im Verlaufe der Untersuchung als Glücksfall: So untersuchte ich in der Rolle der wissenschaftlichen Forschenden das Forschen der Schüler*innen und profitierte im Rahmen meiner eigenen Methodenreflexion vom Spiegel, den mir meine Proband*innen über die erhobenen Daten vorhielten. Der hier erwähnte Doppeldecker wurde mir im Rückblick auf die Untersuchung bewusst. Er erwies sich insofern als aufschlussreich, als dass ich mit meinen methodischen Vorgehensweisen an ähnlichen Stellen zu scheitern drohte wie die Schüler*innen. So erwiesen sich beispielsweise das frühe Festbeissen in Fragestellungen und Auswertungskategorien oder das voreilige Glauben, zu wissen, an welchen Stellen interessante Funde gemacht werden könnten, auf beiden Seiten als Irrtum bzw. als Chance, dem induktiven Vorgehen gelassener zu begegnen. Meine Beobachtungen der methodischen Schüler*innenbewegungen, mein eigenes Forschen über das Forschen der Kinder also, wurden dadurch vom Nebenprodukt zu einem überraschenden Gewinn hinsichtlich meiner eigenen Methodenkompetenzen. Insofern wurde der Titel meiner Studie – Fragen über Fragen – Programmtitel für einen doppelten Blick auf zwei Ebenen und für das Privileg, sowoohl die Setzung der Datenerhebung als auch die Durchführung im Schulzimmer aus eigener Hand gestalten und durchführen zu können.
Unterrichtsforschung, welche aus ein- und derselben Hand realisiert werden kann, mag durchaus vielversprechend und gewinnbringend scheinen. So ermöglicht die Führung des gesamten Instruments flexible Steuerungsmöglichkeiten über sämtliche Planungs,- Unterrichts-, Erhebungs- und Auswertungsprozesse hinweg, wodurch die Erfassung der kindlichen Verhaltensweisen und -verläufe im Unterricht durchaus zielgerichtet und verlustfrei verlaufen könnte. Als deutlich hilfreich und zuträglich zeigte sich dieses Privileg im Unterricht vor Ort, wo die Dosierung von beispielsweise mehr oder weniger Selbststeuerung und Handlungsfreiheit der Schüler*innen weitgehend in meiner Hand lag. Die enge Koppelung meiner Forschungsinteressen an die durch mich zu lotsende, dynamische Datenanlage erwies sich als Chance und erlaubte mir nicht nur die Steuerung des gesamten Schiffes, sondern führte zu einer umfangreichen und exklusiven Ergänzung der Interviewdaten in Form von Beobachtungen, Gesprächen und eigenen Lehrerfahrungen aus dem Unterricht. Genau diese Steuerbarkeit kann und soll in die Methodendiskussion erneut einfliessen. So kann präsumiert werden, dass der qualitative Blick auf das ästhetische Forschungsverhalten der Schüler*innen gerade durch diese mehrfache Möglichkeit der Ergebniseinflussnahme nicht ungestört bleiben kann. Insbesondere bei der Durchführung der Interviews wurde mir bewusst, wie stark Faktoren der „sozialen Erwünschtheit“ (Vogl 2015: 77) oder die Anfälligkeit für inhaltliche Suggestion als Folge meiner Doppelrolle als Lehrerin und Forscherin zu spielen drohten und entsprechend aufmerksam behandelt werden mussten.
Im Weiteren lässt die beispielhafte Parallelität der Forschungsbewegungen auf Primar- und Hochschulstufe einen methodischen und zugleich inhaltlichen Rückschluss zu, welcher wiederum ohne diese Konstellation nicht möglich gewesen wäre: So zeigte sich auf beiden Stufen, dass sich die eigentlichen Anliegen bzw. Fragen erst in der Begegnung mit dem Material abzubilden begannen. Erst nach Abschluss aller Datensuchdurchläufe offenbarte sich also auch mir die Frage nach dem Anfang. „Ich bin längst hinausgegangen, wenn ich meine Forschungsfrage gestellt haben werde. Denn mein Zugang zur Forschung entstand mit der Frage nach dem Anfang“ (Sabisch 2007: 94). Die Annahme, dass das Fragen von Beginn an leitend sei, führte in den Forschungsprozessen der 9-Jährigen zu einer sehr ähnlichen Erkenntnis.
„Ohne Frage keine Richtung“ – Blick ins Material
Entsprechend der neun breit angelegten Kategorien präsentierte mir das Datenmaterial reichlich Fundstellen, welche sich zur Interpretation anboten. Nach der Beschreibung der Daten erfolgte bilanzierend die Formulierung von 15 Hypothesen, welche für weitere Untersuchungen als Anschlussstellen dienen können. Im Folgenden wird entlang dreier aus den Kategorien abgeleiteter Foki ein gekürzter Einblick in das ausgewertete Material gegeben.
Fokus 1: Kraut&Rüben im Vergleich
Im Gespräch über Vergleiche zwischen dem ästhetisch-forschenden und dem herkömmlichen Unterricht im Bildnerischen Gestalten manifestiert sich über alle Probanden hinweg ein deutlicher Konsens: Ersteres betreffend werden Aufgabenstellungen zu wechselnden Themenfeldern und Verfahren beschrieben, welche kaum Spielraum für eigenständige und individuelle Ergebnisse bieten, welche kaum einladen, etwas herauszufinden, da die Lehrperson das Ziel bereits kennt und den Weg dahin bereits durchdacht hat (vgl. Z1. Z1: „[Im herkömmlichen BG-Unterricht]…ist man eigentlich immer für sich alleine. Und man hat auch keine Frage, sondern man hat einfach die Vorschrift: Dieses Bild macht ihr so! Oder: Das sollt ihr tun! Und da [im Projekt] hatte man nun eigentlich keine Vorschrift, was man machen muss. Da konnte man machen, was man interessant fand…und das hat man beim anderen BG halt nicht“ (P1,115).). Im Gegensatz dazu wird bezüglich des Erhebungssettings das Wegfallen von Anleitungen und Vorschriften und die Aufforderung des Findens eigener Interessensfelder von Schüler*innen erkannt und betont. Im Weiteren wird das eigene Interesse am Lerngegenstand mit der Möglichkeit zum Lernerfolg in Verbindung gebracht. Und weiter noch: Jedes Kind hat Fragen und muss diese im Unterricht stellen dürfen, um Neues herauszufinden, um Neues zu lernen, um motiviert dem Eigenen, Wichtigen nachgehen zu dürfen (vgl. Z2. Z2. „...dann hätte ich gar nichts Neues dazu gelernt. Dann hätte ich nur machen müssen, was du sagst und dann hätte ich wahrscheinlich auch gar nicht so viele Sachen selber heraus-gefunden, weil es mich vielleicht nicht interessiert hätte“ (P2,117).). So wird beschrieben, dass individuelle und neue Lösungen nur über individuelle Fragen möglich würden und dass die Wahlmöglichkeit im vorliegenden Projekt für das Zulassen ganz unterschiedlicher Verläufe und Produkte entscheidend sei (vgl. Z3. Z3. „…dann wäre halt das herausgekommen, das du auch gewollt hättest. Weil wenn du uns sagst, was du möchtest, dann passiert halt auch das“ (P3/2,260).). Das individuelle Fragen und die Erlaubnis, den Interessen selbstständig nachgehen zu dürfen, wird zusammenfassend als äusserst zentral erachtet, soll denn überhaupt etwas gelernt werden. Dabei wird ergänzt, wie wichtig es sei, dass die Lernenden und nicht die Lehrpersonen die Fragen stellen, da nur so individuelle Lernerfolge möglich würden (vgl. Z4. Z4. „...dann [im herkömmlichen BG-Unterricht] hätte man nicht selber eine Frage gehabt, sondern du hättest uns dann gesagt: diese Frage habe ich und das müsst ihr nun herausfinden mit dieser Methode, und dann hätte man nur diese Methode machen müssen und selber hätte man wie gar nichts herausgefunden“ (P1, 46).). Insgesamt zeigt sich, dass die Probanden das Interesse in engem Zusammenhang mit der Frage sehen, obwohl die eigentliche Trennung der beiden Begriffe nicht nachvollziehbar wird. So liegt ein Bewusstsein für die Bedeutung des individuellen Fragens bzw. des Interesses für Lernerfolge bei den befragten jungen Proband*innen bereits eindeutig vor (vgl. Z10. Z10. „…du musst schon zuerst eine Frage haben, weil wenn du dich nicht fragst: Wie sieht das aus?, dann hast du auch keine Richtung“ (P3/2,41,42).).
Fokus 2: Frageauslösende Faktoren
Ästhetische Erfahrungen lassen sich bekanntlich nicht zuverlässig messen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass diese über Momente der Irritation ausgelöst werden können und mit Frageprozessen in Verbindung stehen. Vor diesem Hintergrund habe ich u.a. a) die Wahl des Forschungsgegenstandes getroffen und b) mit Bildern aus der Kunst gearbeitet. Ziel war, über Wahrnehmungserfahrungen Irritationen zu verursachen und dadurch das Fragen zu provozieren. Tatsächlich werden von den Schüler*innen solche Momente beschrieben, welche auf dem Weg zur Entwicklung ihrer Forschungsprojekte entscheidend waren. Sowohl das freie Erkunden der Forschungsobjekte (Aufschneiden, Riechen, Ertasten, genaues Anschauen etc. von Früchten/Gemüsen) als auch das Betrachten moderner Werke aus der Kunst (bspw. die in die Wand hängend montierten Pferde von Maurizio Cattelan oder der haarige Käse von Robert Gober) wurden mehrfach als Schlüsselmomente erwähnt. Erfahrungen des Ekels, Erstaunens, Überraschens, Lachens, Schmerzens u.a. (vgl. Z5/Z6/Z9 Z5. „…ganz spannend war es vor allem (...) bei der Karotte, als wir sie quer aufschnitten, da dachte man so: Ja, was kommt jetzt da noch hervor, was erwartet mich? …ja, dann war es einfach am meisten spannend“ (P1, 44).
Z6. „… überrascht hat mich halt einfach, wie Früchte von innen aussehen, weil…von aussen sehen sie manchmal etwas komisch aus, und von innen ist es dann mega schön“ (P1, 17).
Z9. „…ein komisches Gefühl. Manchmal eklig, manchmal tat es ein wenig weh…“ (P2, 227).) werden im Zusammenhang mit der rezeptiven Auseinandersetzung beschrieben. Auffallend ist, dass die auslösenden Faktoren in den Projekten der Kinder in transformierter Form wieder sichtbar werden. Es wird deutlich, dass solche Irritationen mit dem Moment des Erlebens nicht abgeschlossen sind, sondern integriert, weiterverarbeitet oder als Steighilfe für das eigene Weiterkommen übernommen werden. Als anregend und interesseweckend wird auch der gewählte Forschungsgegenstand beschrieben. So inspirieren bspw. Farbverläufe, Formen und deren Veränderungen im Alterungsprozess oder Strukturen, welche haptisch erfahrbar sind, zum eigenen Fragen, Erkunden und bildnerischen Handeln (vgl. Z7/Z8.Z7. „…oder bei der Zitrone, das hat mir Eindruck gemacht, die ganz grosse, die war mega schwer. Und die andere war eigentlich nur noch ein [leichter] Ball mit Schale und es hatte eigentlich gar keinen Saft mehr, und ich war etwas erstaunt, dass sich der Saft so schnell einsaugt […] und dass sie so schrumpfen“ (P1, 7).
Z8. „Dort habe ich probiert, die Farben herauszufinden und (...) am Schluss gab es dann eine Farbe, die man auf dem Lauch [aufgemalt] gar nicht mehr sehen konnte“ (P2,69).). Dass das Fragen durch die beschriebenen Erfahrungen der Irritation ausgelöst oder bewusst gemacht werden konnte, stellt für die fachdidaktische Weiterarbeit eine zentrale Erkenntnis und Anschlussstelle dar.
Fokus 3: Zeitpunkt der Fragestellung
Im Hinblick auf fachdidaktische Konsequenzen ist die Frage nach dem Zeitpunkt der Entwicklung von Fragen bedeutend. Der Einblick in den zweiten Fokus lässt bereits vermuten, dass Fragen alleine niemals den Startschuss zu den Forschungsprojekten liefern. Die Daten lassen deutlich interpretieren, dass jeder Frage eine handelnde Erkundung vorausgeht, dass erst durch die lustvolle und selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit dem Material das Fragen und mit ihm das Bedürfnis nach Klärung kommt. Deutlich wird dies in den Zitaten 11 und 12 Z11. „...ganz am Anfang hat man noch gar nicht gewusst, ja was soll ich nun mit dieser Karotte machen… Wenn man dann mal angefangen hat, kam die Frage: Wieso hat das so verschiedene Farben? Das hat man sich dann erst während des Forschens gefragt“ (P1, 27)
Z12. „Am Anfang war man an einem anderen Ort, da hat man noch gar nicht gewusst, was für eine Frage man sich nun stellen sollte“ (P1,27).. Nebst der Erlaubnis, sich dem Material absichtsvoll oder -los annähern zu dürfen, wird auch der Zufall für das darauf folgende Fragen verantwortlich gemacht. So wird das Auftauchen der subjektiv entscheidenden Fragen in den Phasen der selbstgesteuerten Handlungsprozesse der vorwiegend 2. Epoche und nicht in den durch die Lehrperson dafür vorgesehenen Sequenzen erlebt. Genannt werden indes sämtliche Zeitpunkte des Forschungsprozesses, von der ersten Kontaktaufnahme mit dem Objekt bis hin zur Präsentation durch andere Gruppen, welche als Auslöser von Anschlussfragen und neuer Forschungslust verantwortlich gemacht wird.
Dass zu Beginn eine Frage stehe, kann bilanzierend für das forschende Lernen auf Primarstufe schlicht nicht zutreffen, es sei denn, die Frage werde durch die Lehrperson vorgegeben, was wiederum in einem klaren Widerspruch zu einem konstruktivistischen Lernverständnis und den Schlüsselbegriffen des kindlichen ästhetischen Lernens stehen würde. So lässt sich resümieren, dass die Gestaltung fragefreundlicher Rahmenbedingungen im Unterricht sehr wohl durch fachdidaktische Handlungsaspekte beeinflussen lässt. Wann das Fragen und Folgefragen eintritt und wie sich dieses in seiner Beschaffenheit gestaltet, unterliegt jedoch individuellen, dynamischen Prozessen und weder den Planungsideen der Lehrperson noch dem Ablaufmodell eines Unterrichtskonzeptes (vgl. Z13 Z13. „Du könntest eigentlich immer weiterfragen“ (P3/2,63).).
Schlussfolgerung
Aus den Gesprächen mit meinen jungen Proband*innen über schwer verbalisierbare Erfahrungen in einem ergebnisoffenen, neuartigen Unterricht im Bildnerischen Gestalten resultierten eindrückliche, berührende und erstaunliche Aussagen. So war jedem der befragten Kinder klar, dass Lernen über das Erleben, über Interessen, individuelle Fragen und das Herausfinden von Antworten möglich wird und dass sich Vorgaben zu Inhalten und Abläufen tendenziell subjektfeindlich und motivationshemmend auswirken. Fern jeglicher Romantisierung lassen sich davon handfeste fachdidaktische Aspekte ableiten, welche im Hinblick auf aktuell beschriebene Bildungsziele und einen subjektorientierten, wirkungsvollen Unterricht bedeutend sind: Mit der eigenen Bereitschaft zu einem ergebnisoffenen Unterricht, der Wahl eines ästhetisch affizierten Themenfeldes, der Ermöglichung von Irritationen und der Schaffung zeitlicher und struktureller Rahmenbedingungen, welche das selbstgesteuerte Reagieren auf diese zulässt, wird dem kindlichen Fragen ein angemessener und praxistauglicher Rahmen geboten. Zu wünschen bleibt also, dass die Untersuchung Fragen über Fragen hier einen Anfang und keinen Abschluss findet und in den laufenden Fachdiskurs sowie in die Ausbildung von Primarlehrpersonen einfliessen wird. Womöglich werden Kinder dadurch im Rahmen von Unterricht im Bildnerischen Gestalten zunehmend ihren eigenen, brennenden Fragen nachgehen dürfen.
„Du könntest eigentlich immer weiterfragen.“ (Marlon, neun Jahre alt. 2020)
Literatur
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Siehe auch: Kunz, Alexandra (2022): Unterwegs mit Lupe und Lauchstängel. In: Aebersold, Ursula/Bazzigher-Weder, Monica/Junger, Susanne/Niederberger, Claudia (Hg.), Kunst & Bild. Bern, hep Verlag, S. 310-319.