Schlagwörter: Alterität, Fluidität, Hybride, Identitätsfindung
Prolog
Dialoge eröffnen Räume – gedanklich wie zwischenmenschlich. Dieser Text ist ein Versuch, ausgehend von den Gesprächen mit der Lehrperson Veronika Rauschenbach, Gedankenassoziationen wie eine CollageIch sehe die Collage als einen Prozess des Sammelns, des Selektionierens, des Zerlegens und des neu bzw. anders Zusammenfügens. Sie verlangt einen (Ein-)Schnitt in etwas Bestehendes. Konsequenterweise wird eine bestehende Realität zerstört und eine neue gefunden. In der überbordenden Bilderwelt ist die Technik der Collage mein präferiertes Ausdrucksmedium. Es erlaubt mir, widerständig zu sein; Bestehendes zu reflektieren, zu recyceln und in eine neue Form zu bringen. vor mir auszulegen. Kein starres Gefüge, sondern Fragmente, die durch lose gesponnene Fäden in Verbindung gebracht und in Schwingung versetzt werden. Ein Text, der ein Netz spinnt, wobei manches durch die Maschen fällt und erst in der künstlerischen Arbeit mit Veronikas Klasse wieder in Erscheinung treten wird. Ein Text als Orientierung für die Zusammenarbeit mit Veronika. Ein Text als Versuch in Anerkennung seiner ganzen Widersprüchlichkeit, der ohne roten Faden auskommt und der Teil des Prozesses bleibt.
EINSCHUB I: Wer spricht?
Kreative Multiplizität ist Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeit als Kulturagentin. Ich bin eine grosse Kollaborateurin, eine Komplizin für Lehrpersonen und Kunstschaffende, aber auch für Schüler*innen. Ich glaube, dass Kollaborationen eine Chance sind, Systeme zu hinterfragen und Entwicklung zu gestalten. Einer meiner Blickwinkel ist die Kunst. Als Filmemacherin inspirieren mich bewegte Bilder. Und vielleicht ist es nicht von ungefähr, dass nach dem Gespräch mit Veronika die Bilder von Alain Tanners Film Les Hommes du Port (1994) aus der Matrix meiner Erinnerung auftauchen. Les Hommes du Port spricht von Kollaboration und Identität. Der Film portraitiert Mitglieder der Compagnia Unica Lavoratori Merci Varie (CULMV); ein Kollektiv, welches seinen Ursprung im 14. Jahrhundert hat und bis heute als eine Kombination aus Selbstverwaltung, Gewerkschaft und Zunft die Arbeit im Hafen orchestriert. Das CULMV beschäftigt die Arbeiter, nimmt sich aber auch ihrer sozialen Anliegen an: gelebte Solidarität (Jikhareva 2021).
Was mich an Alain Tanners Bildern begeistert, und mich gleichwohl zu diesen Ausschweifungen verführt, ist, dass sie aufzeigen, wie wir die Welt mitbestimmen können: im Kollektiv, durch kollektive Identitäten, getragen von starken Persönlichkeiten. Der Filmemacher visualisiert über das subjektiv montierte Material, wie sich die Identitäten der Hafenarbeiter im Kollektiv manifestieren und sich im Gegenüber, in der Architektur der Stadt, im Lärm des Stossverkehrs, aber auch in einer einzelnen Geste spiegeln. Alain Tanner erinnert uns daran, dass sich unsere Identitäten aus einem Netz von Bezügen, oszillierend zwischen Körpern und Abbildern, Tatsachen und Vorstellungen, zusammensetzen – wir aber nur im Kollektiv, und durch unsere Identifikation mit diesem, gesellschaftlichen Wandel mitbestimmen können.
Dies bringt mich zurück zum Kosmos Schule, denn im Idealfall ist die Schule ein Ort, an dem genau das gelehrt und gelernt wird. In Veronika erlebe ich eine Kollaborateurin im schulischen Umfeld. Veronika Rauschenbach ist Klassenlehrperson einer 3. Sekundarklasse am SSZ Remisberg in Kreuzlingen. Als Mitglied in der Fachschaft „Kunst und Kultur“ haben wir bereits bei der Erstellung des Kulturfahrplans zusammengearbeitet. Ausgangspunkt für das Thema „Identitäten“ war Anfang des Schuljahres 2021/22 eine Diskussion in der Fachschaft über gendernormiertes Rollenverhalten und die Möglichkeiten, dieses durch künstlerische Projekte gemeinsam mit den Schüler*innen zu hinterfragen. Eine Lehrperson hatte eingebracht, dass in ihrer Klasse die Suche nach Identität und Zugehörigkeit eine grosse Rolle spiele. Gerade Jugendliche mit Migrationsvordergrund seien verunsichert und stetig auf der Suche nach ihren Zugehörigkeiten und Rollen. Auch in Veronikas Klasse ist die Thematik aktuell. Die Klasse wird von 20 Schüler*innen (16 Jungs und 4 Mädchen) besucht, wobei der Grossteil eine Mehrsprachigkeit und Mehrstaatlichkeit mitbringt. Auch für Veronika sind künstlerische Prozesse ein Einstieg, um mit ihren Schüler*innen in einen thematischen Austausch zu treten.
GESPRÄCHSFRAGMENT I:
VR: Sie mussten ein Foto von sich machen und sollten es so bearbeiten, dass man sie nicht erkennt (…) und da Teile mit reinnehmen, die mit ihnen zu tun haben. Die zweite Aufgabe war, sich dann auch darzustellen, wie habe ich als Kind ausgesehen und so weiter (…). Das mit dem Unscharf hat wunderbar funktioniert, da haben sie auch Sachen reingemacht, die für sie wichtig sind, viele auch ihre albanische Flagge zum Beispiel. Aber wo sie dann ein Foto gemacht haben, wo sie hätten reinzeichnen können: „Was ist für mich wichtig?“, da kamen – und das ist dann Wurst, was für eine Nationalität sie haben – da kamen Selfies, die sie auf dem Handy hatten, wo ich manchmal die Schüler*innen nicht erkannt habe. Das ist dann diese typische Bildbearbeitung, wo ich denke: „Ja, das ist auch eine Form von Identität, die aber mit dir gar nichts zu tun hat.“ Das hat schon ein bisschen erschreckt.
BE: Das ist natürlich das Bild der Identität, die man nach aussen trägt.
VR: Ja, genau! „Sieht man doch, dass ich das bin!“ Nein, sieht man nicht… Der dritte Teil war dann, dass sie Teile ihres Gesichts, also zum Beispiel die Augen, ausschneiden und den Teil, zum Beispiel von einer berühmten Person, nehmen und den dann einsetzen in ihr Gesicht. Da fand ich einen ganz spannend, der das Gesicht von seinem Vater eingesetzt hat. Da muss man dazu sagen, er ist adoptiert, wo ich mich gefreut habe, dass das wirklich ein Teil von ihm ist. (…) Und dann so ein krasses Bild von einem Schweizer, wo die Alpen im Hintergrund und das „Schweizer-Fähnli“ zu sehen sind. (…) Ja, das sind wirklich ganz andere Bilder. Aber ohne, dass es irgendjemand negativ kommentiert hätte. Was ja auch für die Identität der Klasse spricht.
EINSCHUB II: Zusammenarbeit
Ziel des dialogischen Austausches mit Veronika war, herauszufinden, von welchem künstlerischen Projektansatz die Klasse am ehesten profitieren könnte. Das heisst, wie und wo können sich neue Räume und Prozesse für die Schüler*innen eröffnen? Auf welche Experimente möchten sie sich einlassen? Persönlich geht es mir um die gemeinsame Erfindung von Aktionen, die Räume, aber auch Identitäten und Rollen, auf ihre Gebrauchsweisen und ihre symbolische Funktion hinterfragen. Mein Anliegen ist es, für alle Beteiligten im System Schule erfahrbar zu machen, wie gross das Potential der Schule ist, Dinge auszuprobieren und andere Blickwinkel einzunehmen. Ich möchte zeigen, wie aufregend Schule sein kann. Ich folge mit diesem Gedanken Anton Vidokle, Künstler und Gründer von e-fluxhttps://www.e-flux.com/. , der proklamiert, dass Schule einer der wenigen übrig gebliebenen Orte ist, an denen Experimente bis zu einem gewissen Grad gefördert werden; wo der Schwerpunkt eher auf dem Prozess und Lernen als auf dem Produkt liegt (Vidokle 2009). Ziel der Zusammenarbeit mit Veronika und ihrer Klasse ist für mich genau das: Ein Experiment zu wagen und somit einen Prozess zu ermöglichen. Es geht mir nie um ein Produkt, dieses ist immer nur Mittel zum Zweck. Hier stellt sich für mich die Beziehung zu dem Gespräch mit Veronika her, was auch für uns beide ein Prozess ist. Die Reflektion und Positionierung finden im Austausch statt. Da muss es auch Raum für Verschiebungen und Adjustierungen geben. Gemeinsam werden wir in einem nächsten (handelnden) Schritt entdecken, ob die Schüler*innen diesen von uns angelegten Parameter des Experiments annehmen möchten. Teil des Experiments ist natürlich auch, die mögliche Verweigerung der Partizipation bzw. der Ausübung der Rollen.
EINSCHUB III: Verortung
In einer provinziellen Grenzstadt wie Kreuzlingen, wo über 50 % der Einwohner*innen kein Stimmrecht besitzen, schöpfen die Jugendlichen in Veronikas Klasse munter aus den Gespenstern nationaler Klischees (Terkessidis 2018). Sie sind einem Prozess ausgesetzt, gemeinsam und für sich Identität und Verwurzelung zu konstruieren, wodurch sie teilweise Identitäten als fluide oder fragmentarisch erleben. Multiple und hybride Identitäten sind Konstrukte, mit denen die Jugendlichen jonglieren und die gleichzeitig eine Art Heimatlosigkeit zur Folge haben. Eine Heimatlosigkeit, die sich nicht länger am Rand der Gesellschaft abspielt, sondern in der Mitte (des Schuluniversums) angekommen ist. Diese Art der „Heimatlosigkeit“ spiegelt sich aber (noch) nicht im Lehrkörper, dessen Zusammensetzung um einiges homogener ist. Für mich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Umgang der Schüler*innen mit denjenigen Klischees, die, im Gegensatz zu oben erwähnt, nicht selbst gewählt sind; und auch, wie sie hierarchischen Strukturen und Gendernormen begegnen, die bereits verinnerlicht wurden und somit im schulischen Alltag reproduziert werden.
GESPRÄCHSFRAGMENT II
BE: Identität ist nicht einfach etwas, das gesetzt ist; es besteht die Möglichkeit, sie zu ändern. Dieses Bewusstsein ist eine Stärkung, wenn sie mitgenommen werden kann.
VR: Das andere, was ich auch noch ganz wichtig finde als Klassenlehrperson, ist, dass ihnen klar wird, ich werde eine andere Rolle einnehmen nach dem Sommer. Wie gehe ich damit um? Sie müssen nicht Lehrling üben, aber es muss ihnen klar werden, ich habe verschiedene Rollen, da bin ich unterschiedlich und das fällt ihnen – das ist natürlich auch eine Altersgeschichte – auch wahnsinnig schwer… aus diesem Berieseln rauszukommen… Wie bin ich da, wie bin ich dort? Das ist natürlich auch ein Teil von unterschiedlichen Identitäten. Die bosnischen Mädchen aus meiner Klasse, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, wie sie sind, wenn sie nach Bosnien gehen, sie sind da völlig anders als hier.
BE: Wie sind sie?
VR: Also, sie sind viel freier. Sie haben mehr Freiheit, was mich gewundert hat, das sind wohl meine Vorurteile, weil sie sich in einem Raum bewegen, wo jeder jeden kennt und sich jeder für den anderen verantwortlich fühlt. (…) Da sind sie hier unfreier.
BE: Ist das ein Konflikt für sie?
VR: Ne, die können da klar unterscheiden, in den Ferien bin ich so und hier (in Kreuzlingen) bin ich so.
BE: Wie du vorher gesagt hast, ich bin nicht nur eine, ich bin mehrere, habe hinter mir alle anderen, die mich unterstützen.
EINSCHUB IV: Wie Räume für Vorbilder und positive Erfahrungen ermöglichen?
Was bedeutet diese Wandelbarkeit für die Schule? Oder anders ausgedrückt, welche Rolle wird den Schüler*innen vom System Schule auferlegt und wie wird ihnen Gemeinschaft (z.B. die Identität in der Klasse) suggeriert? Wird das Verständnis geschürt, dass auch dies nur eine Rolle ist, die gewandelt werden kann? Meine Erfahrung mit Schulen zeigt leider, dass in der kollektiven Wahrnehmung aller Beteiligten Jugendliche mit Migrationsvordergrund noch immer mit Identitätskrisen in Verbindung gebracht werden. Herkunft wird von der dominanten Kultur ganz klar anders verhandelt als von den Betroffenen. Wie muss also ein künstlerisches Projekt angelegt sein, um das zur Disposition zu stellen? Welche künstlerischen Strategien können ein neues Selbst-Bewusstsein und Selbst-Verständnis unterstützen und sichtbar machen? Auch in meiner Arbeit habe ich immer wieder Zweifel, wie sich eine Emanzipation vollziehen kann und ob sie sich der Kontrolle der vermeintlich dominanten (Schul-)Kultur entziehen vermag. Letztlich bin ich mit meiner Biografie zwar eine Aussenseiterin im schulischen Kosmos, aber nichtsdestotrotz eine Kollaborateurin, die möglicherweise bestehende Strukturen einfach nur reproduziert, um überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, Kunst im schulischen Alltag verorten zu können. Wie also müssen diese Räume sein, damit sie positive Erfahrungen ermöglichen?
GESPRÄCHSFRAGMENT III
VR: …sie konnte Italienisch und konnte übersetzen, für andere die irgendwas einkaufen wollten und kein Wort Italienisch konnten. Das hat dann für sie ein Selbstwertgefühl plus gegeben. Eindeutig, aber so im alltäglichen Leben glaube ich nicht, dass es von ihnen als plus wahrgenommen wird, auch nicht von der Gesellschaft; es wird immer nur auf die Schwäche geguckt. Das geht mir ja als Lehrperson genauso, also man muss sich ja wirklich zwingen, nicht dauernd die Fehler anzustreichen, sie phrasieren. Aber ich hab jetzt auch einen Schüler, der lange in Italien gelebt hat und jetzt erst über Mazedonien hierher kam, der dann zum Beispiel in seiner Bewerbung geschrieben hat – anscheinend war er nicht so gut handwerklich – und er hat dann halt geschrieben: „Ja, sie haben gesagt ich war nicht so gut handwerklich, aber ich hab ganz schnell Deutsch gelernt“ – was er tatsächlich hat – „und bin jetzt genügend, dann weiss ich auch, dass ich das andere auch lernen kann.“
BE: Eine Erfahrung, das ist natürlich auch wichtig, dass Identitätsfindung durch Erfahrung stattfindet und so eine positive Erfahrung, die man selber gemacht hat, die stiftet Selbstbewusstsein.
(…)
BE: Du hast vorher die Familie angesprochen, und dass gerade Mädchen, junge Frauen oftmals unweigerlich ’‘ne Position annehmen, die ihnen traditionell vorgeschrieben ist. Gibt es da Ausbrüche?
VR: Was ich erlebe, ist natürlich nur ein Teil. Also in meiner Klasse definitiv nicht. Da muss ich eher mal sagen: „Versucht doch mal noch das, das traue ich dir auch zu!“, aber sie sind da schon sehr angepasst.
BE: Woher kommt das? Weil sie von Anfang an stark in dieser unterstützenden Rolle sind, zu Hause?
VR: Ich glaub schon. Mich erstaunt auch immer: egal, ob Schweizer Frauen/Mädchen oder andere, das Rollenbild ist nach wie vor da. Ich werde irgendwann zu Hause sein und Kinder erziehen. Und dann ist meine Ausbildung auch gar nicht so wichtig. Aber es gibt Eltern, die ihre Kinder unterstützen, eine bessere Ausbildung zu machen als sie haben. Denn natürlich gibt es Schüler, die mitkriegen, dass ihre Eltern eigentlich eine bessere Ausbildung im Geburtsland erfahren haben, aber es hier gar nichts nützt.
BE: Wie gehen sie damit um?
VR: Es frustriert sie. Aber für sie heisst es dann, ich will eine gute Ausbildung.
EINSCHUB V: Rollenzuschreibungen
Die Verinnerlichung von bestehenden Hierarchien und traditionellem Rollenverhalten zeigen sich auch mir immer wieder im Zusammenwirken der Schüler*innen. Die Schüler*innen sind Rollenzuschreibungen ausgesetzt und haben teilweise noch keine Sprache gefunden, für sich selbst eine andere Narration zu erfinden. Ich sehe es als wichtige Grundlage, Schablonen als Werkzeug zu haben, um andere Rollen für sich auszumalen. Etwas in Worte fassen zu können. Eine Sprache zu (er)finden, die als Werkzeug dient. Das hat auch mit dem Blick von aussen zu tun und damit, wie wir gesehen werden. „Gespenster von Rollenklischees“ begleiten uns alle wie ein Schatten. Konkret stellt sich die Frage, welche künstlerischen Aktionen in einem Projekt entwickelt werden können, die eine Reflexion darüber ermöglichen.
GESPRÄCHSFRAGMENT IV
BE: Was ich auch noch interessant finde, was die Identität betrifft, ist Sprache und wie Sprache unser Denken auch prägt, also anders denken im Sinne von „weil man Sachen einfach anders benennt“.
VR: Sie haben so etwas wie eine extra Sprache, die gemischt wird aus Mazedonisch und Türkisch. Also erstmals haben sie gemerkt, da gibt es gleiche Wörter, die sind sehr ähnlich und dann versuchen sie, es neu zu kreieren. Da sind sie schon dabei, sie haben praktisch noch eine andere Ebene als Sprache.
BE: Das ist ja auch ein Ausdruck einer Identität, viel fliessender…
(…)
BE: Wo hat man Kontrolle darüber, wie möchte man sein? Wo sind eigentlich diese sehr schwammigen Bereiche, wo man sich selbst ist, aber ein anderes Bild auch repräsentiert? Das ist sicher ein spannender Bereich, der Kunst ermöglicht, weil wir im Spiel in andere Identitäten schlüpfen können und herausfinden, wie es sich dort anfühlt. Klar hat es immer Konsequenzen, aber wenn wir jetzt von einem Kunstraum sprechen, (einem Projekt) das in einem sichereren Raum stattfindet, sind die Konsequenzen anders – es geht dann um das Ausprobieren – als wenn es direkt einer Öffentlichkeit zugänglich ist, also wenn es ins Internet gestellt wird.
VR: Ja, genau, eine Idee von den Mädchen, sich schminken, kam bei den Jungen natürlich gut an. Aber spannend war dann, dass zum Schluss die Jungs wirklich geschminkt waren, zum Beispiel mit falschen Wimpern, was ich schon so speziell finde, dass es jemand anders einem draufklebt. Da wurden dann Fotos und Filme gemacht, die haben wir auf eine Plattform, wo man sie nicht herunterladen kann, wo ich aber gedacht habe, sie können es natürlich jemand anderem zeigen, aber wo dann wirklich keiner auf die Idee kam, ja ich möchte das Foto nicht darauf haben. Ich denke, das ist natürlich ein Vertrauen für die Gruppe.
(…)
EINSCHUB VI: Persönliche Mythen
Eine Narration, die bewusst konstruiert wird. Der Gedanke, der gesät wird, dass Identität eine Mythe sein kann. Was die Bühne für die Erfindung von Hybriden Wesen eröffnet! Wie kreieren Sprech- und Denkgewohnheiten Chancen? Wo es darum geht, bewusst nicht nur, mit dem Rotstift in der Hand, nach Fehlern Ausschau zu halten, sondern gerade das Mehrfältige als Chance hervorzuheben. Einzelnen Schüler*innen gelingt es natürlich bereits, ihre Geschichte positiv zu formulieren – aber was ist mit dem Gegenüber? Mich interessiert einerseits das positive Formulieren von persönlichen Mythen, die zu einer Identitätsbildung beitragen und andererseits das Spiel mit den Rollen in diesen Identitäten. Das heisst, die repräsentative Form/Funktion des Ichs darf nicht mit Identität verwechselt werden.
GESPRÄCHSFRAGMENT V
BE: Ich, die Identität von kollektiven „Personen“, funktioniert auf der Ebene der Klasse. Wo habe ich die Kontrolle über meine Identität, also zum Beispiel auch in den sozialen Netzwerken. Wo bin ich selbst, aber das Bild stimmt nicht. Wichtig ist hier, glaub ich, vielleicht zu verstehen, und vielleicht auch als einen Ansatz für unser Projekts, das, was ich repräsentiere, ist nicht das, was ich als meine Identität ansehe.
(…)
VR: Heute bin ich Superheldin oder Superheld, das kann man sehen, muss man aber nicht. Wie verhalte ich mich dann in der Schule, merke ich den Unterschied? Einer kann den anderen filmen, da kann ich mir sehr gute Sachen vorstellen. Wie wirkt denn das auf Andere? Merken die überhaupt was?
BE: Dass man vom Persönlichen ausgeht, was kann ich, was möchte ich gerne können, wie kann ich ein eigenes Erlebnis als Heldengeschichte darstellen? Der Gedanke, ich komme daher, aber ich kann auch wie eine Art Geschichte dafür erfinden. Weil Identität ist immer auch Fiktion. (…) Wie ich die Geschichte erzähle ist wichtig, defizitorientiert oder halt eigentlich als positive Geschichte.
VR: Das Negative kommt eher von den Eltern, die sind in dem verhaftet. Für die Jugendlichen ist es nicht so.
BE: Aber vielleicht für die Gesellschaft, die sie spiegelt. Weil die doch sehr stark defizitorientiert ist.
VR: Ja, bestimmt.
EPILOG
„Über das Kino möchte ich in meine Erinnerung an den Hafen von Genua eintauchen, die Gegenwart ergründen und versuchen, die Zukunft zu erraten. Genua, diese schöne, diese traurige, diese fremde Stadt erscheint mir heute als Metapher für eine Gesellschaft im Wandel.“ (Alain Tanner)
Hier setzt die Aufzeichnung bewusst aus und das assoziative Netz bildet einen Knoten mit meinem Ausgangspunkt. Also zurück ans Meer, in den Hafen von Genua, zur gelebten Solidarität. Festgehalten vom Filmemacher, der erstmals im Alter von 17 Jahren – also nur wenig älter als die Jugendlichen aus Veronikas Klasse – auf der Flucht vor der Sesshaftigkeit nach Genua gereist ist und für eine Reederei gearbeitet hat. Als Bild folgt mir die schwebende Männerhand, die durch Zeit und Raum, Zeichen in die Luft setzt. Die Hand braucht kein Werkzeug, die Bewegung genügt, als Zeichen, als Sprache. Auf der „anderen Seite“ werden nicht Instrumente gespielt, ein Kran reagiert. Ein Frachter wird mit einem Überseecontainer beladen, der akkurat in eine Spalte zwischen die anderen Container passen muss. Die Gesten der Hand dirigieren den Kranführer. Das Bild einer gegen den Himmel gerichteten Hand. Hoffnungsvoll, dass in einem nächsten Portrait die Hand einer Frau dirigiert. Denn auch das erwähnte Kollektiv CULMV ist nach wie vor eine Männerdomäne. Zeit auch hier für mehr Fluidität!
Literatur/Referenzen:
Bishop, Clarie (2012): Artificial Hells, Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London, Verso.
Düttmann, Alexander Garcia (2015): Was weiß Kunst? Für eine Kunst des Widerstands. Konstanz, Konstanz University Press.
Federici, Silvia (2012): Caliban und die Hexe, Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien, Mandelbaum.
Jikhareva, Anna (2021): Erst Focaccia, dann Klassenkampf, Zürich, WOZ 4, 25. November 2021.
Tanner, Alain (1994): Les Home du Port. Trigon Film.
Terkessidis, Mark (2018): Kollaboration. Berlin, Edition Suhrkamp.
Vidokle, Anton (2009): Opening Remarks of Night School. https://dubaiinstitute.wordpress.com/2009/04/10/anthony-vidokle-opening-remarks-of-night-school/ [21.07.2022].