Editorial Art Education Research °15

in­ter­twin­ing hi/sto­ries of arts ed­u­ca­tion


intertwining hi/stories of arts education
(Symposium: Friday 1st – Sunday 3rd of June, 2018),  www.bit.ly/intertwining 
Image: Maja Renn

Carmen Mörsch

Editorial (DE)


Anfang Juni 2018 fand in der Shedhalle Zürich das vom Institute for Art Education (IAE) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) veranstaltete Symposion intertwining hi/stories of arts education statt. Dieses widmete sich Geschichten des Lernens – im Plural – mit und durch Kunst. Internationale Forschende des gleichnamigen Projektes [1], sowie eine Kollegin der ZHdK gaben an den beiden Tagen Einblicke in ihre laufenden Untersuchungen zu glo/kalen Verbindungslinien in der Geschichte der Kunstpädagogik und Kunstvermittlung. Ziel von intertwining hi/stories of arts education ist es, aus diesen Forschungen Lehrmaterialen für die Aus- und Weiterbildung zu generieren: Es entstehen learning units und Lernkarten unter dem Titel Un/Chrono/Logical Timeline, die ab Frühling 2019 mehrsprachig und kostenfrei im Internet erhältlich sein werden. Die hier vorliegende 15. Ausgabe von Art Education Research versteht sich als Beitrag zu dieser im Entstehen begriffenen Sammlung. Sie dokumentiert die Vorträge des Symposions, macht sie als deutsche und englische Übersetzungen zugänglich und ergänzt sie in manchen Fällen durch Texte, welche die kontextuelle Einbettung der Vorträge befördern. Während die vielfältigen im Kontext des Projekts entstehenden Lernmaterialien inhaltlich und häufig auch formal und strukturell von einer dekolonialen Wissenschaftskritik, einer Kritik an einer westlich geprägten, diachronen Geschichtsschreibung informiert sind, bedeuten die überarbeiteten Vortragstexte in diesem eJournal demgegenüber vom akademischen Analysieren und Schreiben geprägte Ankerpunkte und Resonanzen. Die Texte enthalten jeweils Verweise auf die learning units, wenn sie mit diesen in Verbindung stehen.

Warum ist es den Forschenden von intertwining hi/stories of arts education ein Anliegen, eine global und post/kolonial ausgerichtete Geschichtsschreibung des Arbeitsfeldes zu betreiben? Die Vermittlung von Kunst in Schulen sowie in Museen und Ausstellungen ist (nicht nur) im deutschsprachigen Raum ein zuallererst lokal ausgerichtetes Arbeits- und Forschungsfeld. Diese Selbstreferenzialität verstellt nicht nur den Blick auf die Komplexität und die enorme Pluralität von Konzepten, Methoden, Begründungen und Weltverständnissen, mit denen das, was in einer westlich-international geprägten Nomenklatur verkürzend mit dem Schirmbegriff art education bezeichnet ist, in unterschiedlichen geopolitischen Regionen als Theorie und Praxis praktiziert, angeeignet, zurückgewiesen, verschoben und erweitert wird. Sie erschwert auch die Reflexion der Zusammenhänge und Verstrickungen dieser Pluralitäten: der historisch gewachsenen und weiterhin wirksamen Kolonialität und weissen Perspektivierung künstlerischer Bildungsarbeit genauso wie der jeweiligen Spezifika und der gleichzeitigen Internationalität von widerständigen Praxen. Eine solche Reflexion ist jedoch die Grundlage für die dringend notwendige Entwicklung von Sensibilität für Gewaltverhältnisse, die im Rahmen kunstpädagogischer Arbeit reproduziert werden, und für die Entwicklung von Perspektiven die eine entsprechend bewusste und positionierte Praxis ermöglichen, die diesen Gewaltverhältnissen entgegenarbeitet und andere Räume eröffnet. Eine solche Praxis wäre zum Beispiel unverzichtbar für einen kunstpädagogischen Umgang mit der aktuellen Migrationsgesellschaft und mit einer globalisierten künstlerischen Produktion. Migration wird im deutschsprachigen Raum im Rahmen kultureller Bildung und Kunstvermittlung, so wie im Bildungsbereich allgemein, derzeit sehr intensiv diskutiert. Dabei liegt der Fokus meist auf der Rolle der Künste für die vermeintliche ‚Integration‘ (gemeint ist in der Regel ‚Anpassung‘) von Menschen, die aufgrund ihrer eigenen oder der Migrationsgeschichte ihrer Eltern oder Grosseltern als rassisierte ‚Andere‘ in der Mehrheitsgesellschaft leben. Dieser Diskurs bleibt einer Vorstellung von Eigen und Fremd verhaftet, welche die Ausschlüsse erneut produziert, gegen die er vorgehen will. Die Forschenden von intertwining hi/stories of arts education gehen demgegenüber davon aus, dass sich der Fokus anstatt auf die kulturelle Differenz von Schüler_innen und Teilnehmer_innen, auf die Kunstvermittlung selbst – ihre Methoden, ihr Selbstverständnis –, international verwoben und vor allem diskriminierungskritisch, gerichtet werden muss.

Dieser Notwendigkeit wendet sich intertwining hi/stories of arts education zu: denn Kunstvermittlung war nie so ausschließlich ‚lokal‘ wie es scheinen mag. Einerseits gibt es viele selten beleuchtete internationale Einflüsse in der Entwicklung der hiesigen Kunstvermittlung, andererseits wurden europäische kunstpädagogische Ideen in kolonialer und postkolonialer Zeit in den globalen Süden exportiert. Viele Geschichten von lokalen Erfahrungen, die europäische Konzepte angeeignet, mit vor Ort bestehenden Praxen konfrontiert und die Vorstellungen von ‚Kunst‘ und ‚Bildung‘ herausgefordert haben, sind ungeschrieben.

Beispielsweise entstand der Boom zum künstlerischen Ausdruck von Kindern, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts europaweit in Ausstellungen, Publikationen und der Gründung reformpädagogischer Kunstschulen niederschlug, in enger Auseinandersetzung mit sogenannter ‚primitiver Kunst‘, die über den Kolonialismus in den europäischen Wissenskanon Eingang fand. Die diskursiven Kontinuitäten dieser Entwicklung rekonstruiert der Text Rätselflüge – Denkbewegungen durch ein schwieriges Erbe progressiver Kunstvermittlung in Österreich von Andrea Hubin und Karin Schneider in dieser Ausgabe, und sie klingen auch in der Fallstudie von Anna Schürch zur Entwicklung der Kunstpädagogik in Basel an. Letztere zeigt unter dem Titel ‚Natürliche Kunsterziehung‘ – Biologismen im kunstpädagogischen Diskurs beispielhaft die Verschränkung von regionalen Spezifika der schweizer Entwicklung mit Diskursen, die auch in Deutschland für die Fachentwicklung prägend waren. Einen weiteren Beitrag aus der Forschung zur Kolonialität des ambivalenten Befreiungsprojekts Lebensreform bildet Saskia Köbschalls Text ,Die Unanständigkeit Kleider zu tragen': Über Nudismus, Lebensreform und Deutschlands koloniale Verflechtungen. Umgekehrt schildert der Beitrag Margaret Trowells Kunstschule – Eine Fallstudie über koloniale Subjektivierung von Emma Wolukau Wanambwa, wie eine englische Konzeption der künstlerischen Bildung in den 1930er Jahren nach Uganda transportiert wurde und – gerade weil sie besonders informiert und gut zu sein glaubte – zu einer infantilisierenden, rassistischen und paternalistischen Theorie und Praxis führte. Diese genauso wie die damit verwobenen Subjektivierungsprozesse von Lehrenden und Lernenden stellen heute weiterhin Herausforderungen für die Dezentrierung des Curriculums an Kunsthochschulen in Uganda dar, wie Kitto Derrick Wintergreen in seinem Praxiseinblick Wandering About – Ein Experiment des im Laufen Lernens deutlich macht. Lineo Seogete wiederum analysiert in Die Fesseln der Übersetzung – Von der Gewalt, mich erklären zu müssen, wie die Ignoranz und die territorialen Begehrlichkeiten von Missionar_innen in Lesotho Mitte des 19. Jahrhunderts Konsequenzen für die heutige Basisbildung im Lesen und Schreiben zeitigen, und sie zeigt am Beispiel der Aktivitäten der ba re e ne re Literaturgesellschaft subversive und kreative Umgangsweisen mit den daraus resultierenden Schwierigkeiten auf.

Eine Referenz, die in einer kritisch orientierten Kunstvermittlung international kaum wegzudenken ist, ist das Buch Die Pädagogik der Unterdrückten (1968) und das generelle Wirken des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. So lässt sich beispielsweise die heutzutage in Europa hegemonial gewordene Forderung nach einer sozialen Öffnung von Museen wesentlich auf Impulse aus der Deklaration des Runden Tisch zur gesellschaftlichen Funktion des Museums in Santiago de Chile 1972 zurückführen [2], der selbst wiederum stark von Freires Forderung nach Selbstermächtigung durch Bildung beeinflusst war. Dagegen ist die, aus einer dekolonialen Position resultierende, Kritik an der weissen und westlichen Perspektivierung seiner ganz dem Fortschrittsprojekt der Aufklärung verpflichteten Befreiungspädagogik im hiesigen (deutschsprachigen) Kontext kaum bekannt. Aus diesem Grund publizieren wir hier unter dem Titel Füreinander Sorgen in den Anden: Anmerkungen zu Paulo Freire zum ersten Mal die deutsche Übersetzung eines zuerst im Jahr 2000 auf Spanisch erschienenen und im Internet auf Englisch erhältlichen Text des peruanischen Anthropologen, Pädagogen und Agrarwissenschaftlers Grimaldo Rengifo Vásquez, in welchem er eine epistemologische und ethisch-praktische Kritik von Freires Ansatz der ‚Bewusstseinsbildung‘ (conscientizacão) unter Berücksichtigung der andinisch-indigenen Kosmovision leistet. Dieser Text wird durch ein im Jahr 2018 durchgeführtes Interview von zwei Forschenden aus dem Umfeld von intertwining hi/stories of arts education, Sofia Olascoaga und Alejandro Cevallos, mit dem Autor aktualisiert und kontextualisiert.

Die hier vorgeschlagenen Beschäftigungen mit den pluralen, situierten, nie vollständigen Geschichte/n von Kunstvermittlung, sowohl mit dem Export, der Aneignung und dem Widerstand gegenüber europäischen Konzepten im kolonialen und postkolonialen Kontext, als auch mit den unsichtbaren globalen Verflechtungen von Begründungen und Methoden, stellt, so hoffen wir, Werkzeuge für eine reflexive Kunstvermittlung im Umgang mit einer diversen Gesellschaft und einer diversen Kunst zur Verfügung.

Dem Dilemma, dass die Beschäftigung mit historischen Quellentexten, welche koloniale Gewaltverhältnisse dokumentieren, dazu führen kann, diskursive und visuelle Gewalt zu wiederholen, versuchen wir in dieser Ausgabe bewusst zu begegnen und es in den Texten sichtbar zu machen – dies geschieht vor allem durch die Abkürzung von rassistischen Bezeichnungen für Schwarzen Menschen (‚N.‘). Zudem sind wir uns darüber im Klaren, dass unterschiedliche Positionierungen bei den Leser_innen – insbesondere bei solchen mit Rassismuserfahrung – Sensibilitäten bei der Rezeption von kolonial-rassistischen Darstellungen implizieren. Entsprechend werden Texte, welche mit solchen Quellen argumentieren, mit einem Hinweis (trigger warning) versehen.

Dank und Abschied

Diese 15. Ausgabe von Art Education Research ist gleichzeitig die letzte, die ich als Herausgeberin verantworte. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Autor_innen und Ko-Herausgeber_innen, welche zwischen 2010 und 2018 dazu beigetragen haben, Art Education Research zu einem weithin wahrgenommenen deutschsprachigen eJournal für kritische Forschungen und Praxisvorschläge der Kunstvermittlung zu machen. Besonders möchte ich an dieser Stelle den Beitrag von Nora Landkammer hervorheben, Kollegin und Ko-Leiterin des IAE der ZHdK, die mehrere Ausgaben von Art Education Research hauptsächlich verantwortet und mit mir gemeinsam seine inhaltliche Positionierung kontinuierlich reflektiert und gestaltet hat.

Dank geht zudem an die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats und natürlich an Sie, die Leser_innen des eJournals: Ihre kontinuierliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung genauso wie Ihre kritischen Rückmeldungen waren Ansporn und Inspiration für unsere Arbeit.

Mein grosser Dank für die vorliegende 15. Ausgabe von Art Education Research geht neben den beteiligten Autor_innen insbesondere an Saskia Köbschall, die durch ihr kritisches Lektorat, ihre Arbeit am englischen Style Sheet, ihre Übersetzungen und ihre redaktionelle Mitverantwortung wesentlich zur Produktion beigetragen hat. Gedankt sei zudem Moses März für das Lektorat und Korrektorat; Katharina Maly und Manners Traduccions, Barcelona für weitere Übersetzungen sowie Javier Rodrigo für seine Beratung bei der Übersetzung von Konzepten aus der andinischen Kosmovision.

Ab 2019 wird die Schweizer Fachgesellschaft für Kunstpädagogik [3] die Herausgabe von Art Education Research verantworten. Auch an sie ergeht an dieser Stelle ein herzlicher Dank für die Übernahme des Staffelstabs.

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude und neue Einsichten bei der Lektüre und ein gutes und produktives Jahr 2019!

Carmen Mörsch

[1] Mehr Informationen unter: https://another-roadmap.net/intertwining-histories (letzter Zugriff: 13.12.2018).

[2] Die spanische Fassung der Deklaration ist hier zu finden: http://www.ibermuseus.org/wp-content/uploads/2014/07/copy_of_declaracao-da-mesa-redonda-de-santiago-do-chile-1972.pdf (letzter Zugriff: 13.12.2918).

[3] Zu finden unter: http://www.swissarteducation.ch/ (letzter Abruf: 13.12.2018)

Redaktion
Carmen Mörsch, Saskia Köbschall

Übersetzung
Saskia Köbschall, Javier Rodrigo Monter, Manners Traduccions Barcelona,  Katharina Maly 

Lektorat und Korrektorat
Saskia Köbschall, Moses März

Layout
Anne Gruber

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