Raumverschiebungen – Schulische Displacements als kritische Geste
Abstract:
Wie liesse sich die implizite Wirkungsweise schulischer Räume der Reflexion besser zugänglich machen und dabei zugleich an der Erfahrung der Konstitution eines anderen Raumes teilhaben? Im Fokus der Ausführungen stehen Raumpraxen des Verschiebens, Variierens oder Verlagerns. Insbesondere das Displacement wird als Strategie zur Sichtbarmachung schulräumlicher Wirkungen befragt. Dabei wird auf heterogen gewählte Fallbeispiele zugegriffen. Die Beschäftigung mit Christiane Brohl und ihrem Konzept des Displacements als kunstpädagogische Strategie steht an prominenter Stelle. Im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung wird eine Erweiterung ihrer Ansätze vorgeschlagen. Dabei wird der mit ihr eingeführte theoretische Referenzpunkt der Heterotopie im Kontext weiterer Rezeptionen besprochen und zu einer Methodisierung gefunden, die anschliessend am Beispiel des Seminars „Lernen am/als/durch Raum“ veranschaulicht wird. Mit hinein in die Entwicklung dieser methodischen Überlegungen spielt zudem die Analyse schulalltäglicher Regelbrüche (Tricks). Als heterotope Einbrüche in schulische Ordnungen standen sie Modell für die Entwicklung der Ansätze des Seminars. Dieses richtete sich an Studierende der Kunstpädagogik und fand ausgelagert als Zwischennutzung in den leeren Räumen der ehemaligen Villa Bellerive statt. Ausgangslage für den dort geplanten Einräumprozess waren künstlerische Recherchen an Schulhäusern unterschiedlicher Bauzeiten. Durch die situative Übersetzung der Resultate dieser Recherchen in den Kontext der Villaräume, sollten – im Sinne einer Analogie oder eines Kontrasts – gewisse Aspekte schulräumlicher Bedingungen noch einmal stärker hervortreten und reflektierbar werden. Im Hinblick auf die künftige Lehrtätigkeit der Studierenden sollte damit die Erfahrung eines Gestaltungspielraumes ermöglicht werden, der der Wirkungsweise normierender schulischer Inszenierungen ein Stück weit entgegenwirken wollte.

In den Diskursen der Schularchitektur ist oft vom idealen Ineinandergreifen von Architektur und pädagogischem Konzept die Rede. Beispielsweise findet sich in den Grundsätzen des Neuen Bauens und in den Ansätzen der Reformpädagogik Verbindendes. Besonders explizit behauptete schon die Heimatschutzbewegung im frühen 20. Jahrhundert das Schulhaus als einen geheimen, ästhetischen Miterzieher (vgl. Haupt 2018: 4). Im Alltag bespielter schulischer Räume zeigt sich jedoch oft ein anderes Bild, denn die Lebensdauer von pädagogischen Konzepten ist meist kürzer als diejenige von Schularchitektur (vgl. Forster 2006: 41). Schulräume werden demnach immer wieder auch anders genutzt als vorgesehen. Mit solchen Umräumprozessen beschäftigt sich der vorliegende Text. Ins Blickfeld geraten dabei Raumpraxen des Eingreifens in respektive des Verschiebens von schulräumlichen Ordnungen. Als Spielart des Verrückens schulräumlicher Ordnungen interessiert im Besonderen das Displacement als Praxis des Verlagerns. Gemeint ist hier auch die Situierung von Unterricht ausserhalb der Schule in lebensweltlichen Umgebungen.

Vorangestellt sei hier noch einmal ein kurzer Exkurs in die Schulgeschichte, denn schon früh wurden Situationen Extra Muros als Argument für pädagogische Innovation vorgebracht. Eine solche Argumentationsweise findet sich beispielsweise im Konzept der Freiluftschulen, welche in Waldesnähe oder an den Rändern von Siedlungen tuberkulosegefährdeten Kindern medizinische Betreuung und Unterricht anboten. Das schnelle Installieren ihrer luft- und lichtdurchlässigen Pavillons, Baracken oder Zelte, das portable Mobiliar und die insgesamt schlichte und billige Bauweise mit provisorischem Charakter wurde von Pädagog*innen oft als Grund für pädagogische Innovation herangezogen (vgl. Châtelet 2008: 297). Jedoch lässt sich gerade an Fallbespielen der Reformpädagogik wiederum aufzeigen, dass solche Annahmen zu kurz griffen und sie oft vor allem der Eigendarstellung jener Diskurse dienten (vgl. Depaepe/Simon 2003: 727). Kritische Stimmen verorten gegenwärtig die Freiluftschulen eher im Kontext der Tendenzen der Hygienebewegung und werten sie als Symptom der damals zunehmenden Disziplinierung und Pädagogisierung (ebd.: 720). Es reiche eben nicht, Schulbänke durch Klapptischchen zu ersetzten und vielleicht sogar deren Aufstellung zu verändern (ebd.: 727).

Aus diesem Spannungsverhältnis heraus wendet sich der vorliegende Text Raumpraxen zu, die Verfahren des Umräumens dekonstruktivistisch zur Sichtbarmachung von schulräumlichen Wirkungen nutzen. Das Displacement interessiert somit weniger als blosse Erfahrung von etwas Anderem – in Sinne von ‘Schule einmal anders’ – sondern das Umstellen oder Verlagern schulräumlicher Ordnungen soll vielmehr im Dienst einer strategischen Selbstbefremdung stehen, die den durch Konventionen und Routinen verstellten Blick auf den Schulraum wieder freizuzulegen vermag.

Die Wirkungsweise schulischer Anordnungen ist der Reflexion wenig zugänglich. Die der Schularchitektur oder den schulräumlichen Anordnungen unsichtbar zugrunde liegenden institutionellen oder pädagogischen Selbstverständnisse, Werte und Normen werden vor allem implizit mitgelernt. Durch die Interaktion von Zeit, materiellem Raum, Platzierungen, sowie symbolischen Verweisen, werden diese Werte und Normen in mannigfaltigen Schulritualen transportiert (vgl. Kellermann/Wulf 2009: 174). Prominente Beispiele wären hier etwa der Morgenkreis, der Frontalunterricht oder eben im Grösseren die Aufteilung in Klassen und die dem Korridor entlang angeordneten Unterrichtszimmer. Zwar bestimmen Werte, Normen und Regeln auch das lebensweltliche, alltägliche Zusammensein, allerdings sind sie im schulischen, institutionellen Kontext ausgeprägter. Sie schaffen einen verbindlichen Rahmen für Unterricht, stabilisieren ihn, aber sie kanalisieren auch Lernprozesse (vgl. Möntmann 2002: 35) und grenzen diese von den alltäglich vermittelnden Formen – den sogenannten alltäglichen „Unterrichtungen“ ab (vgl. Terhart 2009: 103). Unterricht hat deshalb immer schon „den Charakter des Künstlichen und Inszenierten“ (ebd.: 105).

Wie liesse sich nun durch andere Adjustierungen und Inszenierungen schulräumlicher Anordnungen deren implizite Wirkungsweise deutlicher herausstellen und damit der Reflexion besser zugänglich machen? Inwiefern eröffnet hierbei das Displacement eine spezifische strategische Perspektive? Und welche ästhetischen Bildungsmomente geraten dabei ins Blickfeld?

 

Im Folgenden wird ausgehend von einer Beschreibung des Konzepts der Heterotopie mit Christiane Brohl in das Displacement als kunstpädagogische Strategie eingeführt und hierzu eine Erweiterung vorgeschlagen. Am Beispiel der Analyse von Schüler*innentricks – den kleinen schulalltäglichen Subversionen – wird noch einmal auf unterschiedliche Rezeptionen der Heterotopie zurückgegriffen. Auf dieser Basis wird eine Methodisierung gefunden, die dann im zweiten Teil des Textes am Beispiel des Seminars Lernen am/als/durch Raum exemplarisch ausgeführt wird. Dieses Seminar richtete sich an Studierende der Kunstpädagogik und fand als schulisches Displacement ausserhalb des Hochschulcampus in den Räumen der ehemaligen Villa Bellerive statt.

 

HETEROTOPIE UND DISPLACEMENT

Innerhalb der kunstpädagogischen Diskurse bilden die Ansätze von Christiane Brohl, Klaus-Peter Busse und Christine Heil eine spezifische Linie. Sie schlagen vor, die schulischen Unterrichtsräume zu verlassen und hinaus zu gehen in den Alltagsraum.

Im Fokus ihrer Konzepte stehen künstlerische Recherchestrategien wie die des Mappings oder des Kartierens. Mittels ästhetischer, alltagsbezogener oder diskursiver Praxen werden öffentliche Räume ausgelotet. Als prominent gesetzter Referenzpunkt ging das Konzept der Heterotopie in die Entwicklung dieser Ansätze mit ein.Ebenso Einlass fanden künstlerische Positionen, welche sich in kritischer Weise mit öffentlichen, alltäglichen Räumen auseinandersetzen. Manche beziehen sich auf Robert Smithsons Konzept des Displacements, andere auf die berühmte Architekturstudie Learning from Las Vegas, oder wieder andere auf die Herangehensweisen von Kimsooja oder von Sophie Calle. Vorläufer dieser künstlerischen Raumpraxen finden sich aber schon früher, etwa in der benjaminschen Figur des Flaneurs, im Stegreiftheater der 1920er Jahre in Wien oder den Dérives und der Psychogeographie der Situationistischen Internationalen in Paris. Vor allem wird an diesen frühen Beispielen aber deutlich, dass das Verlassen der Museen oder Galerien, und damit die Hinwendung zum Alltagsraum, das Verhandeln der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst stets miteinschliesst. Mit seinem Vortrag zu den Heterotopien, den er 1967 im französischen Radio hielt, trägt Michel Foucault massgeblich spatial turn in den Kulturwissenschaften bei. Darin grenzt er das geschichtsbezogene Weltbild des 19. Jahrhundert von der gegenwärtigen „Epoche des Raumes“ (vgl. Foucault 1992: 34) ab. Welt wird nicht mehr als Nacheinander von Ereignissen, sondern vielmehr als Nebeneinander oder Ineinander von Elementen, als Netz oder „Ensemble von Relationen“ (ebd.) begriffen. Bei der Heterotopie handelt es sich mit Foucault um Räume, die sich auf zwar andere Räume beziehen, aber so, dass sie deren Eigenschaften oder Ordnungen verdrehen, wenden oder aushebeln. Mit folgenden Worten führt er an das Konzept heran: „Aber was mich interessiert, das sind unter all diesen Platzierungen diejenigen, die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf all diese anderen Platzierungen zu beziehen, aber so, dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren.“Heterotopien kommen mit Foucault in allen Kulturen und in ganz unterschiedlichen Ausformungen vor. Er führt ihre Eigenschaften an Grundsätzen aus und veranschaulicht sie an Beispielen. Mit Foucault handelt sich bei Heterotopien oft um Räume für von der Norm abweichendes Verhalten oder für krisenhafte Situationen, hier nennt er die Psychiatrie, Gefängnisse u.a. als Exempel. Heterotopien stehen zudem im Spannungsverhältnis zweier Tendenzen: sie kompensieren bestehende Ordnungen, indem sie einen makellosen Raum bereithalten (als Beispiel dafür zieht er die Jesuitenkolonien heran) oder sie entblössen als Illusionsräume alle anderen Räume als noch grössere Illusionen (wie es etwa Bordelle zu tun vermögen). Im Weiteren schaffen sie es, an Ort und Stelle an sich unvereinbare Platzierungen zu verschränken: die Kinoleinwand, die Theaterbühne, einst die orientalischen Gärten und die Teppiche als deren Reproduktion, führen allesamt auf einer rechteckigen Fläche die Welt noch einmal anders vor. Aber auch die zeitliche Dimension ist Heterotopien oft eingeschrieben, so in den Sammlungen von Museum oder in Bibliotheken. Immer aber verfügen sie über trügerische Einschlüsse, die sich zugleich als Ausschlüsse ausweisen, am deutlichsten liesse sich dies wohl noch einmal am Gefängnis veranschaulichen (vgl.: Foucault 2014, Foucault 1992). (Foucault 1992: 38)  Die Anlage dieser strikt relationalen Räume veranschaulicht er metaphorisch am Beispiel des Spiegels: Einerseits zeigt mich der Spiegel ganz wirklich und eingebettet in eine Umgebung, aber immer dort, wo ich nicht bin, sondern nur virtuell vorkomme. Im Spiegel lese ich mich durch einen anderen Ort, jedoch als spiegelbildliche Wendung oder Umkehrung. Daran eröffnet sich mit Foucault das Potential eines reflektierenden Gegenraums (vgl. ebd.: 39).

Christiane Brohl beschäftigt sich in Displacement als kunstpädagogische Strategie (vgl. Brohl 2003) explizit mit heterotopiebezogenen Praxen. Sie verlagert den Lernort in alltägliche Räume, spricht von einem „Lesen eines Ortes durch einen anderen Ort“ und greift somit die Spiegelmetapher auf (Brohl 2008: 35). Mit in die Entwicklung ihrer Ansätze wirkte zudem die Auseinandersetzung mit dem Künstler Robert Smithson und seinem Konzept von Site/Nonsite, welches ebenfalls eine Aufteilung in zwei Orte vorschlägt. Mitte der 1960er Jahre wendet sich Smithson als institutionskritische Geste sogenannten „nicht-institutionellen“ (Brohl 2003: 164f) Orten zu und unternimmt Reisen in die Natur, zu Landschaften der amerikanischen, postindustriellen Orte (Sites). Mit dabei auf seinen Exkursionen ist ein Science-Fiction Roman. Der fiktive Kontext des Romans dient ihm zur strategischen Blickverschiebung, um das Gegenwärtige mit dem Blick aus der Zukunft als das Vergangene einzufangen (vgl. Ursprung 2010: 152). Smithson begreift die Fragmente von Industrieruinen entsprechend als „Monuments“ (Denkmäler) (vgl. Brohl 2003: 99). Von diesen Ortserkundungen zurück, arrangiert er Erdmaterial, Fotografien, Filme, Spiegel, geographische Karten im Galerienraum zu Installationen (Nonsite). Brohl macht nun an der Auslage dieser verschiedenen Fragmente eine produktive Ent-Orientierung der Rezipient*innen fest (ebd.: 122). Denn ganz konträr zum Prinzip der objektivierenden Karten, evoziert die heterogene Auslage einen multiperspektivischen Blick auf den Ort. Der Nonsite reflektiert den Site, lässt ihn als Perzept aus den Relationen der unterschiedlicher Elemente immer wieder neu hervorgehen (ebd.: 93f.) und initiiert damit ästhetische Erkenntnisprozesse (ebd.: 106 ff). Daran macht nun Brohl den „kunstpädagogischen Impetus“ (ebd.: 10) der Strategie des Displacements fest. Analog zu Smithsons Vorgehensweise befragt sie alltägliche Orte mittels ästhetisch-diskursiver Praxen. Die Spuren dieser Ortserkundungen werden gesammelt, anschliessend in schulische Räume zurückgebracht und zu künstlerischen Rauminstallationen, Collagen oder Karten verdichtet inszeniert (vgl. Brohl 2008: 37ff). Mit Brohl eröffnen sich an der Erfahrung der Konstitution bedeutungsoffener, allegorischer Displacements ästhetische Bildungsmomente.Im Weiteren bezieht sie den Heterotopiebegriff auf Kunstpädagogik als Schnittpunkt verschiedener Diskursformationen. Das Displacement führt zu einem Aufbrechen von Sehgewohnheiten, erschliesst andere Perspektiven auf Alltagsräume und soll ihre diskursive Konstruktion offenlegen (vgl. Brohl 2003: 36 f). Es handelt sich also um heterotope Auslagen, die stets in Verbindung mit Alltagsräumen stehen, hier aber andere Lesarten derselben ermöglichen. Gleichermassen möchte Christiane Brohl damit aber auch die Institution Schule öffnen (ebd.: 50).

In den nun folgenden Ausführungen nehme ich diesen Faden auf, schlage jedoch eine Änderung der Blickrichtung und damit eine Erweiterung vor, welche in die Konzeption des Seminars Lernen am/als/durch Raum einging: Denn, während bei Brohl die heterotope Praxis des „Lesen eines Ortes durch einen anderen Ort“ (Brohl 2008: 35) stets darauf hinführt, sich in „selbst- und kulturkritischer Weise mit Orten im öffentlichen Raum auseinanderzusetzen“ (ebd.: 37), soll die Strategie des Displacements als reflektierende Perspektive nun vielmehr auf den Schulraum bezogen werden.

Dabei folge ich ein Stück weit den Argumenten, mit denen Daniel Buren die „eskapistischen“ (Möntmann 2002: 35) Wege seiner Zeitgenoss*innen anprangert. Denn während Ende der 1960er und anfangs der 70er Jahre Künstler*innen Museen und Galerien als Symbole souveräner Macht mittels aktionistischer Praxen kritisierten, dabei oft die Galerien verliessen und ortspezifische Kunstwerke im Ausserhalb erstellten – und auch Smithson diesem Impuls der Befreiung von Kunst aus den institutionellen Räumen „kultureller Einsperrung und Festschreibung“ (Sheikh 2006) folgte – verurteilt Buren diese Wege als „künstlerische Safaris“ (vgl. Weibel 1994: 53). Auch die Strategie des Displacements beschreibt er als mit Radikalität getarnte Geste, bei der es sich aber im Grunde um eine im doppelten Sinne reaktionäre Fluchtbewegung handle: in der Aneignung der Natur als koloniale Geste und in der Bekräftigung des Museums als einzigem Ort, der dies auszustellen vermöge und ihm das Alibi der Öffnung zuspiele (vgl. Buren 1973: 47f). Nach Buren ist es vielmehr die Aufgabe von Kunst, die Regeln und die impliziten Selbstverständnisse von kulturellen Institutionen sichtbar zu machen (vgl. Weibel: 52). Denn es gibt kein Ausserhalb der Institution, auch öffentliche Orte stehen immer mit unter dem Einfluss der Definitionsmacht von Institutionen (vgl. Möntmann 2002: 35).In dieser Positionierung lassen sich überdies Pararallen mit der oben dargelegten, kritischen Betrachtung der Freiluftschulen finden. Seit den 90er Jahren suchen institutionskritische Künstler*innen und Kunstvermittler*innen nunmehr innerhalb von Institutionen nach Nischen, um subversiv, mittels interventionistischer, affirmativer oder parasitärer Strategien deren implizite Selbstverständnisse zu dekonstruieren (vgl. Weibel 1994: 13).

Mit einem ähnlichen Verständnis von institutionellen Wirkungen blicken die beiden Erziehungswissenschaftler*innen Christian Grabau und Markus Rieger-Ladich auf den Schulraum. An den subversiven Praxen von Schüler*innen machen sie heterotope Einbrüche fest, die eben nicht jenseits der normativen Ordnungen, sondern innerhalb dieser zu finden seien. Sie beschreiben sie „als Platzhalter für die Möglichkeit, dass es innerhalb etablierter Ordnungen, allen Bemühungen um Normalisierung zum Trotz, immer wieder zur Freisetzung von Momenten der Alterität kommen kann, zur Ausbildung dissidenter Logiken.“ (Grabau/Rieger 2014: 75) Solche Abweichungen lassen sich an Schulen häufig im Unterwandern von Regeln beobachten, treten oft in der Gestalt von Tricks in Erscheinung. Schon die Vorsilben der Bezeichnungen des Soufflierens „vorsagen“, „nachsagen“ oder „einsagen“ illustrieren sehr schön, dass auch diesen subversiven Praxen oft das Moment von Verschiebungen innewohnt:Vgl. auch Meister Eder und sein Pumuckl, Folge 8: Pumuckl und die Schule. Stolz erklärt Pumuckl dem Meister Eder, was er an seinem ersten Schultag gelernt hat: „Ich kann vorsagen, nachsagen, untersagen und übersagen!“ [TC 20:40] flüsternd hinter vorgehaltener Hand, auf zusammengefalteten Zetteln unter dem Pult, als Karikaturen an den Seitenrändern von Schulbüchern oder im Einschleusen ausserschulischer Objekte. Sie brüskieren den intentionalen, pädagogischen Handlungsraum, indem sie ihn mittels lebensweltlicher Logiken durchkreuzen. Dem ähnlich begreift auch die Erziehungswissenschaftlerin Ina Hermann Heterotopien als „Ausformungen subversiver Praktiken mit illusionärem Charakter, die entblößen, was die Institution verdeckt“ (Hermann 2014: 238). In ihrer Funktion folgen Heterotopien nämlich zwei entgegengesetzten Tendenzen: Sie bilden entweder einen Illusionsraum, der sich auf alle anderen Räume bezieht, indem er sie als noch illusorischer denunziert, oder aber sie schaffen eine perfekte Ordnung, die den realen Raum zu kompensieren vermag (vgl. Foucault 1992: 45). Die Manöver des Soufflierens oder mit Spickzetteln können exemplarisch für Momente der erstgenannten, entlarvenden Illusionsräume herangezogen werden. Denn sie tricksen Regeln aus, legen aber gleichermassen offen was an Schulen implizit immer auch noch mitgelernt wird. Hermann begreift die Heterotopie zudem als einen Gegenraum, „der entweder das ausserschulische Leben oder gar eine dritte Form – neben Leben und Schule – repräsentiert.“ (ebd.: 240) Dass Tricks von Schüler*innen oft auf Lebensweltliches referieren, wurde nun oben schon hervorgehoben. Was jedoch könnte mit dieser etwas kryptischen Formulierung der „dritten Form“ gemeint sein? Noch einmal soll an die Strategien institutionskritischer Kunst angeknüpft werden, denn im strategischen Aufsuchen von Nischen, dem Agieren aus dem Versteck heraus findet sich Verbindendes mit den Tricks. Wohlgemerkt geschehen Tricks nicht aus einem bewusst kritischen Impetus heraus, sondern meist aus Not, Langeweile oder Spass. Dennoch lassen auch sie auf detaillierte Kenntnisse des institutionellen Systems schliessen.

Nehmen wir ein Beispiel aus der Trickkiste von Schüler*innen: Eine Gruppe von Schüler*innen erklärt einer Vikarin, es sei die Regel, jeweils während den ersten zehn Minuten der Bibliotheksstunde mit den – von der Klasse im textilen Werken selbst genähten – Kissen, in den Leseecken eine Kissenschlacht zu veranstalten. Hier wird affirmativ in der harmlosen Gestalt eines weiteren, kleinen schulischen Rituals, ein Trick erfunden, um die Vikarin an der Nase herumzuführen. Er soll sich möglichst unauffällig in die Reihe der Schulrituale einfügen. Derart getarnt soll der Trick für die Vikarin als solcher nicht lesbar sein. Anderseits lassen sich durch diesen Trick hindurch gleichermassen schulische Regeln erkennen, nämlich dass man in der Bibliothek nicht herumtollen soll und die Kissen als symbolische Verweise für Entspannung und Ruhe stehen (vgl. Kellermann/Wulf 2009: 177).

Folgt man dem französischen Philosophen Jacques Rancière, stellen die oft seltsamen ästhetischen Formen, in denen sich Widerstand zeigt, gar die Bedingungen dar, durch die hindurch das Nichtakzeptieren von Normen und Regeln erst bezeugt wird (vgl. Rancière 2004: 83f.). Die Strategie dieses Nebeneinanders von Verrätseln oder Tarnen auf der einen Seite und dem Explizieren von Regeln oder Werten auf der anderen Seite, liesse sich mit Rancière als Collage zweier unterschiedlicher Logiken begreifen, als „principle of a ‘third’ aesthetic politics“ (vgl. Rancière 2004: 84). Rancière führt dieses künstlerische Prinzip auf zwei Entwicklungslinien in den Künsten zurück: einerseits auf die Entgrenzung von Kunst hin zum Alltag, aus der spezifische Formen der politischen Intelligibilität hervorgehen und andererseits auf die politische Energie, die sich in der Ablehnung des Ästhetischen durch das Alltägliche versteht. In diesem Zusammenhang bringt er auch den Begriff des Displacements ein, als das Erwirken versteckter Verbindungen zwischen diesen vordergründig entgegengesetzten Welten (Rancière 2004: 85). Die „dritte Form“ liesse sich damit als ein räumliches, ästhetisches Verfahren begreifen, das im Dazwischen zweier Logiken agiert. Über die Tricks lässt sich zusammenfassend festhalten: Sie vereinen clever die Logiken alltagbezogener Verfahren mit denen der schulischen Bedingungen. Sie speisen sich aus dem Spiel mit den Ordnungen und stellen eine Art Überschuss dar mit eigener Ästhetik. Damit gelingt es, die an Schulen dominante Form des Verstehen-Machens auszuhebeln (vgl. Rancière 2004: 83).

Mit diesen – doppelspurigen – Verfahren soll noch einmal an Brohl und das „Lesen eines Ortes durch einen anderen Ort“ angeschlossen werden. Verbindendes findet sich in der Unterscheidung von alltäglichem und schulischem Raum. Während jedoch Brohl diese Unterscheidung als Aufteilung in zwei Orte ausgestaltet, eröffnet die Kontextualisierung der Tricks eine Perspektive auf die Methodisierung des Displacements, welche diese beiden Ausrichtungen in den unterschiedlichen Raumverweisen von Praxen selbst erkennt, die nunmehr an Ort und Stelle unterschiedliche Räume zu vereinen, ineinanderzuschieben oder zu collagieren vermögen.

Die Erfahrung solcher Verschiebungen und der reflektierende Gehalt, der daraus hervor geht, stand im Mittelpunkt des im Folgenden dargestellten Seminars Lernen am/als/durch Raum.Das Seminar fand im Frühlingssemester 2018 statt. Es wurde vom Margot Zanni und Laura Zachmann konzipiert und an der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt. Als schulisches Displacement fand es ausgelagert aus dem Hochschulcampus im Rahmen einer Zwischennutzung in der ehemals privaten Villa Bellerive statt. Die Villa war während der letzten Jahrzehnte Teil des Kunstgewerbemuseums Zürich und nun leergeräumt für das hier geplante, neue Zürcher Architekturzentrum (ZAZ).

Vom Bellerive aus wurden analog zum Konzept von Site/Nonesite Exkursionen hin zu Schulhäusern unterschiedlicher Bauzeiten unternommen. Die Ergebnisse der künstlerischen Recherchen an den Schulhäusern wurden anschliessend in den (Wohn-) Räumen der Villa mit ihrem privaten Charakter Gegenstand eines situativen Einräumprozesses. Im Sinne einer Differenzbildung sollten aus den Übersetzungen des an Schulen Vorgefundenen in den Kontext der Villa gewisse Aspekte der Wirkungsweise schulräumlicher Anordnungen noch einmal stärker hervortreten und damit der Reflexion zugänglicher werden. Im Hinblick auf die künftige Lehrtätigkeit der Studierenden wollten damit methodische Impulse gegeben und auch emanzipatorische Bildungspotentiale angeregt werden.

LERNEN AM/ALS/DURCH RAUM

Durch die Schulhäuser führten verschiedene Akteure des Schulraums, einmal die Schulleitung oder wiederum der technische Hausdienst. Deren Erzählungen und Erklärungen folgten jeweils ganz unterschlichen Verständnissen des Schulraumes und bildeten ein Nebeneinander von manchmal repräsentativen Ausführungen über Baustil oder Besonderheiten der Architektur und wiederum eher erfahrungsbasiertem, situativem Wissen. An diesen unterschiedlichen Perspektiven auf die Inszenierungen schultypischer Objekte und deren Anordnungen formierte sich bei den Studierenden ein Beobachtungschwerpunkt und schliesslich eine weiterführende künstlerische Recherche. Die dabei entstandenen Bilder, Skizzen, Protokolle, Dokumente wurden anschliessend in den Räumen des Bellerive inszeniert. In diesem Einräumprozess ging es um das situative Übersetzen schulräumlicher Anordnungen in die Räume der Villa.

Auch in die Vorbereitung des Seminars gingen einzelne räumliche Setzungen ein, die auf den Schulraum referierten: So wurde ein Zimmer als Unterrichtszimmer mit Frontalanordnung hergerichtet, ein weiteres mit einem Stuhlkreis, auch eine Garderobe, eine portable Wandtafel und einige Rollen wachsbeschichteten Einfasspapiers waren Teil des Settings. Diese Setzungen referierten auf Bekanntes aus dem Schulraum, stellten oft auch eine Verbindung zur eigenen Schulzeit her, wirkten aber durch die kontextuelle Verschiebung in das ehemalige Wohnhaus ein bisschen wie im Modus des „als-ob“ und forderten dadurch auf, sie anders zu nutzen. So wurde beispielsweise die Garderobe in einer der einführenden Übungen zum Sportgerät zweckentfremdet, um andere Choreographien von Unterricht zu erproben.

Ein wichtiges Konvolut in diesem Einräumprozess stellte die Fundgrube des vormaligen Museums Bellerive dar. Diese Ansammlung verlorengegangener Dinge hatten wir zufällig während der Recherche gefunden. Sie befand sich in einer Art Rumpelkammer. Auch dieser Fundort ermöglichte, eine Verbindung zum Schulraum zu ziehen, wo sich Fundgruben meist auch etwas versteckt an peripheren Orten, vielleicht zuunterst im Treppenhaus befinden. Dort versammeln sie aus ihren Handlungszusammenhängen herausgelöste Objekte, einzelne Finken, Mützen, Hefte oder Bücher zu sonderbaren Displacements. Die Fundgrube des Bellerives enthielt folgende Dinge: ein Stück Gartenschlauch, eine Sonnenbrille, einen Lieferschein und eine halbvolle Wasserflasche. Als Leftovers verwiesen sie auf Vergangenes und liessen diesbezüglich Spekulationen zu, evozierten aber auch Erinnerungen an die eigene Schulzeit: jemand erzählte von einer hässlichen Mütze, die sie als Kind jeweils absichtlich ‘verlor’, indem sie sie heimlich in die Fundgrube der Schule legte. Die Schilderung dieses Versuchs sich der Mütze mit doch nur halbwegs schlechtem Gewissen – weil eben bloss temporär – zu entledigen, führte auch zur Frage nach den Besitzständen im Schulraum. Wem gehören die schulischen Gegenstände? Früher waren Schulbücher mit Listen versehen, aus denen hervorging, welchen Schüler*innen das Buch in den vorangegangenen Jahren nacheinander ‘gehörte’. Gelegenheit für eine legitime Aneignung schulischer Objekte gab es nur selten: Dass ein schulisches Objekt nachhause ins Kinderzimmer fand, musste meist irgendwie erarbeitet werden. Daran anknüpfend liesse sich fragen, inwiefern sich, durch die nun andere, private Umgebung, der Blick auf den Gegenstand verändert und umgekehrt, was sich an dieser Blickverschiebung wiederum über die Inszenierung der Gegenstände im schulischen Kontext feststellen liesse. Diese Fragen standen denn auch übergreifend für den Zusammenhang des Einräumprozesses im ehemaligen Wohnhaus Bellerive. Die dabei zur Anwendung kommenden künstlerischen Praxen nahmen performative oft auch installative Formen an. So wurden in der Eingangshalle des Bellerives mit Malerklebeband Markierungen und Linien angebracht. Sie lenkten die Assoziationen hin zu Turnhallenböden, aber auch zu Bühnenmarkierungen. Während jedoch die Streifen von Turnhallen den Normen von Spielfeldern Folge zu leisten haben und die Bühnenmarkierungen räumliche Fixpunkte eines Stücks darstellen, setzten sich die Linien im Bellerive an den Wänden fort und eröffneten Raum für Spiele und Spielregeln, die erst noch erfunden werden mussten. Sie bildeten Probebühnen differenter Lernräume. Jemand anderes präsentierte die Skizzen baulicher Details eines der besuchten Schulhäuser. Für die Präsentation wurde nach formal-ästhetisch analogen Raumsituationen im Bellerive gesucht: So führte der Blick durch den Türbogen zum Salon auf der Zeichnung in den Korridor eines Schulhauses der Heimatstilbewegung. Die gezeichneten Gewölbebögen des Korridors und die situative Präsentation der Skizze im Durchgang zum Salon, stellten eine Verknüpfung der beiden Gebäude her und liessen so von einem Raum in den anderen und wieder zurückschauen. Beide Beispiele führten das Prinzip des Collagierens unterschiedlicher Räume verschieden vor und evozierten einen ausgelagerten dritten Raum, der sich in Varianten immer wieder neu ausgestalten liess.

Ein anderes Beispiel: In einer der leeren Vitrine des Bellerives waren, sorgfältig ausgelegt und geometrisch ausgerichtet, weisse Schrifttäfelchen. Die blanken Schilder bezeichneten nichts, vielmehr verwies die Auslegeordnung und die Vitrinie insgesamt auf ein Grundprinzip schulischen Zeigens: Seit Comenius „Orbis sensualium pictus“ erhält die ungeordnete Welt in Form von Bilderlexika oder beschrifteten Wandbildern geordnet Einlass ins Schulzimmer. So gesehen referierten die weissen Schilder als Leerstellen auf das, was keiner der Kategorien zugehörig ist und nicht Einlass erhält, auf einen Rest, der in den bestehenden Ordnungen nicht aufgeht.

Daran anknüpfend sei noch einmal auf den Begriff der Heterotopie zurückgekommen, diesmal aber nicht in der Bedeutung, wie er von Foucault im berühmten Radiovortrag verwendet wird, sondern so, wie er ihn im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge ein allererstes Mal verwendet. Dieser Einführung des Begriffs stellt Foucault eine absolut sonderbare Aufzählung voran, die er Jorge Louis Borges entlehnt: In einer „gewissen chinesischen Enzyklopädie“ teilt Borges nämlich Tiere folgenden Kategorien zu: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, [...]“ (Foucault 2012: 17). Während diese Kategorien zu einem Ordnen und Unterscheiden auffordern, fehlt gleichermassen das Terrain, der „Operationstisch“ (ebd.: 19) auf dem das Ordnen und Klassifizieren der Tiere einen Sinn erlangte. Foucault hält der chinesischen Enzyklopädie dennoch einen Möglichkeitsraum bereit: im Mythos China als dem westlichen, imaginierten Bild einer sich endlos ausdehnenden Landschaft, würden nunmehr alle Tiere ihren Ort finden und auf seltsam verschlungenen Wegen miteinander verbunden sein. Auf dieses Beispiel angewandt verwendet Foucault nun den Begriff der Heterotopie als eine „Unordnung, die die Bruchstücke einer grossen Zahl von möglichen Ordnungen [...] aufleuchten lässt.“ (ebd.: 20) Im Seminar sollte gerade der provisorische und temporäre Charakter des Einräum- oder Umräumprozesses hinsichtlich normierender Wirkungsweisen des Schulraumes eine kontrastierende Erfahrung bereithalten. In der leeren, noch unbespielten Situation der Villa sollte sich am Variieren, Verdrehen und Verrücken schulischer Klassifikationen, ein ästhetischer Gestaltungspielraum eröffnen. Während der Rundgänge durch die Schulen rückten dabei auch zunehmend unordentliche Räume in den Fokus, so etwa die Dachstöcke mit ihren sonderbaren Materialassemblagen: alte Wandtafeln, ausgehängte Türen, Fahnenstangen oder Wandbilder verwiesen auf vergangene, andere Einrichtungen. Als Displacements war ihnen nunmehr auch die zeitliche Dimension eingeschrieben und sie muteten wie Zeitkapseln an. Dass alles einmal anders war und wohl auch immer wieder anders sein wird, zeigte sich auch am Beispiel von historischen Darstellungen von Bildungssituationen, wie sie in älteren Schulhäusern auf Reliefs, Mosaikbildern oder Wandmalereien vorzufinden sind. Beim Versuch diese performativ nachzustellen, wurde die Anstrengung, die mit dem Verkörpern der dargestellten Bildungsideale einher geht, physisch erfahrbar.

ANDERE RÄUME

Dass sich die Differenzbildung auch aus der historischen Dimension schulischer Räume begreifen lässt, zeigte sich im Weiteren beim Blick in Schulzimmer: im Schulhaus Wollishofen, einem klassizistischen Schulgebäude aus der Gründerzeit, findet in denselben Räumen, die einst für eine Klasse von hundert Kindern gebaut wurde und wo in am Boden festgeschraubten, auf die Tafel ausgerichteten Schulbänken gelehrt und gelernt wurde, heute der Unterricht nach dem sogenannten Churermodell statt, welches flexible Arbeitsplätze und modulare Raumeinrichtungen voraussetzt.

Dem Umnutzen oder Umräumen an Schulen liesse sich zudem am Beispiel reformistischer Tendenzen anfangs des letzten Jahrhunderts nachgehen, als in Schulkorridoren nicht nur Pflanzen Einzug erhielten, sondern oft auch Tiere (vgl. Göhlich 2009: 98). Andererseits richteten sich die privaten Reformschulen oft nicht in Schulhäusern ein, sondern – meist notgedrungen – in alltäglichen oder zumindest für andere Zwecke bestimmten Räumen. Ein Beispiel: Im Dorf Châble im Kanton Wallis zog 1897, als Reaktion auf Diskriminierungen nicht katholischer Kinder, am College im benachbarten Dorf Bagnes, eine kleine libertäre Schule für 27 Schüler*innen „dans une salle du café de Justin Deslarzes“ ein (vgl. Deslarzes-May 2000: 19). Zwar transportiert das Bild dieser Situation primär den Eindruck des Prekären, aber zumindest liesse sich an solchen Beispielen hypothetisch auch nach den ästhetischen Bildungsmomenten fragen, die sich in der aktiveren Form dieser Raumaneignung oder -umnutzung begründeten.

Zu untersuchen wäre dies vielleicht auch an einem etwas prominenteren Beispiel, der Laboratory School von John Dewey. Die folgenden Zeilen richtete er vier Wochen vor der Eröffnung an die künftige Lehrerin Clara Mitchell: „I have found 3 rooms in a private house, south exposure, quite a large yard, front, side&back. [...] What do you think about the best way of seating the children - separate, desks, tables of a few big tables or what?“ (zit. in: Oelkers 2009) Dass seine Schule im ersten Jahr fünfmal umziehen musste (vgl. ebd.), lenkt die Aufmerksamkeit wiederum auf die soziale Dimension solcher Ein- und Umräumprozesse – möglicherweise im Rahmen schulischen Alltags – und lässt sie im Licht der Erfahrung eines gemeinsamen, situativen Raumkonstituierungsprozesses an den Grenzen zwischen Schule und Lebenswelt erscheinen. Kunstpädagogik bietet die Mittel, um solche Grenzen zu behandeln. Widersprüche, die aus dem Aufeinandertreffen von einerseits normierenden schulischen Bedingungen und andererseits dem Bedürfnis nach Anknüpfungspunkten an die Lebenswelt hervorgehen, können so in einen ästhetischen Verhandlungsraum überführt werden. Ein- oder Umräumprozesse, wie sie auch im Rahmen des Seminars stattfanden, bieten diesbezüglich die Erfahrung eines Möglichkeitsraumes an, der seine Bedingungen aber immer auch mitbefragt. Sie bewahrt vor allzu distopischen Bildern der Schule als Normierungsmaschine, schärft aber auch den kritischen Blick hinsichtlich kompensatorischer Entwürfe der Reform. Vielmehr zeigt sie auf, dass schulische Räume immer wieder anders begriffen wurden und wohl auch werden. Genau dies kann als Beleg für einen Gestaltungspielraum herangezogen werden.

LITERATUR

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FILME

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Kurzbiografien der Autor_innen: