Schlagwörter: Anticipatory Anthropology, Art Education, Ethnografie, Future making, Materialität, Nachhaltigkeit, Neuerfinden, Person, Ruinen, Wissen, Zeitpolitiken
„Konzeptarbeit ist immer Arbeit an einer Zukunft“, sagt Mathis Rickli. Ich blicke auf den glatten Bildschirm meines Rechners, auf dem sein Gesicht erscheint. Rickli leitet eine offene Werkstatt für Kinder, die Druckstelle in Basel. Diese Einschätzungen zu seiner konzeptionellen Arbeit legt er dar, nachdem ich erläutert habe, was aus meiner Forschung seit unserem ersten Gespräch vor zehn Monaten geworden ist. Damals hatte ich Rickli mein Interesse für die Prozesse erläutert, mit denen Zukunft sozial konstruiert wird. Wie Zukunft verstanden wird, ist voraussetzungsvoll sowie historisch und je nach sozialer Position spezifisch – auch in künstlerisch-edukativen Situationen: Aktuell wird etwa in vielen Projektbeschreibungen betont, dass Teilnehmende Ermächtigung erfahren sowie entfalten könnten und dass ihnen Teilhabe ermöglicht werde. Mit dieser Argumentation imaginieren kunstvermittlerische Selbstbeschreibungen ermächtigte persönliche Zukünfte sowie einen intervenierenden Einfluss der Art Education in ausschliessende gesellschaftliche Tendenzen. Künstlerische und ästhetische Bildung eröffnet Möglichkeiten, so die Kernaussage. In dieser Deutung treffen Vorstellungen künstlerischer Praxis als befragend, offen, kritisch und neue Wege beschreitend und damit Welten eröffnend (vgl. Settele 2019) auf ein freiheitlich pädagogisches Verständnis selbstbestimmter Entfaltung (vgl. z.B. Klemm/Grunder/Schumann/Bernhard 2013). So wird mit Semantiken des Verlernens, der Transformation und des Neudenkens sowie mit Bezug auf die kritische Pädagogik kunstvermittelnde Arbeit in der Fachdebatte als intervenierende gesellschaftsverändernde Praxis diskutiert (vgl. z.B. Huber/Zobl 2014).
Ebenfalls wird in fachlichen Debatten sowie in Praktiken der Art Education aktuell eine Vorstellung von Zukunft vielfach dadurch konkretisiert, dass auf Nachhaltigkeit Bezug genommen wird: Etwa, wenn es um Materialverbrauch oder um einen bewussten Umgang mit Ressourcen geht und diese für zukünftige Generationen erhalten werden sollen. Mit der Referenz auf Ressourcenschonung wird dann das eigene Verhalten an eine eher dystopische Zukunft geknüpft, in der durch Klimawandel, Verschleiss und Müllproduktion die Erde nicht mehr die gleiche sein werde. Zugleich wird impliziert, dass durch nachhaltiges Verhalten diese Veränderungen nicht oder weniger drastisch sein müssten. Einerseits sollten auch so Möglichkeiten eröffnet werden oder zumindest offenbleiben, und nicht durch Verschwendung und Verschmutzung eingeschränkt werden. Andererseits birgt der Bezug auf Nachhaltigkeit die Gefahr, so die Kritik (vgl. Brightman/Lewis 2017), dass es zu einer Engführung von Zukunft komme: Die Idee, Ressourcen für zukünftige Generationen zu bewahren, geht in einem universellen Nachhaltigkeitsverständnis mit Ideen von Entwicklung und Fortschritt einher, die der Vielfalt möglicher Zukünfte wenig Raum lassen, sondern Lebensweisen einschränken. Universelle Nachhaltigkeitsziele vermögen nicht auf spezifische Bedingungen und Lebensrealitäten einzugehen, suggerieren hingegen eine universelle Lebensform mit universellen Bedingungen und Ressourcen, so die Kritik. Sie würden aus dominanten Vorstellungen von Lebens- und Wirtschaftsweisen abgeleitet und damit marginalisierten Umgangsformen mit Ressourcen zu wenig Beachtung schenken, was historisch gewachsene hegemoniale Machtverhältnisse bewahre, statt neue Lebensweisen zu begünstigen (vgl. ebd.). Diese Engführung von Zukunft im universellen Nachhaltigkeitsverständnis bleibt oft unbewusst und unreflektiert. Sie widerspricht dem Anspruch des pädagogischen Selbstverständnisses, wonach kunstvermittlerische Praktiken ermächtigen und individuelle Perspektiven eröffnen, wie auch mit einem künstlerischen Selbstbild als neue Gestaltungsweisen explorierende Praxis.
Aus diesem oft unreflektierten Widerspruch begründe ich mein Interesse an Zukunftskonstruktionen in der Art Education: In der kunstvermittelnden Arbeit, wie sie Rickli beschreibt, geht es um Politiken der Zeit – darum, was vorstellbar wird und was nicht, da bestimmte Imaginationen in die Konstruktion von Zukunft einfliessen. Mit der Konstruktion von Zukunft werden historisch gewachsene, wirkmächtige Vorstellungen in die Gegenwart getragen: Wie Zukunft gedacht wird, gibt unserem Tun im Jetzt Sinn. Es bedingt unsere Erwartungen und unser damit zusammenhängendes Tun (vgl. Chakkalakal 2018, 2019). Deshalb ist es hilfreich, diese Zukunftsvorstellungen und den Umgang mit Zukünften reflektiert in die kunstvermittelnde Arbeit zu tragen. Wie wird Zukunft in künstlerisch-edukativen Praktiken antizipiert und imaginiert? Wie wird dabei mit der Vielheit möglicher Zukünfte umgegangen?
Wie ich Ansätze einer Anticipatory Anthropology (vgl. Anand/Gupta/Appel 2018; Chakkalakal 2019, 2018; Kuhn 2019; Stephan/Flaherty 2019) auf die Art Education anwende, will ich im vorliegenden Beitrag darlegen. Daraus entwickle ich ein analytisches Modell, das in der Vermittlung helfen soll, die eigene Involviertheit in die Konstruktion spezifischer Zukünfte zu reflektieren. Dies zu verstehen, erlaubt einerseits der Forschung Art Education, andererseits ihrer Praxis, sich selbstverstehend in Politiken der Zeit und den damit einhergehenden Dynamiken zu verorten. Zum Schluss des Beitrags schlage ich aufbauend ein Zukunfts- und Nachhaltigkeitsverständnis für die künstlerische und ästhetische Bildung vor, das dem Anspruch auf Ermächtigung und Ermöglichung besser entspricht als ein universelles Verständnis von Nachhaltigkeit. In meiner Theoretisierung von Zukünften in der Kunstvermittlung behandle ich im Sinne einer ethnografischen relationalen Kulturanalyse (vgl. Massmünster 2017: 44-62; Egger 2014) die Aussagen meiner Gesprächspartner*innen, meine eigenen Erfahrungen und Deutungen sowie die Aussagen anderer Forschenden in theoretisierender Literatur auf derselben Ebene: Sie informieren mich alle in meiner hier dargelegten Theoretisierung und dienen darin ihrer wechselseitigen Verortung und Erläuterung. Da ich als Forschender nicht ausserhalb der Prozesse der Zukunftsimagination stehe, berichte ich auf den folgenden Seiten auch, wie ich bei der Entwicklung dieser Ansätze selbst in Zukunftskonstruktionen verwickelt bin. Entsprechend thematisiere ich mein Vorgehen ständig mit, um Lesende in Denk- und Aushandlungsprozesse zu involvieren (vgl. Binder 2015), was eine Weiterentwicklung der Ansätze im Sinne einer neuerfindenden Zukunftsgestaltung, wie ich sie zum Schluss vorschlage, auch auf meine Forschung anwendet.
Was war und was kommt
Zurück zum Anfang: Gerade hatte ich mit Rickli meine Deutung geteilt, dass die Zukunft in der Art Education oft mit explorativen Aushandlungsprozessen einhergeht. Daraufhin bezeichnet er die konzeptuelle Arbeit für Projekte der Kunstvermittlung als Arbeit an der Zukunft und fährt fort:
„Du willst mit einem Konzept etwas erschaffen, nach dem du arbeitest, das dir einen Halt gibt in der Zukunft, mit dem du sagen kannst, ja das ist unsere Haltung. Und das ist eine Arbeit am Dilemma, denn es bleibt immer ambivalent, du bleibst immer unsicher. Du weisst ja nicht, wie die Zukunft wird. Du weisst nicht, ob die Kinder dann überhaupt noch zu uns kommen. Das ist [...] wirklich eine Gratwanderung zwischen Entscheide fällen und entscheiden, wo wir etwas eben noch nicht entscheiden.“ (Rickli, 12.1.2021)
Zukunft zu konkretisieren, heisst also Aushandlungsprozesse einzuleiten, abzuwägen und mit Unsicherheiten umzugehen. Beim ersten Gespräch erzählte Rickli, dass für ihn die Idee bedeutend sei, dass die Kinder aus dem Quartier selbstverantwortlich und ohne Voranmeldung in die Druckstelle kommen. Die bestehende Infrastruktur aus Druckpressen, Bleisatz, Boston Tiegel-Presse, Buchbinderei und anderem sowie eine auf künstlerische Schaffensprozesse sensibilisierte Begleitung liessen einen Möglichkeitsraum entstehen für lustvolles Ausprobieren, Verwandeln, In-Form-Bringen von Bildern, Ideen und Geschichten. Ein eigener Verlag ermögliche dabei, Formen der Veröffentlichung zu finden. Er erzählte mir auch, dass die Kinder auf diese Weise erfahren, dass ihre Arbeiten es wert seien, in einem Buch oder in der regelmässig gedruckten hauseigenen Zeitung zu erscheinen. Er zeigte mir damals solche Bücher und die Zeitung sowie ein Quartett mit Monstern, das verschiedene Kinder gestaltet hatten. Er erzählte von vielseitigen Kooperationen mit anderen Kulturbetrieben wie Kunstmuseen oder Orchestern, womit die Kinder eine Möglichkeit erhielten, einen eigenen Zugang zu diesen Institutionen zu finden. Er verwies im Gespräch auf die Berufsperspektiven der Kinder aus diesem Quartier. Die strukturellen Benachteiligungen legte er mir erfahrungsnah dar, wenn er erzählte, wie diese Kinder über die Projekte der Druckstelle mit Kindern aus anderen Quartieren zusammenkommen, die an Vermittlungsangeboten von Museen teilnehmen, zu denen jene über ihre Eltern kamen. Deutlich wurde, dass Rickli die unterschiedlichen Fähigkeiten und Aufmerksamkeiten dieser beiden Gruppen von Kindern nicht bewertete, dass er ihnen aber eine unterschiedliche gesellschaftliche Akzeptanz und damit den Kindern unterschiedliche Perspektiven und Chancen zuschrieb.
Rickli erzählte mir bereits damals von vielen Dilemmas, die er in seiner Arbeit erlebe: Die Kinder einfach machen zu lassen, ihnen aber auch verschiedene Räume und Medien des Ausdrucks zu bieten, bedeute manchmal, Zeichnungen auszuwählen, die nicht der Auswahl der Kinder entsprechen würden. „Sonst wären viel mehr Herzchen und Icons und Christiano Ronaldos in den Büchern.“ (Rickli, 28.2.2020) Er problematisiert also die ästhetische Bewertung, die er und seine Kolleg*innen vornehmen, wenn sie auswählen, was gedruckt wird. Ein weiteres Dilemma sei, dass die Kinder viel mehr Arbeiten anfangen, als sie fertigstellen; so entstehe ein offener Gestaltungsraum, der aber mit Materialverschleiss einhergehe. Während Rickli all dies ausführte, bekam ich eine Ahnung davon, wie vielschichtig seine Arbeit ist und auf wie vielen unterschiedlichen dieser Schichten die Zukünfte der Kinder immer wieder neu mitverhandelt werden.
In unserem zweiten Gespräch berichtet Rickli, wie mit den Massnahmen gegen Covid-19 – drei Wochen nach unserem ersten Gespräch kam der erste Lockdown im März 2020 – vieles anders wurde als gedacht, wie sie im Team umdenken mussten und damit eine neue Zukunft entworfen haben.
„Es gab in diesem Jahr einen Bruch. Da war der Lockdown und dann konnten wir zwar zeitweise wieder öffnen, aber es blieb schwierig. Der Informationsfluss zu den Kindern blieb verzögert und es gab eine grosse Unsicherheit bei den Eltern, die ihre Kinder zum Teil gar nicht mehr rausgelassen haben. [...] Es wird schwierig bleiben: Wenn wir drei Monate geschlossen haben, hat dies grosse Nachwirkungen. Man muss neu anfangen, Energie reinstecken, dass wieder diese Selbstverständlichkeit entsteht und die Kinder einfach her kommen.“ (Rickli, 12.1.2021)
Die Massnahmen werden zum Bruch, der die erwartete Zukunft durcheinanderbringt und ein Neuerfinden dieser bedingt. Die eigene Positionierung zu Institutionen wird überdacht:
„Diese Situation hat bei uns zu einer Art Identitätskrise geführt. Was machen wir hier eigentlich? Sodass wir begonnen haben, unsere Struktur zu überdenken. [...] Eine der Ideen war beispielsweise, dass wir nur noch zwei Nachmittage ganz offen haben und uns in der restlichen Zeit den Tagesstrukturen oder Schulklassen annähern. Dieses Überdenken der eigenen Angebotsstruktur wurde von Corona ein bisschen erzwungen. Vielleicht ist es aber gar nicht so schlecht. Es hat vielleicht etwas beschleunigt, das ohnehin gekommen wäre. Es kann wohltuend sein, sich zu überdenken.“ (ebd.)
Die Krise, mit der das zuvor selbstverständlich Gewordene in Frage gestellt wurde, sieht er als Chance für die Zukunft. Wenn Rickli im Zitat antizipiert, was kommt, referiert er immer wieder auf Wissen, mit dem er einordnet, was war. Er ordnet Geschehnisse wie den Lockdown, Räume wie die Druckstelle, Institutionen wie Tagestrukturen oder die Eltern, Erfahrungen wie, dass es im Sommer wieder einen eingeschränkten Betrieb gab, in eine Erzählung ein. Damit erzeugt er Bezüge zwischen diesen – ich nenne sie hier zusammenfassend: Einheiten. Um eine solche Erzählung zu generieren, benötigt er abstrahierendes einordnendes Wissen, das die Einheiten in Bezug zueinander setzt. Es entsteht eine zeitliche Abfolge. In der Erzählung erlangen die Einheiten, von denen jede für sich nichts sagend wäre, Bedeutung.
Die Imagination von Zukünften ist hier also mit spezifischen Deutungen verbunden, mithilfe derer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft überhaupt denk- und erlebbar werden. Auch ich vollziehe solche Deutungen und Imaginationen, wenn ich Rickli von meiner Forschung erzähle. Indem Rickli und ich im Gespräch gemeinsam auf das vergangene Jahr zurückblicken, schauen wir auch in die Zukunft und erzeugen diese mit; aus dem, was gemäss unserer Wahrnehmung und Einordnung war, antizipieren wir Szenarien, die kommen können. Mit diesen Erzählungen und dem gegenseitigen Nachfragen imaginieren wir im Gespräch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir beziehen Sinnesreize auf abstrakte Modelle wie Art Education, Forschung, Corona, das vergangene Jahr, Quartier, Gesellschaft, auf bestimmte Infrastrukturen und Personen. Damit beziehen wir sie auf etwas Grösseres, Abstrakteres, welches seinerseits nur durch diese Bezüge begreifbar wird. Wir stellen Bezüge her, schlagen Verbindungen, grenzen und wägen ab, vergleichen und stellen Relationen her. Damit erzeugen wir Abläufe, Zusammenhänge, Modelle, Erzählungen und Erklärungen, in denen die Einheiten aufeinander bezogen werden. All diese Einheiten imaginieren wir dadurch und verwirklichen sie kommunikativ (vgl. Massmünster 2017: 66-77).
Wie die Zukunft in bestimmten Momenten antizipiert wird, wird mit geflechtartigen Relationierungen von Einheiten spezifisch. In den Gesprächen, die ich mit Rickli und anderen Kunstvermittelnden geführt habe, zeigten sich neben dem Wissen zwei weitere Einheiten immer wieder als besonders mit der Spezifizierung von Zukunft verbunden. Wie Zukunft in der Kunstvermittlung imaginiert wird, steht neben den Bezügen auf Wissensformen wesentlich in Relation zu verwendeten gestalterischen und infrastrukturellen Materialien sowie zu den involvierten Personen. Zukunft, Wissen, Material und Person bedingen sich also in diesen Prozessen wechselseitig, bringen sich gemeinsam hervor und wandeln sich relational. Dieses Geflecht an Zukunft, Wissen, Material und Person schlage ich im Folgenden als analytisches Modell vor, um die Zukunftskonstruktion in der Art Education zu beschreiben und die eigene Involviertheit in diesen Prozess zu reflektieren. Die folgenden Kapitel nenne ich deshalb Zukunftswissen, Zukunftsmaterial und Zukunftsperson. In den jeweiligen Ausführungen zeichne ich nach, wie sich diese Einheiten für mich als besonders relevant für die Zukunftsimagination zeigten. Das Modell kann – so meine zukunftsproduzierende Hoffnung – die Forschung wie auch die Praxis bei der selbstverstehenden Verortung in Prozessen der Zukunftsimagination unterstützen.
Ich beschreibe dieses Geflecht relationaler Einheiten im Folgenden, indem ich mich als Forscher selbst als Teil davon verstehe: Auch ich konstruiere Zukunft, Wissen, Material und Person in Relation zueinander mit und bin in diesen Prozess verwoben. So erzähle auch ich Rickli in unserem zweiten Gespräch viel vom vergangenen Jahr: In den letzten zehn Monaten habe ich zehn Gespräche mit Kunstvermittelnden geführt. Für das erste dieser Gespräche hatte ich Rickli in der Druckstelle besucht. Es blieb das einzige, das ich vor Ort in einer Werkstatt geführt hatte. Alle anderen erfolgten aufgrund der Massnahmen gegen Covid-19 per Videocall. Ich hatte vor zehn Monaten noch geplant, einzelne kunstvermittelnde Projekte ethnografisch zu begleiten. Ich erzählte Rickli, wie ich dieses Vorhaben verworfen hatte: Es blieb bei den Gesprächen mit den Kunstvermittelnden, nur vereinzelt konnte ich auch an online Veranstaltungen teilnehmen. Zudem analysierte ich zahlreiche Selbstbeschreibungen von Projekten und Angeboten in Jahresberichten, Konzepten und auf Websites. Weiter erzählte ich Rickli, was ich damit machen will: Ich antizipierte, wie ich daraus den vorliegenden Artikel schreiben werde. Bei dieser Zukunftsimagination bezog auch ich mich auf historisch gewachsene Konzepte: Ethnografie, Forschung, Gespräch – und auf jedes einzelne andere Wort, das ich nutze, um die in es gelegten Bedeutungen als Sinnstiftung zu nutzen, um Zukünfte in der Art Education zu theoretisieren. Wenn ich hier schreibe, ebenso wie als ich Rickli in der Druckstelle besuchte, bin ich durchzogen von wirkmächtigen Linien, die mir nur teilweise bewusst werden: So legitimiert die Referenz auf Forschung mein Tun, sie erlaubt mir über andere zu schreiben. Ich ordne meine Erfahrungen ein, konstruiere einen untersuchbaren Bereich aufgrund von Kategorien wie Art Education oder Zukunft mit und setze meinen spezifisch markierten Körper ein, um an Informationen zu kommen. Dabei bleiben soziologische und ethnografische Forschungen immer an der Festschreibung und Planbarmachung des Zusammenlebens beteiligt (vgl. Rabinow/Marcus/Faubion/Rees 2008; Binder 2009). Wenn ich mich für die Deutungen Anderer interessiere und sie einordne, ziehe ich wirkmächtige Kerben nach. Ich vertiefe die Kerben immer wieder, kann sie nur scheiternd dynamisieren. Zur Debatte um die Reproduktion machtvoller Prägungen in der Ethnografie vgl. z.B. Pelias 2007, Veissiere 2010, Massmünster 2014.
Zukunftswissen
Im ersten Gespräch vor Ort zeigte mir Rickli die Bücher, welche die Druckstelle herausbringt und erläuterte das Vorgehen. In seinen Ausführungen ordnete er das Verfahren auch immer wieder in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge ein und in die Situation im Quartier. Der Gestaltungsprozess hatte in all den von mir mit Kunstvermittelnden geführten Gesprächen keinen Selbstzweck. Es brauchte ein Mehr an Sinn: Für die Kunstvermittelnden und die Geldgebenden stehen die Projekte nicht für sich. Immer wieder wurden gesellschaftliche Relevanzen hervorgehoben. Mit den Praktiken war die Hoffnung verbunden, dass die Kinder ihre Gestaltungsmacht erfahren und entfalten können, dass sie kulturelles Kapital erlangen, sich Zugänge erwirken und Institutionen aneignen. Eine Hoffnung, welche die Legitimität solcher Projekte erst ausmacht. In dieser Verknüpfung von Gestalten und Legitimieren wurde für mich ersichtlich, wie im Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen Zukunft entsteht. Und wie dabei Wissenspraktiken einen zentralen Anteil haben.
Wie Zukünfte in der Art Education hervorgebracht werden, frage ich inspiriert durch die Ausführungen der Kulturanthropologin Silvy Chakkalakal. Chakkalakal (2019) untersuchte, wie in intervenierenden Bildungsprojekten Zukunft gestaltet, ausgehandelt und sinnlich erfahrbar wird. Sie versteht die untersuchten Bildungspraktiken als Interventionen in gesellschaftliche Ungleichheit, wie sie sich aktuell gemäss Arjun Appadurai (2013) besonders in der ungleichen Verteilung von Zukunftsperspektiven aktualisiere. Auch in der Art Education werden Zukünfte verhandelt: einerseits die Zukünfte der Teilnehmenden, welche die Werkstätten besuchen, in gestalterische Prozesse involviert werden und deren ungleiche Perspektiven im Sinne Appadurais verändert werden. Auch neu relationiert werden die Zukünfte der Kunstvermittelnden, die im Fortbestand oder in der Veränderung solcher Projekte liegen. Ausserdem werden die Zukünfte der gestalterischen Prozesse und der Projekte selbst ausgehandelt, etwa das Gestalten eines Quartetts, einer Ausstellung oder eines neuen Angebots. Es geht weiter um Zukünfte von Quartieren und oft auch darum, wie das gesellschaftliche Zusammenleben verbessert oder Ressourcen gespart werden können. In all diesen Referenzen wird eine veränderte Zukunft antizipiert.
Chakkalakal (2018) führt entsprechend aus, wie der moderne Bildungsbegriff seit dem 18. Jahrhundert mit ‚Gesellschaft verändern‘ und ‚Zukunft imaginieren‘ verknüpft ist. Heute tritt diese Verknüpfung von Bildung und Zukunft besonders in Debatten um Chancengleichheit, Teilhabe, Diversität und Nachhaltigkeit hervor. Chakkalakal betont, wie solche Zukunftsentwürfe immer in Verbindung mit spezifischen Machtkonstellationen und Ungleichheiten stehen: Zeitpraktiken bringen Vorstellungen, Bilder und Wissen von Zeit und Zukunft hervor. Dazu gehören auch Konzepte von linearer zeitlicher Entwicklung, Vorstellungen, dass ‚wir Geschichte haben‘ oder andere Zeitpolitiken. Während viel diskutiert wurde, dass Geschichtsschreibung die Gegenwart bedingt, wird dies bezüglich Zukunftswissen erst kürzlich vermehrt thematisiert (vgl. ebd.: 4-6).
In aktuellen Debatten der Art Education sind Referenzen auf Nachhaltigkeit In der Forschung Art Education an der ZHdK wird aktuell der Forschungsbereich Nachhaltigkeit in Praxisfeldern der Art Education entwickelt, der Teil dieses fachlichen Diskurses, dieser Produktion von Sinn und Legitimität ist. Ich bin im Rahmen der hier dargelegten Forschung in diese Zukunftskonstruktion in mehrfacher Weise involviert. sowie auf Ermächtigung und Teilhabe zentrale Zeitpraktiken. Als verdichtetes Zukunftswissen geben diese Begriffe den Praktiken Sinn und Legitimität – und sie konstruieren Zukunft, indem sie antizipatorische Prozesse und Fragen hervorbringen. Sie implizieren damit zeitpolitische Vorstellungen davon, dass es eine Entwicklung gibt, die vielfach als Fortschritt suggeriert wird oder in der sich Generationen im linearen Nacheinander aufeinander beziehen (vgl. Dümling 2020).
In solchen Aushandlungen von zukünftigem Zusammenleben geht es immer auch um Repräsentationen bzw. um die Herstellung von Figuren, die auf die Zukunft projiziert werden oder die sich gemäss den Bildungsnarrativen entwickeln sollen. Chakkalakal zeigt dies besonders an der Figur des Kindes auf: Kindheit als Konzept erwuchs in Wechselwirkung mit dem modernen Bildungsverständnis des erfahrungsbasierten Lernens im 18. Jahrhundert, der Idee der Gestaltbarkeit des Menschen und einem entsprechenden Zeitverständnis neu und ist seither zur pädagogischen Selbstverständlichkeit geronnen.
„Die Gestaltbarkeit des Kindes stand für die Gestaltbarkeit der zukünftigen bürgerlichen Gesellschaft. [...] Es ist zu einem unhinterfragten Wissen geworden: dass nämlich der Mensch ein bildungsfähiges Wesen ist. Überlegungen zu einer lebenswerten Zukunft, einem gerechteren und von Gleichheit geprägten Zusammenleben gründen nicht selten auf dem Konzept der Bildungsfähigkeit, das von einer Höher-Bildung, einer Kultivierung der gesamten Gesellschaft ausgeht.“ (Chakkalakal 2018: 8)
Das Kind wurde in der frühen Kulturanthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie die ‚fremde Kultur‘ nicht nur als das zu Entwickelnde, sondern immer wieder auch als jenes entworfen, von dem ein in Abgrenzung dazu konstituiertes ‚Wir‘ lernen soll, um zu einer besseren Zukunft zu gelangen. Bildung als Konzept ist auf solche Figuren angewiesen, „um überhaupt ihr transformierendes Potenzial sicht- und erfahrbar zu machen“ (Chakkalakal 2018: 9). Aktuelle Debatten um Partizipation, Teilhabe, wechselseitiges Lernen und Verlernen schliessen an dieses Bildungsverständnis an.
Die Zukünfte, die in kunstvermittlerischen Kontexten generiert werden, speisen sich aus Vergangenheiten: Sie knüpfen an Vorstellungen von langer historischer Dauer an, reproduzieren die in sie eingeschriebenen Ideen und projizieren sie auf das, was kommt. Kunstvermittelnde beziehen sich in der Begründung ihrer Tätigkeit auf historisch gewachsene Vorstellungen von sozialen Ordnungen, setzen sich kritisch mit den Wirklichkeiten, wie sie sie damit verstehen, auseinander und intervenieren in die so verstandenen Verhältnisse. Gerade die Deutung künstlerischer Strategien als explorativ, fragend und neue Formen suchend (vgl. Settele 2019; Huber/Zobl 2014) geht vielfach mit einem Verständnis einher, etwas aufzubrechen und zu verändern. Damit werden die künstlerisch-edukativen Praktiken legitimiert und sinnhaft. Mit diesen Vorstellungen künstlerischer und kritischer Auseinandersetzung wird in fachlichen Debatten ein transformierendes Potential sichtbar, noch mehr wird es aber, weil es unexplizit bleibt, mit den Praktiken der Gestaltung spürbar. Es verwirklicht sich dann als Stimmung.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Art Education beschreibt sich als eingreifende, gesellschaftsverändernde Praxis und erhält damit antizipatorischen Charakter, wie er in Bildungskontexten allgemein generiert wird. Um das Geschehen in den Projekten zu verstehen und zu legitimieren, werden in der fachlichen Debatte vielfach sozial- und erziehungswissenschaftliche Theorien verwendet. Diese Begriffe, Modelle und Theorien informieren die Kunstvermittelnden. Mit ihnen wird das Geschehen sinnhaft, Zusammenhänge erschliessen sich. Sie sind damit bei der Untersuchung der Herausbildung kunstvermittelnder Praktiken und deren Zukünfte nicht als Aussen zu betrachten. Solche Wissenspraktiken sind der Vermittlung nicht nachgeordnet, sondern für diese konstitutiv. Sie fliessen auch in Projektanträge und -konzepte ein. Diese Theoretisierung legitimiert, was geschieht. Nachhaltigkeit, Ermächtigung, Teilhabe und kritische Pädagogik schaffen als theoretische Konzepte, mit denen wir in unserer Weltdeutung Sinn erzeugen, mit denen wir argumentieren, Projekte und Politiken entwickeln, eine Gegenwart, in der entsprechende Praktiken sinnhaft sind. Sie sind für die Beteiligten am Fachdiskurs sinnstiftend, weil sie verändern, was kommt. Praxis, Forschung und Reflektion in Art Education produzieren mit diesen Wissensbezügen immer Wirklichkeiten und Zukunft mit. Sie ordnen ein, geben Sinn, historisieren und erzeugen damit wesentlich Zukunftsvorstellungen, verändern damit auch die Gegenwart.
Wenig überraschend wurde in jedem meiner Gespräche mit Kunstvermittelnden auf die veränderten Bedingungen durch Corona Bezug genommen. Diese gingen als zukunftsbildend in unsere Deutungen ein. Wie im Zitat von Rickli wurden diese Herausforderungen auch in anderen Gesprächen als Chancen verstanden, um sich neu zu formieren. In dieser Haltung des Neudenkens und Neuerfindens liegt eine weitere wesentliche Spezifik, wie Zukunft in diesen Gesprächen hergestellt wurde: Die Kunstvermittelnden nutzen das Unsichere und das Ungewisse. Während in vielen mir zuvor bekannten Studien Zukunftspraktiken und -wissen dafür kritisiert wurden, dass sie planend Herrschaftsverhältnisse stabilisieren (vgl. z.B. Binder 2009), grenzt Chakkalakal von solchen festschreibenden Zukunftspraktiken mit deutlich normativem Appell jene ab, die einen Möglichkeitsraum mit Explorationschancen eröffnen. Es wird mit Ricklis oben dargelegten Ausführungen zur Druckstelle bereits deutlich, dass mit der Offenheit für unterschiedliche Fähigkeiten und unerwartete Anliegen auch hier Zukünfte nicht streng festgeschrieben werden, sondern unterschiedliche Repräsentationen und Umgänge mit diesen Repräsentationen möglich und gefördert werden. Es werden hier „normativ-explorativ imaginäre Welten erschaffen [...]. Innerhalb dieser Welten wird neues Wissen in Relation zu alten Inhalten lernend hervorgebracht“ (Chakkalakal 2018: 14).
Zukunft bleibt aber, dies ist mir hier wichtig, auch in diesen offenen Explorationen normativ, gerade in Kombination mit Bildung und Kunst erhält sie appellativen Charakter. Auch die Bevorzugung von Offenheit und Unsicherheit, wie sie in der Fachdebatte sowie in den Selbstbeschreibungen der Vermittlungsprojekte anzutreffen ist, kann als normativ gelesen werden (vgl. Settele 2019). Die alten Inhalte, die historisch gewachsenen Vorstellungen werden also zwar mit neuem Wissen neu relationiert und damit neu bedingt. Sie tragen aber – und darauf will ich hier hinaus – dennoch eine gewisse Trägheit an Bedeutung mit in die jeweiligen Konstellationen, in denen sie wirken.
In besonderem Masse tritt das Normative hervor, wo kreative Prozesse mit ökologischen Haltungen verbunden werden wie im folgenden Zitat von Fabienne, einer weiteren Gesprächspartnerin.
„Im Kern geht es darum, dass man sich durch das gestalterische Machen bewusst wird, was Ressourcenschonung, was Kreislaufdenken bedeutet. Ja, welches Potential in so Materialien liegt, die vielleicht noch roh oder zuerst vermeintlich gar nicht mehr nutzbar sind. Ja, dass man über kreative Prozesse diese Haltung oder diese Werte vermittelt. Aber nicht mit dem Zeigefinger, sondern durch die Atmosphäre, die man schafft. Durch das Vorleben, auch durch die Ergebnisse und den Austausch, der dann stattfindet.“ (Fabienne, 21.4.2020) Namen von Gesprächspartner*innen, die in Projekten tätig sind, die für den Artikel keine argumentative Funktion einnehmen, wurden geändert.
Mit dem Bezug auf Ressourcenschonung wird hier die kunstvermittelnde Praxis an jene dystopische Zukunft geknüpft, in der durch Klimawandel und Umweltverschmutzung vieles anders ist. In den nachhaltigen, durch diese Assoziationen motivierten Praktiken wird diese mögliche und zu verhindernde Zukunft als solche evoziert. Dies ist für die Gegenwart äusserst einflussreich: Entsprechende Projekte und das Vermitteln eines nachhaltigen Bewusstseins werden durch die Projektion sinnhaft, dass hier ein anderer Weg lebbar ist. Die im Zitat erwähnten wiederverwendbaren Materialien werden zu entsprechenden Bedeutungsträgerinnen (vgl. Kuhn 2019), sie reifizieren im jeweiligen Kontext die zitierte Haltung. Über Begriffe wie Ressourcenschonung, Wiederverwendung und Nachhaltigkeit stellen Akteur*innen also eine politische und transformative Bedeutung ihres Tuns her.
Dass dieser Bezug auf Nachhaltigkeit vielfach als festschreibend kritisiert wird, habe ich bereits erwähnt. Gerade die Ideen von Knappheit und Ressourcenschonung sind dabei von Bedeutung: Der Kulturanthropologe Markus Tauschek (2015) weist darauf hin, dass die Idee knapper Ressourcen essentialistisch ist und diese Essentialisierung etwa in Modellen der Wirtschaftswissenschaften zur unhinterfragten Grundlage des Denkens wird (vgl. ebd. : 15). Dieser essentialisierende Ressourcenbegriff hält Einzug in viele Nachhaltigkeitsideen. So suggeriert der Wunsch, Ressourcen für künftige Generationen zu bewahren, dass Ressourcen und die damit zusammenhängenden Lebensweisen dieselben bleiben. Damit stabilisiert er jene Wirtschaftsweisen und Herrschaftsbeziehungen, mit denen die Herausforderungen entstanden sind, für die Nachhaltigkeit als Lösung propagiert wird. Das Ziel, Ressourcen für zukünftige Generationen zu bewahren und die Idee, dass dies dieselben Ressourcen seien, die wir für unsere heutigen, historisch spezifischen Praktiken brauchen, nehmen vorweg, wie künftige Generationen zu leben haben und suggerieren, dass heute eine spezifische Ressourcennutzung und damit zusammenhängende Lebensweisen zwingend seien (vgl. Brightman/Lewis 2017). Ressourcendenken ist vielfach undynamisch; dann bewirkt es eine unbewusste Festschreibung. Zugleich macht das Zitat von Fabienne deutlich, dass in dem kunstvermittelnden Projekt, um das es ihr geht, auch neuerfunden wird, was Ressourcen und was Müll sein kann. Es besteht hier also das Potential, alternative Nachhaltigkeits- und Ressourcenverständnisse zu finden.
Wenn also Drucke, Bücher und andere Dinge gestaltet werden, geschehen über das Wissen um deren gesellschaftlicher Relevanz Zukunftsverweise, die das Geschehen ermöglichen, stützen und legitimieren. Die dabei hergestellten und erfahrbaren Zukünfte bleiben dennoch diffus und ambivalent; sie schwingen mit, werden meist nicht als solche adressiert (vgl. Kuhn 2019: 224). Explizit werden lediglich eine gesellschaftliche Relevanz und allenfalls eine in Aussicht gestellte bessere Gesellschaft: Es geht um eine abstrakt bleibende chancengleichere, nachhaltigere, teilhabeorientiertere und damit demokratischere, gerechtere Gesellschaft. So diffus und mehrdeutig diese Zukünfte auch bleiben, so wirksam sind die Vorstellungen doch in der Gegenwart. Mit dem diffusen Zukunftsbezug entsteht eine Relevanz des Projekts, hinter der viele stehen können. Der offene, nicht eindeutige Zukunftsbezug macht den Sinn der Projekte mehrdeutig, wodurch unterschiedliche Bezüge darauf genommen werden können: Es muss keine eindeutige Bedeutung, kein Konsens bestehen, was das Projekt löst oder macht (vgl. Star/Griesemer 1989), da sind unterschiedliche, eben diffus bleibende Deutungen möglich: Sich als Geldgebende oder Kunstvermittelnde zu beteiligen, kann sinnhaft sein, ohne dass von allen Beteiligten derselbe Sinn gesehen wird. Dass die Zukünfte nicht festgeschrieben werden müssen, dass also zwar eine Zukunftsimagination stattfindet, diese aber keinen Konsens der Beteiligten verlangt und auch von diesen nicht bewusst festgeschrieben wird, sondern verschiedene, auch wechselnde unkonkrete Visionen zulässt, macht die Projekte erst zu Orten von Begegnung unterschiedlicher Deutungen und Aushandlung. Dies nicht nur unter verschiedenen Beteiligten, sondern auch innerhalb derselben Person, wie die Ausführungen bezüglich Dilemmas von Rickli zeigen. Zukünfte sind hier also nicht diffus, weil Zukunft per se diffus bleibt, sondern dieses Diffuse ist für die Zukunftskonstruktion in der Kunstvermittlung spezifisch: Es ist zentral für das Funktionieren dieser Art von Ermöglichung und Begegnung und ist in diesem Sinne für freiwillig-offene Bildungsangebote von funktionaler Bedeutung (vgl. Massmünster / Bezzola 2020).
Zukunftsmaterial
Der Baulärm von nebenan steigt mir in den Kopf. Ich lockere mein Halstuch, nachdem ich mein Fahrrad abgestellt habe. Kurz bleibe ich in der wärmenden Februarsonne stehen und gehe in Gedanken nochmals durch, was ich mit Rickli besprechen will. Ich betrete den Hof. Vorbei an verschiedenen Ateliers, Werkstätten und Kleinproduktionsstätten für Lebensmittel steige ich die aussenliegende Treppe hoch und folge oben dem Laubengang zurück Richtung Strasse. Beim Eintreten in die Druckstelle erblicke ich Rickli am grossen Tisch. Links von ihm, wo sich der Raum weiter öffnet, stehen die massive alte Druckwalze, der Bleisatz und die Boston Tiegel-Presse. Sie bannen meine Aufmerksamkeit; in meiner Wahrnehmung dominieren sie den Raum. Sie erinnern mich daran, wie dieses umgenutzte Gelände, die Arbeiterwohnungen nebenan und das Quartier einst anders belebt und bewirtschaftet wurden: Im Umfeld des Gaswerks, der Fabrikhallen und ihren logistischen Zulieferungs- und Lagerinfrastrukturen befanden sich die Wohnsiedlungen der Arbeiterschaft. Sie bieten auch heute relational günstigen Wohnraum am Rande der Stadt. Aktuell rückt das einst periphere Quartier durch Umnutzungen ehemaliger Industrieareale vermehrt ins Zentrum öffentlicher Debatten. Die Vergangenheit wirkt in den räumlichen Konstellationen des Quartiers, in seinem aktuellen Wandel und in den Begriffen nach, mit denen ich es beschreibe. Von der Werkstatt geht links eine Tür in ein kleineres Zimmer ab, dessen Wände mit diversen Zeichnungen bekritzelt sind. Über den Boden verteilt liegen zahlreiche Buntstifte. Ich will sie nehmen und an die Wände schreiben.
Als Rickli mich begrüsst, verschiebt sich meine Aufmerksamkeit auf ihn.
Da mein Gespräch mit Rickli das einzige blieb, das vor Ort stattfand, blieben solche Momente, in denen ich von der Räumlichkeit und der Materialität der Werkzeuge und Gestaltungsmittel ergriffen wurde, in den folgenden Monaten aus. Die ergreifende Inbezugsetzung von Raum, Material und Selbst wurde aber in den anderen Gesprächen ebenfalls zum Thema:
„Das ist das, was mich auch jedes Mal wieder in den Bann zieht, wenn ich hierher komme. Also man geht durch diesen Raum, ja man stoppt irgendwo und ist inspiriert von diesen Texturen oder Formen. Und das ist das, was einfach ein sehr guter Ausgangspunkt ist, um kreativ zu werden. [...] Ja, man ist mit dieser Thematik konfrontiert. Und wenn man durch den Raum läuft, sieht man halt, wie viel Material anfällt, das nachher nicht weiter verwendet würde. [...] Du bist einfach ständig mit dem konfrontiert, auch mit einer gesellschaftlichen Problematik.“ (Fabienne, 21.4.2020)
Die zwei sinnlichen Beschreibungen von Fabienne und mir machen die Wirkmacht der Materialien nachvollziehbar. Diese laden jene in gestalterisches Tun ein, welche die entsprechenden Assoziationen aufbringen. Bei dieser Auslegung der Materialien orientiere ich mich an einem Verständnis von Materialität, wie es in der Praxistheorie entwickelt wird: Das Material ist wirkungsvoll; wie es sich entfaltet, ist aber nicht unabhängig der Praktiken, die es relationieren und damit erst realisieren (Färber 2013). Materialität ist also wirkungsvoll, wird aber erst durch Praktiken wirklich, weil umgekehrt nur, was wirkt, wirklich sein kann. Erst Praktiken machen Materialien relevant. Materialität steht dann in der Art Education immer in Relation zu künstlerischen und pädagogischen Praktiken und zu einordnenden Wissenspraktiken, wie ich sie oben beschrieben habe. So zeigt sich in Fabiennes und meiner obigen Beschreibungen weiter, wie mit dem kreativen Umnutzen, Umdeuten und Neuerfinden der industriellen Räume, ihrer Maschinen und Infrastrukturen, ihres Abfalls sowie ihrer Ideen und Konzepte sich die explorativen Möglichkeitsräume öffnen. Die Räume, das Material und die Maschinen werden hier zu Bedeutungsträgern einer anderen Zukunft (vgl. Kuhn 2019; Grewe 2017: 179).
Die Wissenspraktiken wie die Bezugnahme auf Debatten um Nachhaltigkeit und Chancengleichheit sind wesentlich an dieser Aufladung der Dinge und Tätigkeiten beteiligt. Das Gestalten im Rahmen der künstlerischen Vermittlung wird mit Referenz auf Nachhaltigkeits- und andere Bildungsnarrative politisiert. Es wird in einen gesamtgesellschaftlichen Sinn eingeordnet, der über die Situation hinausweist. Mit dieser Einordnung werden die Materialien, aber auch das Tun vor Ort sinnhaft.
In der Umnutzung und der Umdeutung werden die Materialien auf ihre Geschichtlichkeit bezogen. Historisches Wissen wirkt dann sinnstiftend. Die eigene Praxis mit dem und Wahrnehmung vom gestalterischen Material geht denn vielfach mit einem Vergangenheitsbezug einher. Dies zeigt sich in der Bezeichnung „alte Druckwalze“ und in ihrer Positionierung ebenso wie in meiner Deutung des Raums als Umnutzung eines industriellen Geländes sowie in der Deutung des Materials als wiederverwendet. Zwei Gesprächspartnerinnen erläuterten auch, dass sie ein „altes Handwerk“ (Lena, 24.4.2020; Anna, 14.5.2020) wieder aktivieren, welches weniger auf Wegwerfen basiere. Der Vergangenheitsbezug schafft auch hier Zukunft.
„Zukunft ist dabei in Praktiken und Diskursen oft vergangenheitsgerichtet: Paradoxerweise ist es also gerade das ‚Revival‘ von als ‚historisch‘ markiertem Wissen, das zukunftsfähig macht.“ (Kuhn 2019: 229)
Es geht beim Bezug auf als tradierte Praktiken bewertetes Gestalten wie beim Bezug auf ‚fremde Kulturen’ darum, von einem anderen kulturellen Umgang mit Ressourcen für eine alternative, bessere Zukunft zu lernen. Die Grenzen zum nostalgischen Konservativismus sind dabei fliessend (Kuhn 2019: 230). Was in den kunstvermittelnden Projekten vielfach mit wiederverwendeten Materialien geschieht, lässt sich also auch in Bezug auf Praktiken behaupten: Die überkommene Form (altes Handwerk) wird umgedeutet und in neuen Relationen neu erfunden: Arbeitsweisen, die aufgrund ökonomischer Verschiebungen in der herkömmlichen Deutung nicht mehr lukrativ sind und bisher nicht mit gestalterischer Kreativität in Verbindung gebracht wurden, werden mit der Umdeutung zum „alten Handwerk“ zu einer künstlerischen Praxis transformiert, mit der sich eine bessere Zukunft durch ressourcenschonenderen Umgang imaginieren lässt.
Aus den durch Sinnverschiebungen überkommenen Formen (gestalterische Materialien, Infrastrukturen, Räume, Handwerk), die in einem ökonomischen Umfeld Sinn ergaben, das durch Krisen in Frage gestellt wurde, finden Kunstvermittler*innen Ressourcen für künstlerische Exploration neuer Lebens- und Gestaltungsweisen. So werden die Ruinen und der Abfall des Industriekapitalismus und anderer vergangener Wirtschaftsweisen durch dieses Neuerfinden zu Ressourcen für neue Möglichkeiten (vgl. Tsing 2015; Stoetzer 2018; Anand/Gupta/Appel 2018). Das Explorative des Neugestaltens der Gesellschaft hängt hier mit dem Neuerfinden des Materials und dem damit zusammenhängenden Wissen zusammen. Beim gestalterischen Umgang mit dem Material wird Zukunft dann spürbar, wenn in der Erfahrung Materialität und einordnendes Zukunftswissen zusammenfinden. Diese Haltung des Neuerfindens und das ihr innewohnende Zukunftsverständnis können als nachhaltig gelesen werden, weil sie nicht auf eine Richtung, auf eine Kategorie setzen, sondern Vieles zulassen und aus dieser Vielheit immer wieder Wege finden, um neue Richtungen einzuschlagen und Möglichkeiten zu eröffnen, wo sich die klassischen, hegemonial gewordenen Lebensformen als unnachhaltig erwiesen haben. Sie sind offen für das Unvorhersehbare und für plurale Lebensmöglichkeiten – und brauchen diese (vgl. Brightman/Lewis 2017).
Zukunftsperson
In der Begeisterung und im Engagement, mit denen mir Gesprächspartner*innen von Situationen berichteten, in denen im Gestalten mit unterschiedlichen Personen und Materialien Reibungen und Momente der Ungewissheit, der Aushandlung sowie ein Lernen daraus entstehen, wurde für mich ersichtlich: Nicht nur das Material und das Tun erhalten Sinn durch solche Einordnung, sondern auch die Person. Für Vermittler*innen wird das Gestalten und Vermitteln mit den entsprechenden Deutungen identitätsstiftend.
In dieser persönlichen Involvierung in ein Projekt ergibt sich denn auch eine Verknüpfung der eigenen Subjektivität mit dem Ort und mit dem Material des Gestaltens. Die eigene Zukunft wird auf diesen Ort, die anderen Personen und das projekthafte Gestalten bezogen; Möglichkeiten werden eingegrenzt, indem die eigene Zukunft auf diesen Raum und in die Auseinandersetzung mit dem gestalterischen Material projiziert wird. Dies gilt neben den Vermittelnden auch für die anderen Beteiligten wie die Teilnehmenden oder Geldgebenden. In der Gesamterfahrung der Beteiligten werden die künstlerischen Aspekte und die Erfahrung von Kollektivität nicht getrennt, sie scheinen sich eher gegenseitig zu steigern. Die anderen beteiligten Personen motivieren im Eventhaften dieser kollektiven Erlebnisse sich einzubringen (vgl. Jimenez/Estella 2013; Grewe 2017: 173). So wird die eigene Person auf die Materialien und Orte der Gestaltung sowie auf die anderen Personen bezogen. Die Person entwickelt sich im Gestaltungsprozess mit diesen.
In diesem kollektiven Prozess entsteht also eine Zukunft, die diffus bleibt. Diese Konstruktion von Zukunft beeinflusst wiederum die Selbstverortung der Personen im Jetzt. Mit der diffusen Zukunft entsteht jene Mehrdeutigkeit, welche die Projekte zu Orten von Begegnungen unterschiedlicher Deutungen und Aushandlung macht. Mit ihr stellen die Projekte und Angebote der Art Education eine breite Allgemeinverständlichkeit, Anschlussfähigkeit und Mehrdeutigkeit bereit, die viele verschiedene Zugänge und viele verschiedene Selbstverortungen in Relation zum Projekt erlauben: Viele fühlen sich betroffen, aber auf unterschiedliche Weisen. Für die unterschiedlichen Beteiligten bedeuten die Projekte und Angebote Verschiedenes. Es braucht keinen normativen und inhaltlichen Konsens. Die Angebote schaffen also eine gemeinsame Sinngebung nach aussen; müssen aber zugleich die Verständigung nach Innen sicherstellen. Sie sind Grenzobjekte (Star/Griesemer 1989: 398) und erschaffen als solche einen gemeinsamen Bezugspunkt verschiedener Welten (Massmünster/Bezzola 2020).
Die Vermittlungsleistung gründet nicht vorwiegend auf einer konkreten inhaltlichen Verständigung als vielmehr auf der Koordination konkreter und kollektiver Praktiken, die unterschiedlich gedeutet werden können. Sie sind damit stets in Bewegung, produzieren einen Raum der Ungewissheit, in dem ständig Neuaushandlungen stattfinden. Diese Unbestimmtheit herzustellen, ist ein zentrales Moment, in dem Orte der soziokulturellen Begegnung ihren Zweck erfüllen (Massmünster/Bezzola 2020: 18-19). So sind die Dilemmas in der Arbeit, wie sie Rickli darlegt, nicht eine Verhinderung der kunstvermittelnden Praxis, sondern ihre Folge und Bedingung.
Die Beteiligung am Projekt- und Prozesshaften ist also erstens vieldeutig und lässt damit Aushandlungen zu. Zweitens entwirft sich die teilnehmende Person in diesem Prozess spezifisch: Es findet eine Positionierung zum Ort statt, in der auch eine Zukunft liegt, in der sie ihr Selbst auf diesen Ort bezieht. Drittens hat diese Subjektivierung ermächtigende Wirkung und zugleich normierende: Perspektiven, Erwartungen und Erwartungserwartungen verschieben sich. Diese Verschiebung der eigenen Perspektiven verläuft entlang historisch gewachsener Vorstellungen. Die Subjektivierungen sind also trotz Bedeutungsoffenheit determiniert, indem sie sich an Vorstellungen ausrichten.
Für die Kunstvermittelnden, mit denen ich gesprochen habe, öffnen sich diese Positionierungen immer wieder: mit Veränderungen, mit denen sich ihre Angebote verschieben – etwa, wenn Rickli beschreibt, was die Coronamassnahmen für die Zukunft der Druckstelle bedeutet. In diesen Veränderungen erfinden die Vermittelnden ihr Selbst, ihren Beruf, die Materialien, mit denen sie arbeiten, und die imaginierten Zukünfte immer wieder neu. Die Kunstvermittelnden sind dieses Neuerfinden gewohnt: Einerseits sind sie geübt darin, Fehler nicht als Fehler zu bewerten, sondern als Momente der Perspektivenverschiebung. Andererseits verorten sie sich in Prozessen, nicht in Zuständen. Drittens vertreten sie die Haltung, dass Bildung nicht einseitig ist und sie sich selbst in Lernprozessen befinden, die sich aus den Dilemmas und Aushandlungsmomenten speisen, sodass sie immer dazulernen wollen und sollen. Die Kunstvermittelnden formieren ihre Subjektivität anhand des Bildes eines formbaren Menschen.
Zukunftsverständnis
Indem ich mich auf das Wissen und die Vorstellungen eingelassen habe, welche die Praktiken der Kunstvermittelnden informieren (durch einen Fachdiskurs), und indem ich dieses Wissen nicht als Aussen der Art Education, sondern als Teil davon verstanden habe, verstehe ich dieses Wissen prozesshaft als Wissenspraktiken. Damit konnte ich Wissen mit Materialität, die mit Praktiken spezifisch wirklich wird, zusammendenken. So wird für mich verstehbar, wie sich Wissen, Materialität (mit ihrer räumlichen Anordnung), Person und Zukünfte wechselseitig bedingen und verändern. Sie als relationales Geflecht (vgl. Massmünster 2017) zu verstehen, schlage ich hier vor, um sowohl die Forschung als auch die Praxis Art Education in der Konstellation an Neuerfindung und historisch gewachsenen Konzepten zu verorten.
Zukunftsforschung ist involvierte Forschung, sie ist selbst antizipatorisch, beteiligt und intervenierend (Chakkalakal 2019: 77). Ich habe oben die künstlerischen und pädagogischen Zukunftsverständnisse, die Möglichkeiten eröffnen, und die einschränkenden Zukunftsimaginationen, die mit einem universellen Nachhaltigkeitsverständnis zusammenhängen, einander gegenübergestellt. In den Künsten, aber auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften erfolgt denn auch eine kritische Abgrenzung von einem universellen Nachhaltigkeitsbegriff: Hier ist es weit verbreitet, die Widersprüchlichkeit und damit auch die machtvollen Missbräuche des Nachhaltigkeitskonzepts zu kritisieren. Wie Marc Brightman und Jerome Lewis aus einer Perspektive der Anthropology of Sustainability feststellen, entstehen trotz all dieser Kritik wenig Versuche, den Nachhaltigkeitsbegriff auch anders zu besetzen (Brightman/Lewis 2017: 1), ihn also neu zu erfinden. Welche Zukunfts- und Nachhaltigkeitsverständnisse lassen sich also aus den obigen Überlegungen sinnvoll diskutieren, um Nachhaltigkeit nicht in seiner historisch gewachsenen universellen Bedeutung in den Fachdiskurs zu übernehmen, sondern sie im Sinne der öffnenden Zukunftspraktiken zu verstehen?
Brightman und Lewis schlagen einen Nachhaltgkeitsbegriff vor, der Dichotomien zwischen Natur und Kultur sowie die damit einhergehenden Essentialisierungen in Frage stellt. Wenn sie ein solches Nachhaltigkeitsverständnis ausführen, erinnert dies an die Zukunftspraktiken, wie sie meine Gesprächspartnerinnen beschrieben haben:
„This challenges common assumptions that sustainability is in any obvious way about remaining in ecological balance with ‘nature’, or based on ensuring future predictability. For the meaning of sustainability to become clear, it must embrace the uncertain and the unusual. As Hastrup points out, this rescales the discussion of sustainability to incorporate absent and unknown resources into possible futures.“ (Brightman/Lewis 2017: 12)
Das Rechnen mit dem Unsicheren und Ungewöhnlichen stellt jedes Nachhaltigkeitsverständnis in Frage, das von vorhersehbarer Zukunft in einem fixierten Raum mit bleibenden Formen politischer und wirtschaftlicher Beziehungen ausgeht. Es grenzt sich ab von einer Idee von Nachhaltigkeit, die in einheitlichen Lebensweisen und Entwicklungszielen denkt, und wo die Idee begrenzter Ressourcen essentialisiert wird, als ob alle zukünftigen Gesellschaften dieselben Ressourcen brauchen würden. Stattdessen wird hier als nachhaltig erachtet, wo Umgestaltung vorgesehen und Pluralität erwartet wird, um mit unvorhersehbaren Zukünften zurechtzukommen. Das anthropologische Nachhaltigkeitsverständnis basiert auf den Beobachtungen, wie vielfältig Menschen mit Umweltherausforderungen und Verfügbarkeiten umgehen und sich fragen, was daraus gelernt werden kann. (Brightman/Lewis 2017) Diese Haltung finde ich im kunstvermittlerischen Interesse für Neuerfindungen wieder, wenn als überkommen verstandene Handwerksweisen, Maschinen und Materialien umgedeutet und neugedacht werden. Die Ruinen aus der Perspektive der einen Lebensweise werden in diesem Vollzug zu Ressourcen einer anderen. Die Möglichkeiten, Materialien vielfältig einzusetzen, finden sich in der Offenheit meiner Gesprächspartner*innen für unterschiedliche Fähigkeiten, unerwartete Anliegen und vielfältige Umgangsweisen mit den gestalterischen Materialien durch die unterschiedlich sozialisierten Beteiligten mit ihren verschiedenen Anliegen und Interessen wieder. Eine Idee von Nachhaltigkeit wird dann greifbar, die danach fragt, wie Zukunft lebenswert gestaltet werden kann, nicht indem sie geplant und festgeschrieben wird, um jene Verhältnisse zu bewahren, die zu diesen Fragen geführt haben, sondern als ein Prozess, der auf das Unvorhersehbare vorbereitet und hierfür Vielfalt braucht, um von ihr zu lernen, wenn dominante Lebensformen sich als unnachhaltig erweisen.
Das von mir oben vorgeschlagene relationale Geflecht, in dem sich Zukunft wechselseitig mit Wissen, Material und Person bedingt, kann in der Forschung und Praxis der Art Education nutzbar gemacht werden, um die Relationen von langer historischer Dauer sichtbar zu machen und sich als Akteur*in in der Ko-Produktion von Zukunft, Wissen, Person und Material zu verorten. Dies erlaubt, die Prozesshaftigkeit der beteiligten Einheiten und deren Werden sowie die eigene Involvierung in dieses Werden zu verstehen und zu beschreiben. Es erlaubt auch, die Art Education in Praktiken und Imaginationen bewusst neu zu erfinden, wo nicht gewollte Festschreibungen erkannt werden. Dieses Modell ist dynamischer als andere Modelle, mit denen Forschende Gruppen und Handwerk ethnografierend gegenübergetreten sind, um sie festzuschreiben. Zum Entwurf einer sich von Festschreibungen abgrenzenden post-ethnografischen Forschung vgl. z. B. Rabinow et al 2008. Aber es bleibt wie jedes Konzept festschreibend und folglich hoffentlich von Neuerfindungen beansprucht. Deshalb habe ich seine Entwicklung in meinem Vorgehen dargelegt: Diesen Prozess mitzulesen motiviert hoffentlich zum Mit- und Weiterdenken sowie Neuerfinden solcher Verständnisse nachhaltiger gestalterischer Zukünfte.
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