Baukulturelle Bildung für junge Menschen. Wie Architekt*innen und Stadtplaner*innen das Kulturerbe als Lernressource einsetzen
Abstract:
Baukulturelle Bildung nutzt die von Menschen geschaffenen materiellen Objekte unserer gebauten Umwelt (z.B. Gebäude, Brücken, Denkmäler), um damit Lernprozesse für Kinder zu bereichern. Gerade Denkmäler als Bestandteile unserer materiellen Kultur eignen sich als Schwerpunkt baukultureller Bildung. Als Lerngegenstand findet das Kulturerbe Verwendung in der Sozialkunde, der Kulturgeografie, der (Kunst-) Geschichte und im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. Obwohl Architekt*innen Denkmäler als Lerngegenstand der baukulturellen Bildung nutzen, zeigt ein Blick in die Forschungsliteratur, dass die Konturen des Feldes schwer zu fassen sind. Der vorliegende Beitrag widmet sich daher der Projektreihe „Lost Traces..., ein Kulturerbe-Projekt für bayerische Schüler*innen“, das im Jahr 2018 im Rahmen des europäischen Kulturerbejahres realisiert wurde. In 23 Einzelprojekten hatten Jugendliche die Möglichkeit, mit historischen Überresten, archäologischen Spuren sowie mit verlassenen Gebäuden und Bauwerken im Kontext kreativen räumlichen Erlebens zu interagieren. So konnten sie diese lost places (wieder-) entdecken und ins öffentliche Bewusstsein zurückholen, um die Relikte der Vergangenheit in eine gemeinsame europäische Zukunft zu transformieren. Um kritisch zu beleuchten, wie Architekt*innen und Stadtplaner*innen als Akteur*innen der baukulturellen Bildung die Denkmäler als Lerngegenstand nutzen, bedarf es eines erweiterten Diskurses – eine Debatte darüber, inwiefern das Kulturerbe und die begleitenden baukulturellen Bildungsanstrengungen als kulturelle Konstrukte einem ständigen Wandel unterworfen sind, aber auch über die Rolle der Stadtplaner*innen als Vermittler*innen und über die Qualität von Design- und Planungstools als Lehrmittel.

Einleitung

Baukulturelle Bildung – im Englischen built environment education oder architecture education – befasst sich mit Siedlungen, Gebäuden und Denkmälern sowohl in ihrer Funktion an sich als auch als Lernumgebung und als Lerngegenstand (Heinrich/Million 2016). Dies umfasst Aktivitäten und Praktiken, die sich auf kultur-, kunst-, demokratie- und umweltpädagogische Ansätze beziehen und immer die gebaute Umwelt betreffen. Baukulturelle Bildung zielt darauf ab, das kritische Denken der Schüler*innen in Bezug auf räumliche Wahrnehmung und die gebaute Umwelt zu fördern, den Sinn für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt zu schärfen, das Wissen über partizipative und demokratische Prozesse zu erweitern und nicht zuletzt die Schüler*innen für die Wechselbeziehungen zwischen Menschen und ihren vielfältigen Umwelten – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und an unterschiedlichen Orten der Erde – zu sensibilisieren (Graves 1990: 2). Als Facetten unserer materiellen Kultur können Denkmäler als Kristallisationspunkte der baukulturellen Bildung dienen. Das Kulturerbe erweitert die Möglichkeiten schulischer Lehrpläne und schafft Raum für interdisziplinäre Aktivitäten, indem es abstrakten Schulbuchstoff in „greifbare Wirklichkeiten und faszinierende Geschichten aus der Alltagswelt“ (Hunter 1993: 2) verwandelt. Zugleich hilft dieses Erbe den Schüler*innen, einen Sinn für lokale Geschichte und Kultur sowie für die Relevanz von Denkmalpflege zu entwickeln. Auf internationaler Ebene lassen sich verschiedene Bildungsprojekte finden, die Denkmäler als Lerngegenstand in die baukulturelle Bildung einbeziehen. Wichtige Impulse gehen vom English Heritage (Bradley/ Bradley/Coombes/Bradley/Tranos 2011) im Vereinigten Königreich, dem Programm Baukultur aktiv in der  Schweiz, dem Programm Denkmal aktiv – Kulturerbe macht Schule in Deutschland und dem 2016 initiierten Programm Teaching with Historic Places in den USA aus.

Der vorliegende Beitrag thematisiert anhand des Projektes Lost Traces die Bildungsarbeit von Architekt*innen und Stadtplaner*innen. Dabei wird insbesondere gefragt, inwiefern das Kulturerbe als Lernressource in der baukulturellen Bildung Verwendung findet. Darüber hinaus werden Themenfelder identifiziert, die zukünftige Debatten in diesem Bereich anstossen können.

Forschungsüberblick

Die in der aktuellen Literatur thematisierten Inhalte lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste Kategorie bilden Positionspapiere und Absichtserklärungen. Auf europäischer Ebene finden die Themen des Lehrens mit Baukultur und Denkmäler als ein Aspekt von Baukultur ihren Niederschlag in der Faro-Konvention des Europarates (2005) und in der Erklärung von Davos (2018). In letzterer heisst es: „Baukultur umfasst die Summe der menschlichen Tätigkeiten, welche die gebaute Umwelt verändern“ (Bundesamt für Kultur 2018: 17). Dies umfasst alle Aspekte der gebauten Umwelt sowie deren Bezüge zur natürlichen Umwelt, schliesst also auch Planungs- und Gestaltungsprozesse, Landschaften, Städte, Dörfer, Infrastrukturen, Gebäude, Denkmäler und andere Elemente des Kulturerbes mit ein (ebd.). In der  Erklärung von Davos wird weiter betont: Die gebaute Umwelt müsse „dringend in einem ganzheitlichen, auf die Kultur ausgerichteten Ansatz betrachtet werden, und es braucht eine humanistische Vision, wie wir die Orte, in denen wir leben, und das Vermächtnis, das wir hinterlassen, gemeinsam gestalten“ (ebd.). In ähnlicher Weise zielte der Europarat mit seiner Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft (2005), der sogenannten Faro-Konvention, darauf ab, den Zugang zum Kulturerbe und die Teilhabe daran zu erweitern. Die Faro-Konvention betont, dass das Kulturerbe als eine Reihe von Ressourcen in gebauter Form zu verstehen ist, die aus der Vergangenheit ererbt wurden und „die die Menschen unabhängig von der Zuordnung der Eigentümerschaft als Widerspiegelung und Ausdruck ihrer sich beständig weiter entwickelnden Werte, ihrer Überzeugungen, ihres Wissens und ihrer Traditionen erkennen“ (Council of Europe: Art. 2). Diese politischen Initiativen betonen die Bedeutung von aktivem Engagement und Bürgerbeteiligung im Kontext raumbezogener Entscheidungsprozesse sowie das Wissen über die Entstehung und die Wirkung raumbezogener Aspekte. Die gebaute Umwelt soll als zentrales Bildungsthema, und zwar mit Zielgruppen auf allen denkbaren Bildungsebenen verankert werden (Council of Europe: Art. 13; Bundesamt für Kultur 2018: 19), was bis dahin selten der Fall war.

Die zweite Gruppe von Quellen und Literatur zeigt, dass Denkmäler Wissen über lokales kulturelles Erbe vermitteln können, sowohl im Kontext von history und heritage (Moreeng 2014) – also von Geschichte und dem Umgang damit – als auch im Kontext von Sozialkunde und politischer Bildung (Hunter 1993) sowie nachhaltiger Entwicklung (Schmidt-Breitung/Michels 2018). Die empirischen Befunde legen nahe, kulturelles Erbe als Thema in die Lehrpläne aufzunehmen. So gaben 58 Prozent der befragten Jugendliche in einer Studie von David Bradley und Kolleg*innen (2011) an, dass sie mindestens eines der historischen Gebäude in ihrer Umgebung als markant und für sie persönlich bedeutend ansahen. Moreeng (2014) fordert jedoch eine Neukonzeption des Schulunterrichts zum kulturellen Erbe, die einen kritischen Ansatz ermöglicht und die Schüler*innen zu einem tieferen Verständnis des Kulturerbes führt. Im Forschungsdiskurs wird bislang kaum zwischen der Bildungsarbeit von Architekt*innen und der von Stadtplaner*innen unterschieden. Marta Brković Dodig (2018) erwähnte die Rolle von Architekt*innen im Zusammenhang mit baukultureller Bildung zu historischen Gebäuden im Museumskontext. Irene Plein (2009) forschte zu denkmalpädagogischen Projekten an deutschen Schulen, an denen sowohl Architekt*innen als auch Stadtplaner*innen beteiligt waren. Anna Juliane Heinrich und Angela Million (2016) untersuchten die Beteiligung von jungen Menschen an Projekten der Quartier- und Nachbarschaftsentwicklung, bei denen auch die (Um-)Nutzung von Kulturerbe eine Rolle spielte.

Die dritte Gruppe der Literatur besteht aus Leitfäden für das Lehren und Lernen mit Denkmälern (Baukultur aktiv https://www.kultur.bkd.be.ch/de/start/themen/denkmalpflege/denkmalpflege-und-schule/baukultur-aktiv-unterrichtsmaterialien.html [19.11.2024].; Denkmal aktiv https://denkmal-aktiv.de/materialien/materialien-denkmal-aktiv/ [19.11.2024].; Schmidt-Breitung/Michels 2018). Ein Blick in diese Schriften zeigt, dass Architekt*innen als Urheber*innen und Koordinator*innen von Programmen der baukulturellen Bildung auf jeden Fall eine Rolle spielen. Zugleich lässt sich festhalten, dass ihr Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte bislang überschaubar ist. Architekt*innen und Stadtplaner*innen finden selten die Zeit, ihre Praxis als Bildungsakteur*innen analytisch-theoretisch zu reflektieren. Es mangelt daher an konstruktiver Kritik, an Wissensaustausch und an Empirie. Der vorliegende Beitrag versucht, diese Lücke ein Stück weit zu schliessen.

Ziele und Methoden

Dieser Beitrag verfolgt drei Ziele: In einem ersten Schritt wird das noch recht junge Forschungsfeld durch einen Forschungsüberblick skizziert, um die Tätigkeit von Architekt*innen und Stadtplaner*innen, die bereits vermittelnd das kulturelle Erbe als Ressource in der baukulturellen Bildung einbeziehen, zu kontextualisieren. In einem zweiten Schritt liefert eine aussagekräftige Fallstudie das Material für eine kritische Analyse. Im letzten Schritt gilt es, auf der Basis von vorhandener Theorie und Literatur – gespeist aus Architektur, Pädagogik und Bildungsarbeit – grundlegende Fragestellungen zu entwickeln, die im besten Fall die zukünftige Debatte anregen können.

Unser Vorgehen basiert auf einem qualitativen und induktiven Ansatz, um die tieferen Bedeutungsschichten hinter der menschlichen Erfahrung zu erkunden und um „die Welt vom Standpunkt der Menschen zu erfassen“ (Hammersley 1992: 165) – das heisst: aus der Sicht der an den Projekten beteiligten Architekt*innen und Stadtplaner*innen in ihrer Funktion als Lehrpersonen. Auf diese Weise soll ein „tieferes Verständnis sozialer Phänomene“ (Silverman 2008: 8) generiert werden, in diesem Fall der Nutzung von Denkmälern als Lernressource der baukulturellen Bildung. Die Einbeziehung einer Fallstudie bot die Möglichkeit, ein vielschichtiges Bild dieses Phänomens in einem spezifischen Kontext zu entwerfen (Yin 2008). Generell bieten Fallstudien insofern Flexibilität, als sie bereits in der Erhebungsphase Erkenntnisse liefern, Kontext herstellen und zur Bildung von Hypothesen führen, deren Gültigkeit später überprüft werden kann. Die Fallstudie zum Lost Traces-Projekt folgt einem deskriptiven Ansatz (illustrative case-study), um die bislang kaum erforschte Tätigkeit von Architekt*innen und Stadtplaner*innen als Akteur*innen in der Bildungsarbeit zu beleuchten. Deskriptive Fallstudien sind hilfreich, wenn es um die Beschreibung der Situation geht und Fremddaten einbezogen werden sollen, so dass eine gemeinsame Sprache zwischen Autor*innen und Leser*innen mit unterschiedlichen Hintergründen entstehen kann (Davey 1990). Die qualitative Interviewmethode in Form einer Fokusgruppendiskussion wurde gewählt, weil sie es uns ermöglicht, „eine Gruppe von Individuen zu versammeln, um ein spezifisches Thema zu diskutieren, wobei die komplexen persönlichen Erfahrungen, Überzeugungen, Wahrnehmungen und Haltungen der Teilnehmenden angezapft werden“ (Nyumba/Wilson/Derrick/Mukherjee 2018: 21). Fünf Architekt*innen und Stadtplaner*innen, die auf diesem Gebiet forschen und arbeiten, darunter auch die drei Autorinnen dieses Beitrags, haben drei Workshops durchgeführt. Der erste Workshop diente der Sichtung der verfügbaren Forschungsergebnisse; der zweite der intensiven Diskussion des Lost Traces-Projekts. Von beiden Veranstaltungen entstanden Audioaufnahmen, welche anschliessend transkribiert wurden. Für die Auswertung der Transkripte wurde wiederum die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) angewandt. Die Erstautorin und die Zweitautorin haben die Transkripte kodiert, um inhaltliche Kategorien zu identifizieren, die wiederholt angesprochen wurden. Mittels Feedbackschleifen wurden die Kategorien mehrfach überprüft und schliesslich auf die Wesentlichen reduziert. Ein dritter Workshop ermöglichte es allen Teilnehmenden, einen Konsens zu erarbeiten und die Themen für die weitere Diskussion festzulegen. Die Auswertung der Daten erfolgte unter Einbezug von theoretischen Modellen und Literatur aus den Bereichen Architektur, Pädagogik und Bildung. Dieser Prozess führte schliesslich zur Entwicklung einer Reihe von Kernaussagen, die für die Tätigkeit von Architekt*innen und Stadtplaner*innen als Lehrpersonen in der baukulturellen Bildung wesentlich sein könnten.

Die Fallstudie

Das Lost Traces-Projekt wurde im Rahmen einer deskriptiven Fallstudie ausgewählt. Da eine solche Studie nicht darauf abzielt, Rückschlüsse von der untersuchten Gruppe auf die Gesamtbevölkerung zu ziehen, konnte ein nicht-probabilistisches, willkürliches Stichprobenverfahren angewendet werden. Dies bot sich an, um im Rahmen einer kleinen Pilotstudie eine erste Hypothese zu generieren, die dann weiter getestet, diskutiert und verfeinert werden konnte. Das Projekt wurde im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres 2018 von der Landesarbeitsgemeinschaft Architektur und Schule Bayern e.V. entwickelt und hatte zum Ziel, junge Menschen zur aktiven Auseinandersetzung mit baulichen Zeugnissen der Vergangenheit als Spuren eines europäischen Kulturerbes zu ermutigen. Durch eine Reihe von didaktischen und künstlerischen Aktivitäten sollten die Schüler*innen diese Relikte in Komponenten einer gemeinsamen europäischen Zukunft transformieren. (Die Ausrichtung auf die Zukunft ist womöglich der grösste Unterschied zur Art und Weise, wie Historiker*innen und Denkmalpfleger*innen Denkmäler in der Bildung einsetzen.) Alle Lost Traces-Einzelprojekte haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Kulturerbe mit seinem Kontext in Verbindung zu bringen. Alle Projekte nutzten in der Landschaft verteilte Ruinen, verborgene archäologische Spuren, Stadtbrachen sowie leerstehende Häuser und Bauwerke, die etwas über Europas Kulturerbe aussagen. Es ging um „Orte, die in Vergessenheit geraten sind, deren Abriss, Umnutzung oder Entwicklung gerade öffentlich diskutiert wird“ (Landesarbeitsgemeinschaft Architektur und Schule o.J.: 6). Auch regional bedeutsame Gebäude, die noch nicht offiziell unter Denkmalschutz stehen, wurden in die Projekte einbezogen.  Das Projekt Lost Traces bestand aus 23 Einzelprojekten, die in erster Linie an bayerischen Sekundarschulen und Gymnasien (Alter der Teilnehmenden: 10 bis 18 Jahre) stattfanden und von Kooperationspartner*innen vor Ort unterstützt wurden. Die Lehrkräfte arbeiteten mit Fachpersonen aus den Bereichen Denkmalpflege, Archäologie, Stadtplanung und Architektur sowie mit Kulturschaffenden zusammen, um den Unterricht mit Themen zu Denkmalpflege und Kulturerbe zu verknüpfen. Die Projekte wurden in den Schuljahren 2017/18 und 2018/19 durchgeführt und dauerten von wenigen Tagen bis zu einem ganzen Schuljahr. Die Autorinnen dieses Beitrags nahmen selber an mehreren Workshops teil und konnten so aus erster Hand erfahren, wie der denkmalbezogene Unterricht innerhalb der einzelnen Projekte umgesetzt wurde.

Die Lost Traces-Projekte waren auf ein selbstbestimmtes und praxisorientiertes Lernen ausgerichtet. Jedes Projekt begann mit der Erkundung des jeweiligen Ortes. Es wurden Foto- und Videodokumentationen erstellt, Literatur konsultiert und Anwohnende befragt. So konnten die Orte persönlich und gemeinsam erfahren werden. Zeichnungen, Fotografien, Collagen, Kartenmaterial und 3D-Modelle halfen den Schüler*innen, ihr Nachdenken über den Ort zu vertiefen, und dienten ausserdem dazu, individuelle bzw. Gruppenempfindungen und Ideen zu präsentieren. Anschliessend recherchierten die Jugendlichen in Archiven, analysierten Karten und entwickelten eigene Fragestellungen, um das volle Potenzial des betreffenden Ortes als Stätte des kulturellen Erbes zu erfassen. In der letzten Phase ihres jeweiligen Projekts waren die Schüler*innen dazu angehalten, neue räumlich-bauliche Eigenschaften und somit neue Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten für die Stätten zu finden. Die Schüler*innen entwickelten ihre Ideen und Vorschläge durch kreative Eingriffe in den Raum, durch bühnenbildnerische Bearbeitungen, Street Art, Lichtinstallationen, Führungen, Ausstellungen, Konzerte oder Interventionen wie gemeinsame Mahlzeiten. Auf diese Weise setzten sich die Jugendlichen aktiv mit der jeweiligen Stätte, ihrer Geschichte und Potential auseinander, entdeckten sie neu, erhöhten ihren Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit, regten Diskussionen an, erprobten neue Nutzungen und gaben Anregungen für zukünftige Entwicklungen.

Diskussion

Im Rahmen der Gruppendiskussion einigten sich die Expert*innen darauf, dass die folgenden vier Themenkomplexe als Einladung, Anstoss und Anregung für zukünftige Debatten dienen sollten:

1) Die besonderen Merkmale der gebauten Umwelt sollten als Lernressource stets im Kontext ihrer kulturellen Konstruktion betrachtet werden, die einem stetigen Wandel unterliegt. Das Raumverständnis von Architekt*innen und Stadtplaner*innen – und damit auch ihre Perspektive auf Denkmäler als Lehr- und Lernobjekte – wird massgeblich durch soziologische und architekturtheoretische Werke geprägt, die traditionelle Raumvorstellungen kritisch hinterfragen. Hier spielt insbesondere das Werk des französischen Soziologen Henri Lefebvre eine Rolle, der die These aufstellte, dass Raum durch soziale Tätigkeit erzeugt wird und als dynamisches Konstrukt zu betrachten ist, das sich aus der Physis des Ortes sowie aus Akteur*innen und Aktivitäten zusammensetzt, die sich ständig gegenseitig verändern. Die Vermittlungspraxis von Architekt*innen und Stadtplaner*innen dockt damit an kritische Einwände an, die aus der Erziehungswissenschaft und den Cultural Heritage Studies zu vernehmen sind. Diesen zufolge darf das Kulturerbe nicht als blosse Datensammlung und unter der Standardprämisse gelesen werden, dass Geschichte lediglich die Summe von Informationen über die Vergangenheit sei – ohne kontextuelle Verankerung in der Gegenwart (Moreeng 2014). Schüler*innen sollten die Gelegenheit haben, „die Verkörperung eines kollektiven Gedächtnisses durch die Schaffung ihres eigenen Denkmals“ neu auszuhandeln (Uhrmacher/Tinkler 2007, 11). Der Schwerpunkt sollte also auf der spielerischen Interpretation und Aneignung des kulturellen Erbes liegen. Im Rahmen des Lost Traces-Projekts Raumlabor Spitalkirche erkundeten unterschiedliche Generationen – Schüler*innen und Lehrpersonen, Eltern, Grosseltern, Anwohnende – die Geschichte der örtlichen Kirche auf der Grundlage persönlicher Familiengeschichten und handelten temporäre zukünftige Nutzungen aus. Während eine Gruppe am Ende einen grossen Kronleuchter als architektonische Installation einbaute, drehte die zweite Gruppe einen Virtual-Reality-Film, der eine virtuelle Erkundung des Kirchenraums ermöglichte. Ausgehend von der Prämisse, dass Raum kein starres Konstrukt ist, luden die beteiligten Architekt*innen und Stadtplaner*innen als Vermittler*innen die Schüler*innen dazu ein, in eine persönliche, kritische und kreative dialektische Beziehung zu treten und sich auf die Sichtweisen anderer einzulassen, um die gegenwärtigen Denkmäler zu erkunden und sie sich im Modus der Transformation anzueignen.

2) Wissen und Raum sind kulturelle Konstrukte, die im ständigen Wandel begriffen sind. Architekt*innen legten in ihrer Funktion als Vermittler*innen daher mehr Wert auf die Qualität und Reichhaltigkeit der pädagogischen Erfahrung. Das Lernen war nicht ergebnisorientiert und nicht auf Notenvergabe ausgerichtet. Die Aufgabe bestand nicht darin, etwas Vorzeigbares zu produzieren – einen Aufsatz, eine Fotomappe, eine Präsentation oder ähnliches –, das später mit einer Schulnote bewertet werden könnte (wie es in der Schule oft der Fall ist). Stattdessen lag der Fokus auf schrittweisen Lernzyklen, bei denen ein Zwischenschritt zwar in Form eines Aufsatzes, eines Fotos oder einer Präsentation erfolgen konnte, aber nur, um Erkenntnisse für den nächsten Schritt, für die nächste Phase des Projekts zu liefern – und so ein didaktisches Kontinuum zu schaffen.  Ziel war es, die eigene individuelle Lernerfahrung und Durchdringung des Themas für anderen greifbar zu machen. Um die verlorenen Spuren – lost traces – auf unterschiedliche Weise zu erkunden und zu analysieren, verknüpften die Schüler*innen Collagen und Kartenanalysen mit Fotodokumentationen und Archivrecherchen. Die gesammelten historischen Informationen wurden mit den persönlichen Eindrücken des jeweiligen Denkmals verknüpft. Der pädagogische Wert einer solchen Lernerfahrung liegt in der performativen Wechselbeziehung zwischen Schüler*in und Denkmal. Unterricht, der sich räumlicher Besonderheiten bedient, definiert Pädagogik nicht als „lehrplanfixiertes Handwerk, dessen Ziel der Transfer von Wissen ist, sondern als Bereitstellung von Bedingungen, die die Bewegung von und zu Wissen(-skörpern) (bodies of knowledge) möglich machen“ (Lee 2008: 194). Elizabeth Ellsworth (2005) stellt die These auf, dass es bei der Einbeziehung der Kategorie Raum in die Pädagogik darum geht, das Innen (Gedanken, Erinnerungen, Wissens- und Existenzweisen, Ängste und Sehnsüchte) und das Aussen (die Anderen, Ereignisse, Geschichte, Kultur und gesellschaftlich erzeugte Vorstellungen) miteinander in Beziehung zu setzen: „Architektur wird pädagogisch, Pädagogik wird zu Architektur, wenn sie gemeinsam einen beweglichen Dreh- und Angelpunkt schaffen, der Innen und Aussen, das Selbst und das Andere, das Persönliche und das Soziale zueinander in eine [...] sich gegenseitig transformierende Beziehung setzt”. (Ellsworth 2005: 38/41)

3) Als Lehrende arbeiten Architekt*innen und Stadtplaner*innen als educative planners Dieser Begriff lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen und wird daher in der Originalsprache belassen. Gemeint sind damit Architekt*innen und Planer*innen, die als Lehrende in der baukulturellen Bildungs- und Vermittlungsarbeit tätig sind.. Sie schlüpfen in die Rolle eines „Vermittlers persönlicher Ermächtigung und sozialen Wandels und fördern soziale Lernprozesse und Partizipation” (Million/Parnell 2017: 78). Ihre Arbeit nimmt Impulse von Lev Vygotskys Theorie der „Zone der nächsten Entwicklung“ aus den 1930er Jahren auf (Vygotsky 1978), indem sie davon ausgehen, dass Kinder sich Wissen in Zusammenarbeit mit erfahreneren Erwachsenen aneignen. Zugleich fliesst hier das Konzept der transformativen Pädagogik im Sinne von Henry Giroux (2011) ein, das nahelegt, dass Lehren ein wechselseitig emanzipatorischer Prozess ist, beeinflusst von politischen, ethischen und moralischen Faktoren. Wie eines der Lost Traces-Projekte zeigt, war es den educative planners, die mit den Schüler*innen arbeiteten, ein wichtiges Anliegen, die Kulturerbe-Erfahrungen auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Fall des Regensburger Anatomieturm-Projekts entschieden sie sich dafür, ihre Rechercheergebnisse in Form von Führungen durch den Turm zu präsentieren. Die guided tour, angeboten im Rahmen eines örtlichen Strassenfestes, wurde zu einer dialektischen Bildungserfahrung, bei der sowohl die Jugendlichen vom Wissen und den Sichtweisen der Besucher*innen profitierten als auch umgekehrt. Die Qualität solcher Lernprozesse liegt darin, die Jugendlichen anzuregen, als Kurator*innen ihrer eigenen Lernerfahrung in Erscheinung zu treten – mit Architekt*innen, Stadtplaner*innen, Lehrkräften, Restaurator*innen, Denkmalpfleger*innen und Handwerker*innen als Berater*innen und Partner*innen an ihrer Seite.

4) Architekt*innen und Stadtplaner*innen eignen sich zunächst an der Hochschule und später in der Praxis Gestaltungswerkzeuge an, um diese dann in Werkzeuge der baukulturellen Bildung umzuwandeln. Im Rahmen der Lost Traces-Projekte kamen Techniken wie Mapping, Fotografie, Skizzieren, Malen, Zeichnen, Tanz und Performance in unterschiedlichen Kombinationen zum Einsatz, um den Schüler*innen eine Auseinandersetzung mit den Lernmaterialien zu ermöglichen, die sich ganz individuell an ihren persönlichen Vorlieben und Lernstilen ausrichtete. Diese Werkzeuge regten zu einem persönlichen, oft sinnlichen Dialog mit dem Lernstoff an, wobei Gefühle und Eindrücke untrennbar mit dem Lernprozess verbunden sind. Der Lernprozess mit diesen Werkzeuge ahmt in gewisser Weise den Gestaltungs- und Planungsprozess von Architekt*innen nach, bei dem viele kleine Schritte mit unterschiedlichen Werkzeugen ausgeführt werden müssen, um ein einziges Objekt zu gestalten. 

Fazit

Der Erfolg des Projekts als Lernerfahrung im Umgang mit Denkmälern kann auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden. Wenn Architek*innen und Stadtplaner*innen als Lehrende das kulturelle Erbe als Lerngegenstand für Kinder und Jugendliche nutzen, hinterfragen sie die gängige Wahrnehmung eines bestimmten Denkmals und dessen traditionelle Bedeutungszuschreibung, indem sie einem Lernprozess Raum geben, der auf persönliche Relevanz, Selbstbestimmung und Eigeninitiative ausgerichtet ist. So wird ein breites Spektrum an Lernarten, persönlichen Interessen, individuellen Fähigkeiten und kreativen Impulsen innerhalb der projektbezogenen Bildungserfahrung ermöglicht. Die Schüler*innen gingen eine ‚Langzeitbeziehung’ mit dem Denkmal ein, was wiederum eine nachhaltige didaktische Wirkung hatte, die den Kindern und Jugendlichen aufgrund der persönlichen Relevanz und der persönlichen Erfahrung vermutlich lebhaft in Erinnerung bleiben wird. Solche didaktischen Prozesse haben das Potential, Schüler*innen zu verantwortungsbewussten Bürger*innen von morgen zu machen, können sie dazu befähigen, Probleme der gebauten Umwelt in ihrer eigenen Umgebung  zu erkennen und kompetent darauf zu reagieren und zu handeln, die Bedeutung des lokalen Erbes wertschätzen und ein Bewusstsein für Denkmalschutz zu entwickeln – alles wichtige Aspekte der Erklärung von Davos (2018) und der Faro-Konvention des Europarates (2005).

Ziel dieses Beitrags war es nicht, grosse Thesen aufzustellen und endgültige Antworten zu geben. Vielmehr wollten wir einen Anstoss geben, über die Bildungs- und Vermittlungspraxis von Architekt*innen und Stadtplaner*innen im Umgang mit kulturellem Erbe als Lernressource nachzudenken. Wenn wir davon ausgehen, dass die Kategorie Raum als Lehr- und Lerngegenstand – ebenso wie Wissen – ein sich ständig wandelndes Konstrukt ist, welche praktischen Konsequenzen hat dies für die Lehre selbst? Welche Theorien geben unserer Arbeit einen Rahmen und heuristische Substanz? Wenn es darum geht, eine grössere Zahl von Kindern und Jugendlichen von solchen Bildungsprogrammen profitieren zu lassen – wer ist dann der*die geeignetste Vermittler*in? Schulen, die sich auf die Bedürfnisse einer breiten jüngeren Bevölkerung einstellen müssen, aber auf Zeugnisse, Ziele und Endprodukte fixiert sind? Oder Museen und kreative Nachmittagstreffs, die zwar ergebnisoffene Lernerfahrungen ermöglichen, deren Besuch aber in der Regel mit Kosten verbunden ist? Wie können wir unsere pädagogische Praxis fortsetzen, ohne diese Bildungstätigkeit kritisch zu reflektieren? Wie können Gestaltungsmittel so modifiziert und angeeignet werden, dass sie erfolgreich als Bildungsinstrumente eingesetzt werden können? Die Fähigkeit von educative planners, in Zukunft qualitativ hochwertige didaktische Erfahrungen unter Einbeziehung von Denkmälern und anderen Elementen der gebauten Umwelt zu fördern, wird stark davon abhängen, ob es uns gelingt, die hier aufgeworfenen Fragen zu beantworten, einen Diskurs zu eröffnen und einen Austausch mit Erzieher*innen, Pädagog*innen, Psycholog*innen und anderen relevanten Berufsfeldern zu initieren, um (selbst-)kritisch über unsere Erfolge und Misserfolge nachzudenken.

Dieser Text wurde von Tino Jacobs aus dem Englischen übersetzt. Der Originaltext erschien 2019 bei inSciencePress (https://insciencepress.org/) unter dem Titel Built environment education for young people. Architects and urban planners using cultural heritage as a learning resource. Abrufbar unter: http://end-educationconference.org/2019/wp-content/uploads/2020/05/2019v1end052.pdf.

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Kurzbiografien der Autor_innen: