Rassismuskritische Fragmente in Bildungsgefügen
Abstract:
In dem Forschungsprojekt „Rassismuskritische Fragmente in Bildungsgefügen“ führen die angehenden Lehrer*innen Agnes Biya, Luise Ramm und Eva Maria Klein in Zusammenarbeit mit den Künstler*innen Clara Laila Abid Alsstar und Mako Sangmongkhon und mit Unterstützung von Silke Ballath eine Auseinandersetzung dazu, welche Affekte Rassismus auslöst und wie diese artikuliert und künstlerisch verhandelbar werden können. An einem Wochenende im FLORIDA Lothringer13, einem Kunstraum der Stadt München, wurden anhand von gruppendynamischen Prozessen und Gesprächen Perspektiven verknüpft, imaginative Räume eröffnet und Lösungsansätze diskutiert. Wie wird der Ohnmacht begegnet? Was für ein Bewusstsein ist dafür nötig, die eigenen Privilegien und weissen Flecken zu reflektieren? Was benötigt ein Safe Space? Wie werden sensible Räume geschaffen? Wie entsteht Empowerment? Und wie kann diesen Herausforderungen in Bildungsgefügen begegnet werden? In dieser Publikation wird die gemeinsame Arbeit fragmentarisch abgebildet. Sie setzt sich aus verschiedenen Elementen einer künstlerischen Produktion zusammen.

Nach der Teilnahme am Seminar "Situierung zwischen den Stühlen? Praxen, Rollen und Positionen in der Praxis und Zusammenarbeit von Künstler*innen, Lehrpersonen und Kulturagent*innen" bei Silke Ballath an der Universität zu Köln entschieden wir (Agnes Biya und Luise Ramm, Eva Maria Klein luden wir später dazu ein) uns, weiter an unseren Fragestellungen aus dem Seminar zu arbeiten und diese zu konkretisieren. Ein Vorfall im Seminar sowie Erfahrungen in unserem Alltag haben dazu geführt, dass wir uns tiefergehend mit dem Thema Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im schulischen Kontext auseinandersetzten.

Als angehende Lehrerinnen stellen wir uns in der gemeinsamen Arbeit die Frage, wie sich Betroffene in diskriminierungs- oder rassismusrelevanten Situationen in Bildungskontexten fühlen, was jede Person tun kann, wenn sie selbst betroffen ist, sowie, was als Lehrperson zu tun ist, um selbstkritisch damit umzugehen. Ziel ist bei dieser intensiven Auseinandersetzung ein tiefergehendes Verständnis und die Sensibilisierung für komplexe Situationen und Gefüge. Wir untersuchen, welche Verantwortungen mit der Rolle der Lehrperson einhergehen und wie ein angemessener Umgang mit Rassismus und Diskriminierung aussehen kann. Unser Interesse besteht zudem darin, unsere Ideen, Gedanken, Fragestellungen und Lösungsansätze künstlerisch sichtbar zu machen, um auch andere daran teilhaben zu lassen.

Nach einem intensiven Austausch über einen Zeitraum von mehreren Wochen stellten wir uns zunächst die Frage, was rassismuskritische Arbeit an Schulen braucht. In einem ersten Schritt legten wir einen Forderungskatalog aus einer Critical Whiteness- sowie einer BIPoC-Perspektive an. Der Forderungskatalog war eine erste Annäherung, die jedoch unseres Erachtens weitere Perspektiven und Diskussionen benötigte. Daher luden wir in einem nächsten Schritt die Künstler*innen Clara Laila Abid Alsstar und Mako Sangmongkhon ein, uns bei unserem Arbeitsprozess zu unterstützen, zu begleiten und zu beraten, aber auch, in ein künstlerisches Arbeiten zu gehen. In intensiven Gesprächen erweiterten wir gemeinsam mit ihnen zunächst unsere Fragestellungen. Unsere Forderungen waren ein Ausgangspunkt dafür; einen weiteren bildeten konkrete Beispiele aus unseren Erfahrungskontexten, die wir gemeinsam mit ihnen diskutierten, um ihre Perspektiven in unsere Diskussion einzubeziehen.

Schliesslich bauten wir unser Projekt an einem Wochenende in München gemeinsam mit den beiden Künstler*innen aus. Die Einladung ins FLORIDA Lothringer13 war von einem gemeinsam geplanten Programm gerahmt und stellte verschiedene Ideen, die während der vorherigen Gespräche entstanden sind, in den Fokus: Wir erprobten performative Ansätze miteinander, um auf einer nonverbalen Ebene eine angenehme Gruppendynamik herzustellen sowie unterschiedliche Gesprächsformate auszuprobieren. Uns war wichtig, Reproduktionen problematischer Handlungsweisen nachzuspüren, sie zu benennen oder über sie in den Austausch zu kommen. Wir führten Meditationsübungen, Partner*innen- und Gruppenperformances sowie Geschichtenerzählungen entlang von Bildgestaltungen durch. Die jeweiligen Erfahrungen teilten und reflektierten wir miteinander.

Nach diesem eher gestalterischen Prozess führten wir drei voneinander unabhängige Gespräche, in denen wir jeweils ein Beispiel von Rassismus im schulischen Kontext diskutierten. Clara Laila Abid Alsstar und Mako Sangmongkhon waren hier Gesprächspartner*innen, die auf unsere Beispiele reagierten und ihre Gedanken dazu mit uns teilten. Entlang der Beispiele formulierten wir gemeinsam mögliche Lösungsansätze. Zwei Beispiele aus einem der Gespräche sind in diesem Beitrag aufgeführt. Wir haben zudem das gemeinsame Wochenende fotografisch festgehalten. Ausgehend von der Betrachtung der Bildersammlung, sowie im Gespräch über das Wochenende und die Thematik, ist eine Collage entstanden. Das fragmentierte Zusammenfügen stellt den Prozess unserer Zusammenarbeit dar und zeichnet die Verknüpfungen unserer Positionen nach. Vertrauen und Achtsamkeit sind dabei wichtige Bestandteile des collagierenden Prozesses, die wir an dieser Stelle hervorheben möchten.

Collage

Kollektives Collagieren von Agnes Biya, Eva Maria Klein und Luise Ramm
Kollektives Collagieren, 2022

 

Rassismusvorwürfe vs. Rassismuserfahrungen im Klassenzimmer


Beispiel 1

Ich war ein halbes Jahr Vertretungslehrerin an einer Gesamtschule in Köln-Mülheim. Sowohl die kulturellen als auch die sozialen Lebensräume der Schüler*innen waren sehr divers. Ich habe dort häufig Situationen erlebt, die aus meiner Perspektive interessant für die Auseinandersetzung mit rassismuskritischer (Kunst-)Pädagogik sind: Es kam z.B. vor, dass Schüler*innen das Verhalten von Lehrpersonen als rassistisch bezeichnet haben, wenn sie etwa im Unterrichtsgespräch nicht zu Wort kamen oder in einer Unterrichtsstunde wiederholt ermahnt und sanktioniert wurden. Teilweise entstand der Eindruck, dass die Schüler*innen das eigene Verhalten dabei nicht reflektierten, wenn sie etwa tatsächlich wiederholt den Unterrichtsverlauf aufhielten oder wenn auch andere Schüler*innen im Unterrichtsgespräch nicht zu Wort kamen. Aus Sicht der Lehrperson hatte das eigene Handeln damit zu tun, die Peergroup möglichst gerecht zu behandeln oder das Unterrichtsgeschehen voranzubringen. In manchen Situationen entstand daher der Eindruck, dass Schüler*innen den Begriff Rassismus bzw. rassistisch inflationär verwenden, ohne die Situation und das eigene Handeln zu reflektieren sowie aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Für mich als Lehrperson und
weisse Frau ergibt sich hier eine komplexe Problematik, die etwa auch Astrid Messerschmidt formuliert. Sie erläutert, dass an Lehrpersonen zumeist die gesellschaftliche Erwartung von Lehrer*innenprofessionalität gestellt wird. Dieser Begriff wird häufig mit der Unangreifbarkeit von Lehrer*innen gleichgesetzt, mit der wiederum eine Angst vor Souveränitätsverlust einhergeht. Eine solche Erwartung von Souveränität an Lehrpersonen verhindere jedoch jegliche Möglichkeit der Selbstreflexion oder gar situationsbedingter Selbstkritik (vgl. Messerschmidt 2016: 62f.). In dem Moment, wo weisse Lehrpersonen von ihrer systemisch etablierten Deutungshoheit Gebrauch machen – in dem Fall also sagen: „nein, das ist nicht rassistisch“ – kann Rassismus geschehen, ohne dass dieser selbstkritisch bedacht wird.

Denkanstösse

  1. Auf welche Weise schaffen es Lehrer*innen auf der einen Seite, dem klassischen Bild einer unangreifbaren Lehrperson entgegenzuwirken und eine permanente selbstkritische Haltung einzunehmen sowie auf der anderen Seite, die Empfindungen der Schüler*innen wahr- und ernstzunehmen?
  2. Wie können weisse Lehrkräfte und weisse Schüler*innen ihrer weissen Privilegien bewusst werden, um im nächsten Schritt als Verbündete gegen Rassismus vorgehen zu können?
  3. Inwieweit sind Lehrpersonen in der Lage, einem unbedachten Gebrauch von politisch relevanten Begriffen entgegenzuwirken? Wie sollte eine Lehrperson hierbei mit dem Konflikt umgehen, dass eine weisse Lehrperson einer BIPoC Person einen Begriff erklärt oder richtigstellt, der für zweitere identitätsspezifisch ist? 
  4. Inwiefern darf eine weisse Lehrperson über die Richtigkeit und Falschheit eines Gefühls einer BIPoC Person bestimmen, welches die Lehrperson selbst nicht kennt?
  5. Wie können Lehrpersonen im Hinblick auf Rassismus kritikfähiger werden, ohne sich dabei auf einer persönlichen Ebene angegriffen zu fühlen?

Beispiel 2

Ich habe leider auch eine ähnliche Situation während meiner Schulzeit erleben müssen. Ich wurde in einem Fach, worin ich eigentlich gut war, schlecht benotet. Die Lehrkraft gab mir für die mündliche Beteiligung im Unterricht eine schlechte Note, mit der Begründung, ich würde mich nicht oft am Unterricht beteiligen. Ich sei mündlich schlechter als im Schriftlichen und die Note setze sich aus beidem zusammen. Nach meinem Empfinden war es aber so, dass ich häufig aufgezeigt habe, die Lehrperson nahm mich jedoch nicht dran. Zudem hatte ich das Gefühl, dass die Lehrkraft mich aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte, obwohl ich nichts falsch gemacht hatte. Es gab auch keine vorherigen Vorfälle zwischen uns, die die Negativität der Lehrperson begründet hätten. Auf der einen Seite wurde ich also schlecht benotet, weil ich mich anscheinend wenig am Unterricht beteiligte, auf der anderen Seite wurde ich nicht drangenommen, wenn ich versuchte, mich zu beteiligen. Das Verhalten der Lehrkraft mir gegenüber empfand ich als rassistisch. Wie hätte ich meine Leistung so verbessern können? Von anderen PoCs erfuhr ich, dass sie ähnliche Erfahrungen mit der gleichen Lehrkraft machen mussten.

Ich habe das Problem dann nicht vor der Klasse angesprochen, sondern die Lehrperson um ein Einzelgespräch gebeten. Während des Gesprächs war ich sehr höflich und habe das Problem sehr vorsichtig angesprochen: „Bitte verstehen Sie das jetzt nicht falsch, aber ich fühle mich unwohl bei Ihnen. Habe ich Ihnen irgendwas getan?“ Ich habe auch gesagt: „Wenn ich etwas gemacht habe, sagen Sie es mir, dann weiss ich, wo ich falsch liege oder auf was ich zu achten habe. Aber ich verstehe das nicht. Auf der einen Seite geben Sie mir eine schlechte Note für wenig Beteiligung am Unterricht, auf der anderen Seite bemühe ich mich, ich zeige die ganze Zeit auf, aber Sie nehmen mich nicht dran. Wie kann ich mich denn da verbessern, wenn Sie mich nicht drannehmen? Ihr Verhalten mir gegenüber ist rassistisch.“ Daraufhin rief die Lehrkraft meinen Namen mit Entsetzen und sagte: „Mein Gott, wie kannst du nur zu mir sagen, dass ich rassistisch dir gegenüber bin. Das würde ich niemals machen.“ Die Lehrperson hat meinem Anliegen komplett widersprochen, es gab danach auch kein weiteres Gespräch mehr darüber und ich habe weiterhin die schlechte Note erhalten. Ich finde es gut, dass wir über dieses Beispiel sprechen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass, wenn Lehrpersonen einem Rassismuserfahrung und Sorgen absprechen und man als Schüler*in von niemand anderem Unterstützung erhält, man einfach Pech gehabt hat.

Denkanstösse

  1. Wo und von wem können Schüler*innen Unterstützung erhalten, wenn sie Rassismuserfahrungen machen? Welche Anlaufstellen gibt es, sowohl in als auch ausserhalb der Schule?
  2. Wie können sich Schüler*innen empowern oder Personen finden, die sie beim Empowerment unterstützen und begleiten? 
  3. Inwiefern können Schüler*innen auf Ungerechtigkeit aufmerksam machen und sich ein Gehör verschaffen? 
  4. Wie können Schüler*innen sich mit Allys verbinden, um einen gemeinsamen Safe Space zu schaffen und sich dort über Erfahrungen auszutauschen? 
  5. Welche Reaktion von der Lehrperson wäre in dieser Situation wünschenswert? 

 

Resümee

Das gemeinsame Gespräch über unsere persönlichen Erfahrungen zum Thema Rassismus im schulischen Kontext sowie die darauffolgende künstlerische Auseinandersetzung in Form der Collage lieferten uns neue Denkanstösse und setzten einen Vorgang der Selbstreflexion in Gang. Durch das Schaffen eines Safe Spaces während der Auseinandersetzung mit dem Thema konnten Gespräche, in welchen sich über sensible und persönliche Themen ausgetauscht wurde, entstehen. Hierbei wurde das Thema aus den verschiedenen Perspektiven der Teilnehmer*innen betrachtet, was dazu führte, dass das gegenseitige Verständnis gestärkt und lang angesammelte Schmerzerfahrungen geteilt und gehört wurden. Innerhalb des Austausches mit Clara Laila Abid Alsstar und Mako Sangmongkhon gaben diese uns verschiedene Lösungsansätze an die Hand, von welchen wir in unserem späteren Arbeitsleben als Lehrer*innen sowie in unserem privaten Leben profitieren können. 




Literatur/Referenzen:

Autor*innenKollektiv (2015): Rassismuskritischer Leitfaden. Berlin, LEO Afrikanisches Viertel. https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2015/03/IMAFREDU-Rassismuskritischer-Leiftaden_Web_barrierefrei-NEU.pdf [30.08.2022]

Bönkost, Jule (2018): Weiße Privilegien in der Schule. IDB Paper 6, S. 1–3. https://diskriminierungsfreie-bildung.de/wp-content/uploads/2016/07/IDB-Paper-No-6_Wei%C3%9Fe-Privilegien-in-der-Schule.pdf [30.08.2022]

Mörsch, Carmen (2021): Glossar. Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle Bildung/Kunst. https://diskrit-kubi.net/glossar/ [26.07.2022].

Herriger, Norbert (2022): Empowerment. Socialnet. https://www.socialnet.de/lexikon/Empowerment [26.07.2022]
 
Messerschmidt, Astrid (2016): Involviert in Machtverhältnisse. In: Dogmus, Aysun/Karakasoglu, Yasemin/Paul Mecheril (Hg.), Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden, Springer Fachmedien, S. 59–70.







Kurzbiografien der Autor_innen: