Fraglich-werden
Abstract:
Unsere Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsgewohnheiten werden erschüttert, wenn uns etwas fraglich wird, das wir bislang als fraglos vorausgesetzt haben. Dabei handelt es sich nicht um Fragen, die mit ja oder nein zu beantworten sind oder um Quizfragen, die nur eine Möglichkeit zulassen. Eine fruchtbare Unruhe geht vielmehr von Fragen aus, die sich stellen, ohne dass sie unbedingt von jemandem gestellt werden. Während eine Antwort von jemandem gegeben wird, kann sich eine Frage aufwerfen. Sie kann uns belästigen. Sie stößt uns zu und ist dadurch verwandt mit dem Staunen, das oft den Einsatz zur Umstrukturierung des Erfahrungsfeldes gibt. Fragen und Staunen sind Beziehungen zur Welt, mit denen Lernen von etwas Neuem anfängt. Sie drängen sich auf, weil etwas fraglich wird. Das geht über die Sachfrage und die Bittstellung durch Anfragen hinaus. Fraglich-werden ist wie das Staunen ein Ereignis, ein uneinholbares Widerfahrnis, mit dem ein Anfang mit mir gemacht wird, ehe ich einen Anfang mache.

Es gibt zahlreiche verschiedene Arten des Fragens. Wir können anfragen, befragen, nachfragen, hinterfragen, rückfragen und vieles mehr. Bernhard Waldenfelsʼ Buch „Antwortregister“ kann auch als Abhandlung über Frageregister gelesen werden (vgl. Waldenfels 1994: 161). Hier findet man eine eindrucksvolle Fülle von Arten der Fragen und Möglichkeiten, sie zu analysieren (vgl. insbesondere ebd.: 152-186). Manche Fragen können wir mit Ja oder Nein beantworten. Andere nötigen zur Wahl einer Möglichkeit, wie etwa Quizfragen. Wieder andere bleiben dauerhaft beunruhigend. Vieles ist fragwürdig. Im Adjektiv fragwürdig klingt ein beunruhigender Doppelsinn an. Etwas kann der Frage würdig sein, etwa die Frage nach dem Lebensende. Fragwürdig kann aber auch bedeuten, dass wir misstrauisch geworden sind, dass ein Vorgehen Zweifel aufwirft. Fragen ist demnach ein mehrdeutiges Phänomen, das nicht nur geschätzt wird. Die Bedenklichkeit des Fragens reizt zum genaueren Hinsehen.

1.  Sokrates – der Nichtwissende

Sokrates wusste, was er nicht wusste, und nicht, dass er nichts wusste. Er stellte Fragen im Bewusstsein, die richtige Antwort nicht in petto zu haben. Ihm blieb und wurde manches fraglich. Der Dialog Menon kann diesen Zusammenhang veranschaulichen (vgl. Platon 1990). Er ist der Frage gewidmet, ob Tugend lehrbar sei. Wie gewohnt landen die ersten Bemühungen um die Bestimmung dessen, was Tugend sei, in einer Aporie. Diese Ausweglosigkeit entlarvt das vermeintlich sichere Wissen als Scheinwissen, ohne bereits ein neues Wissen anzubieten.

Sokratesʼ Dialogpartner Menon wird in einen Zirkel manövriert, indem er Tugend als Gerechtigkeit definiert, die doch selbst ein Teil der Tugend ist. Sokrates wirft ihm vor, er „zerkrümele“ (Platon 1990: 79 a) die Tugend. So komme er niemals darauf, was Tugend im Ganzen sei. Er beantworte die Frage lediglich mit dem, was es noch zu suchen gelte. Menon gibt seine Verwirrung zu und hält Sokrates den Spiegel vor:

„O Sokrates, ich habe schon gehört, ehe ich noch mit dir zusammengekommen bin, daß du allemal so selbst in Verwirrung bist und auch andere in Verwirrung bringst. Auch jetzt kommt mir vor, daß du mich bezauberst und mir etwas antust und mich offenbar besprichst, daß ich voll Verwirrung geworden bin, und du dünkst mich vollkommen, wenn ich auch etwas scherzen darf, in der Gestalt und auch sonst jenem breiten Seefisch, dem Krampfrochen, zu gleichen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren. […] Denn in der Tat, an Seele und ‚Leib‘ bin ich erstarrt und weiß dir nichts zu antworten, wiewohl ich schon tausendmal über die Tugend gar vielerlei Reden gehalten habe vor vielen und sehr gut, wie mich dünkt.“ (Ebd.: 80 a-b)

Aber Sokrates ist durchaus nicht vollkommen, wie sich bald herausstellen soll. Für ihn ist entscheidend, dass auch er selbst in Verwirrung gerät, wenn er andere verzaubert: „Denn keineswegs bin ich etwa selbst in Ordnung, wenn ich die anderen in Verwirrung bringe; sondern auf alle Weise bin ich selbst auch in Verwirrung und ziehe nur so die anderen mit hinein.“ (Ebd.: 80c-d) Sokrates weiss keineswegs, was Tugend ist, weil man es vielleicht überhaupt nicht mit dem Anspruch auf sichere Erkenntnis wissen kann. Er ist als Wissender unwissend. Menon dagegen hat es zu wissen gemeint, bevor Sokrates ihn „verzauberte“ (ebd.: 80 c-d). Danach ist auch er zum Nichtwissenden geworden. Als solche begegnen sich hier zwei Lernende: der Sklave und Sokrates. Damit stellt sich jedoch sofort das nächste Problem, denn wenn man nicht weiss, wie soll man dann nach einer Antwort suchen? Sokrates geht von dieser aporetischen Situation aus. Er will gemeinsam mit Menon die Frage nach der Tugend und ihrer Lehrbarkeit klären, ohne selbst zu wissen, was Tugend ist. Menon ist skeptisch und gibt zu bedenken:

„Und auf welche Weise willst du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überall gar nicht weißt, was es ist? Denn als welches besondere von allem, was du nicht weißt, willst du es dir denn vorlegen und so suchen? Oder wenn du es auch noch so gut träfest, wie willst du dann erkennen, daß es dieses ist, was du nicht wußtest?“ (Ebd.: 80 d)

Sokrates nimmt diesen streitsüchtigen Satz auf und gibt ihm durch seine eigene Formulierung eine zusätzliche Schärfe:

„Daß nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann, weder, was er weiß, noch was er nicht weiß. Nämlich weder was er weiß, kann er suchen, denn er weiß es ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiß, denn er weiß ja dann auch nicht, was er suchen soll.“ (Ebd.: 80 e)

Diese Zuspitzung, die Suchen und Finden absolut setzt, erlaubt es Sokrates, jene, welche diesen Satz beherzigen, als Weichlinge zu beleidigen, die nur zu bequem sind, zu forschen und tätig zu sein. Es folgt die Erläuterung der Anamnesis, der Wiedererinnerung. Bei seiner Geburt büsst der Mensch seine Teilhabe am Ideenreich zu grossen Teilen ein. Als leibliches Wesen ist er dem Vergessen ausgesetzt. Vergessen meint im Sinne von Sokrates den Verlust von Wissen. Erinnern bedeutet umgekehrt das Empfangen bzw. das Finden oder Hervorholen von Erkenntnis. Dieses Finden setzt eine eigentümliche Suche voraus, die selbst bereits eine Art von Finden ist, wie die Fahndung nach dem Wort, das uns sprichwörtlich auf der Zunge liegt. Quälend ringen wir um Erinnerung. Wenngleich uns jedoch der gesuchte Name nicht einfällt, sind wir dagegen sicher, welche Namen wir nicht suchen. Deswegen hat auch das Erinnern etwas Unheimliches; denn es stellt uns vor das Rätsel, wie wir etwas aus uns selbst hervorholen können, von dem wir nicht wissen, dass wir es haben. Erinnern konfrontiert uns mit der uns eigenen Fremdheit für uns selbst.

Das nun im Dialog folgende Beispiel stammt aus der Geometrie, die bereits zuvor in engem Kontakt mit der Frage nach der Tugend eine Rolle spielt. Beide Gebiete repräsentieren eine Art Messkunst. Beide fungieren als Herrschaft über die Sinne. Menon ruft einen Sklaven herbei, der im Hause erzogen wurde und deshalb „hellenisch“ (ebd.: 82 b) spricht und versteht. Sokrates zeichnet (in den Sand?) ein Quadrat mit einer Seitenlänge von zwei Fuss. Der Sklave erkennt die geometrische Figur. Sokrates legt ihm nun eine durchaus nicht triviale, sondern damals auch die Mathematiker beunruhigende und herausfordernde Problematik vor. Der Sklave soll nämlich dieses Quadrat in seinem Flächeninhalt verdoppeln, ohne dass es seine Gestalt verändert. Vor dem Hintergrund der damaligen Mathematik bedeutet dies, dass nach einer Lösung zu suchen ist, die über das Gebiet der zählenden Zahlen hinausgeht. Das doppelt so grosse Quadrat müsste nämlich über der Diagonalen konstruiert werden, die nach dem Lehrsatz des Pythagoras als die Quadratwurzel aus acht berechnet werden muss. Diese Zahl ist eine damals noch nicht bekannte Zahl mit elf Stellen hinter dem Komma. Der Sklave wendet die ihm vertraute Gnomonmathematik an, welche die Sonnenuhr als geometrisches Modell der Welt voraussetzt (vgl. Serres 1994: 120ff.). Dabei behandelt man das Quadrat, als könne es Schatten werfen. Der Vorgeführte gerät damit in vollständige Ratlosigkeit. Wenn er das Quadrat verdoppelt, wie es die Gnomonmathematik ermöglicht, wird das grössere durch eine schattenartige Ergänzung des kleineren konstruiert. Zwei Möglichkeiten sind in der pythagoreischen Algebra denkbar: Eine Seitenlänge von drei Fuss und eine von vier. Errechnet hat er bereits korrekt, dass die gesuchte Fläche zweimal vier Fuss, also acht Fuss messen muss. Seine anschauliche Lösung, nämlich die Seitenlänge zu verdoppeln, führt allerdings im Sinne der euklidischen Geometrie in die Irre, wie er durch eigene Rechnung bestätigen kann: Vier Fuss mit vier Fuss multipliziert ergibt sechzehn Fuss. Die gesuchte Zahl muss also kleiner sein. Nach der pythagoreischen Zahlentafel ist die nächste kleinere Zahl die drei. Aber auch neun Fuss ist nicht die gesuchte Lösung. Es gibt keine ganze Zahl, die mit sich selbst multipliziert acht ergibt. Das angestrebte Ergebnis muss aber acht Fuss lauten. Jede unmittelbare anschauliche Lösung gerät in eine Ausweglosigkeit, allerdings nicht nur für den Sklaven. Sokrates, der Zitterrochen, kennt die vertrackte Situation, und er fordert den Sklaven auf: „Von welcher [Seite aus] also, das versuche doch uns genau zu bestimmen; und wenn du es nicht durch Zählen willst, so zeige uns nur, von welcher.“ (Platon, 1990: 83c, 84a) Sokrates weiss, dass die Bestimmung der Diagonalen, über welcher das doppelt so grosse Quadrat konstruiert wird, Probleme aufwirft, weil sie nicht mit Zahlen zu zählen ist. Auch Sokrates kennt keine solchen Zahlen. Er kann ebenfalls nur zeigen, aber keine Zahl angeben. Aus dem ihm vertrauten Umgang mit der Gnomonmathematik war der Sklave bislang davon überzeugt, durch eine schattenartige Ergänzung Flächen wie bei der Landvermessung unproblematisch vergrössern zu können, ohne dass diese Flächen ihre Gestalt verlieren. Sokrates wird vom Sklaven gleichsam an die vergessenen Möglichkeiten der Gnomonmathematik erinnert, der Sklave an die Grenzen unmittelbar anschaulicher Lösungen. Beide sind benommen: Menon, weil er sich als Nichtwissender in der Sache erkennt, Sokrates, weil er sich als Unwissender im Hinblick auf eine andere Weise des Wissens durchschaut. Das Bild des narkotisierenden Fischs ist also keinesfalls kokett gemeint. Der Fortschritt in der Anamnesis bedeutet, dass der Sklave zwar noch immer nicht weiss, welche Seite das doppelt so grosse Quadrat bestimmt, „allein er glaubte damals, es zu wissen, und antwortete dreist fort als ein Wissender und glaubte nicht in Verlegenheit zu kommen. Nun aber glaubt er schon in Verlegenheit zu sein, und wie er es nicht weiß, so glaubt er es auch nicht zu wissen.“ (Ebd.: 84 a-b) Diese Verlegenheit, welche der Zitterrochen verursacht, fordert den Sklaven zum weiteren Suchen auf, weil er sich jetzt nach Wissen sehnt. Gemeinsam mit Sokrates kommt er nun doch auf einem umständlichen, aber anschaulichen Weg zur Lösung, indem er von dem vierfach so grossen Quadrat ein zweifach so grosses entfernt, nämlich vier halbe Quadrate in Dreiecksform. So bleibt das Quadrat über der Diagonalen zurück, ohne dass deren Länge beziffert werden müsste. In dem Nichtwissenden also sind von dem, was er nicht weiss, dennoch richtige Vorstellungen, „welche, durch Fragen aufgeregt [aus dem Schlaf geweckt], Erkenntnisse [epistemai] werden, […].“ (Ebd.: 86a) Damit führt Sokrates seinen Beweis zu Ende. Noch befindet sich der Sklave in einer Art Traum, aus dem er gerade erwacht. Aber bald wird er durch Wiederholung und Übung an Sicherheit gewinnen. Während Aristoteles später davon ausgeht, dass jeder Mensch nach Wissen strebt, befasst sich Platon mit dem Problem, wie überhaupt ein Begehren nach Wissen entstehen kann, was wohl bis heute die grösste Schwierigkeit beim Lehren ist.

Heinz von Foerster verachtet Schulen als „Trivialisierungsanstalten“ (von Foerster 1999), in denen das Begehren nach Wissen keinen Ort hat und in denen die Schüler*innen lernen, auf einen bestimmten Input mit einem ebenso bestimmten Output zu reagieren. Trivialmaschinen sind Reiz-Reaktions-Systeme ohne jede Überraschung und ohne jede Erschütterung: 2 x 2 = 4. Absolut unerwartete Antworten wie „2 x 2 = GRÜN“ werden nicht ernst genommen, obgleich eine diesbezügliche Diskussion viele Besonderheiten von Zahlen zu Tage fördern könnte. Die Rede, dass man einen Weg in null Komma nichts hinter sich bringe, befremdet nicht mehr. Von Foerster nennt „eine Frage, deren Antwort bekannt ist, eine ‚illegitime Frage‘“ (von Foerster 1993: 208) und fragt sich: „Wäre es nicht faszinierend, ein Bildungssystem aufzubauen, das von seinen Schülern [und Schüler*innen] erwartet, Antworten auf ‚legitime Fragen‘ zu geben, d. h. auf Fragen, deren Antworten unbekannt sind […]?“ (Ebd: 208) Was aber heisst unbekannt? Es gibt Fragen, die noch nicht, aber grundsätzlich zu beantworten sind. Vielleicht zählt die Frage nach dem Anfang unseres Universums dazu. Es gibt aber auch solche, deren Antwort vermutlich dauerhaft aussteht. So wird es vermutlich auf immer „unverständlich bleiben, wie Bedeutung und Intentionalität Molekulargebäude oder Zellenhaufen zu bewohnen vermögen“ (Merleau-Ponty 1966: 402). Es bleibt ein Rätsel, wie ein Gehirn Gedanken hervorbringt, wenn man sich nicht durch die Sprachmagie eines denkenden Gehirns verzaubern lässt. Unbekannt war die Lösung der geometrischen Aufgabe sowohl für den Sklaven als auch für Sokrates. In beiden Fällen setzt keine Antwort einen Schlusspunkt, sodass weiter gefragt werden kann, dass Unruhe bleibt. Die Fragestellung eröffnet Möglichkeiten, über Zahlen nachzudenken, insbesondere über jene, mit denen man nicht zählen kann.

2.  Fragen, die sich aufwerfen

Auch wenn wir als Lehrende davon überzeugt sind, dass wir Wissen nicht eröffnen, indem wir es eintrichtern, verfallen wir doch unter dem Druck der Zeit und der Forderung nach Effizienz nicht selten in die Attitüde des Informierens. „Der Lehrer fragt, was er weiß – und was er paradoxerweise durch FRAGEN weitergeben will.“ (Rumpf 2009: 232) Die Sachfrage ist vorherrschend. Der Vorsprung der Lehrperson ist nicht einzuholen. Schüler*innen lernen, was sie noch nicht wissen. Lehrpersonen könnten lernen, was sie nicht mehr sind. Meine Kindheit und Jugend bleiben eine eigentümliche Vergangenheit, die in erster Linie für die Anderen Gegenwart war. Nichts ist so schwierig, wie beim Lehren das Vorwissen der Lernenden zu ermitteln. Wir sind darauf angewiesen, dass es sich zeigt. Empfänglich werden wir gerade dann, wenn wir nicht nach Beständen Ausschau halten, die bereits einen Weg zum Neuen bahnen, sondern nach Überzeugungen fahnden, die dem Neuen im Wege stehen. Die Unmöglichkeit, mit den Augen eines Kindes oder Jugendlichen zu sehen, nötigt uns dazu, uns dem Befremdlichen auszuliefern. Jan Hendrik van den Berg erzählt eine kleine Herbstgeschichte, in der ein Junge bei einem gemeinsamen Spaziergang seinen Vater fragt: „Papa, warum sind die Blätter rot?“ (van den Berg 1960: 70). Ohne grossartig nachzudenken, antwortet der Vater: „Weil es kalt wird.“ (Ebd.). Da diese Antwort auch aus der Sicht des Vaters schlicht unbegreiflich ist, bleibt das Kind an seiner Frage kleben. Es folgt ein Warum auf das andere.

Über den Sog der Fragen hinaus kann bei diesem Gespräch durchaus beobachtet werden, dass es der Vater offenbar auch nicht so genau weiss, warum die Blätter im Herbst rot, braun und gelb werden. Die vielen Herbste, die er erlebt hat, haben ihn daran gewöhnt. Das Rätsel ist nicht gelöst, sondern es ist in der Gewohnheit verschwunden. Hier winkt eine Möglichkeit zum gemeinsamen Staunen. Vielleicht verhält es sich sogar so, dass wir als Erwachsene nichts so genau kennen, dass wir nicht doch noch selbst stutzen, stocken und nochmals fragend auf die Sache zurückkommen. Sogenannte legitime Fragen sind keine Rätsel, die gelöst werden können. Sie gleichen auch nicht den Fragen der Lehrpersonen, welche die Antworten schon in der Hinterhand haben. Sie sind geeignet, auch ihnen auf den Leib zu rücken und in Erstaunen zu versetzen.

Ein weiteres Beispiel für die Impertinenz des Fragens finden wir bei einer Hospitation in einer Grundschulklasse. Hier wird die Aufteilung der Zahl 10 mit Hilfe von Plättchen an einer Filztafel geübt. Ganz diszipliniert liegen nach kurzer Zeit Aufteilungen der folgenden Art vor uns:

1.: Zehn Plättchen liegen mit gleichem Abstand auf einer imaginären Linie.

2.: Fünf Zweierpärchen liegen mit gleichem Abstand nebeneinander.

3.: Schliesslich werden drei Dreiergruppen und ein einzelnes Plättchen in gleicher Höhe angeordnet. Wir stören die Ordnungsarbeit eines Schülers und verstreuen die zehn Plättchen wahllos, gleichsam unordentlich über die ganze Fläche der Tafel und fragen, ob man die Zahl 10 auch so aufteilen könne. Der Schüler, der gerade an das Ende seiner Aufräumaktion gekommen ist, blickt uns in einer Mischung aus Skepsis und Ängstlichkeit an und sagt zögernd: „Nein! … Das dürfen wir nicht.“ Damit ist eine Chance verpasst. Unbemerkt hat sich eine Deutungsneigung verselbstständigt und normalisiert. Zahlenordnungen haben ordentlich zu sein. Die einmalige Gelegenheit bleibt ungenutzt, mathematisches Denken zu eröffnen, das durch seine Zeit- und Raumlosigkeit gekennzeichnet ist.

Heinz von Foerster gibt ein weiteres Beispiel für die Trivialisierung von Schüler*innen, die schliesslich nur noch eine Ordnung kennen und einen Blickwinkel. Er schreibt zwei Folgen untereinander.

„A: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9

 B: 8, 3, 1, 5, 9, 6, 7, 4, 2.“ (von Foerster 1993: 198)

Auf den ersten Blick scheint nur die erste Folge einem Ordnungsprinzip zu gehorchen, die zweite nicht. Lernende, die noch nicht zu Reflexapparaten umgestaltet worden sind, kommen vielleicht auf die Idee, statt der Ziffern die Zahlworte zu betrachten: acht, drei, eins, fünf, neun, sechs, sieben, vier, zwei. Die Anfangsbuchstaben verraten das Ordnungsprinzip: a, d, e, f, n, s, s, v, z. Die Reihe B ist alphabetisch geordnet.

Fragen sind nicht immer angenehm. Wer hätte nicht schon einmal vor einer Kaskade von Kinderfragen kapituliert? Fragen löchern uns. Sie bombardieren uns. Sie bestürmen uns. Wir werden mit ihnen überschüttet. Sie quälen uns. Sie setzen uns zu. Sie machen uns renitent und verbockt. Sie konfrontieren uns mit unserer eigenen Hilflosigkeit. Kant hat dieses Behelligen geradezu als Schicksal der menschlichen Vernunft im Hinblick auf gewisse Erkenntnisse bestimmt, dass nämlich die Vernunft „durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (Kant 1983 [1781]: A VII) Dabei handelt es sich um Fragen, die sich stellen und die nicht von jemandem gestellt werden müssen. Im Unterschied zur Antwort, die sich nicht gibt, sondern von jemandem gegeben werden muss, können sich Fragen aufwerfen (vgl. Waldenfels 1994: 142 f.). Sie markieren eine Fragestellung als Feld möglicher Fragen. Sie drängen sich auf, weil etwas fraglich wird. Das geht über die Sachfrage, die Wissenswertes sucht, oder die Anfrage hinaus, die um etwas ersucht (vgl. ebd.: 162). Fraglich-werden ist wie das Staunen ein Ereignis, ein uneinholbares Widerfahrnis, das unsere Aufmerksamkeit weckt. Staunen und Anfangen sind uneinholbare Widerfahrnisse, welche unsere Empfänglichkeit aktivieren. Nicht ich fange etwas an, sondern mit mir wird ein Anfang gemacht. Anfangen ist dabei kaum weniger rätselhaft als das Staunen selbst, meint es doch eher ein Fangen als ein Machen. Der Unwiederbringlichkeit des eigenen Anfangens entspricht die Ohnmacht des Lehrenden. In diesem Moment des Unlehrbaren in jedem Lehren gründet die schwer zu ertragende Hilflosigkeit von Lehrenden, eine geteilte Bodenlosigkeit mit dem Lernenden, aus der sich sämtliche Versprechen im Hinblick auf technische Bewältigung speisen.

 

Literatur

Kant, Immanuel (1983): Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Band 3. 3. Auflage 1983. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 

Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. und durch eine Vorrede eingeleitet von Rudolf Boehm. Berlin, Walter de Gruyter & Co.

Platon (1990): Menon. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Band 2. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Bearbeitet von Heinz Hofmann. Griechischer Text von Alfred Croiset, Louis Bodin, Maurice Croiset, Louis Méridier. 2. Auflage 1990. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Rumpf, Horst (2009): Aufmerksam machen und aufmerksam werden – Unterrichtsauftakte bei Aebli und Wagenschein. In: Bosse, Dorit/Posch, Peter (Hg.): Schule 2020 aus Expertensicht. Zu Zukunft von Schule, Unterricht und Lehrerbildung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 231-236.

Serres, Michel (1994): Gnomon: Die Anfänge der Geometrie in Griechenland. In: Ders. (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 109-175.

van den Berg, Jan Hendrik (1960): Metabletica, Über die Wandlung des Menschen. Grundlinien einer historischen Psychologie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. 

von Foerster, Heinz (1993): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

von Foerster, Heinz (1999): 2 x 2 = GRÜN. 2 Audio-CDs, CD 2. Hg. von Klaus Sander unter Mitarbeit von Thomas Knöfel. 1:44 – 47:58. Köln: supposé.

Waldenfels, Bernhard (1994): Antwortregister. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Kurzbiografien der Autor_innen: