Meeting Point
sobat – das aus der Sprache Bahasa Indonesia entlehnte Wort zur Bezeichnung für die Vermittler*innen der documenta fifteen kann als Freund*innen, gute Bekannte, Begleiter*innen auf einer gemeinsamen Reise verstanden werden. Ausgewählt hat es die künstlerische Leitung der fünfzehnten Ausgabe der documenta, das indonesische Kollektiv ruangrupa. Die so zu Freund*innen ernannten Vermittler*innen waren bei der Institution documenta gGmbH angestellt und primär für die Durchführung von Ausstellungsrundgängen verantwortlich, die auf der documenta fifteen als Walks and Stories (kurz W&S) bezeichnet wurden. Neben vier oder sogar acht Stunden andauernden Formate erwiesen sich die 2-stündigen Führungen als das meistgebuchte Angebot, mit Start an acht unterschiedlichen Venues. Jeder Gruppe mit maximal 15 Personen wurde ein*e sobat zugeteilt, die*der die Inhalte der W&S massgeblich bestimmte.
Für diese in der Kunstwelt so besondere Ausstellung habe ich für fünf Monate als sobat gearbeitet – ich hatte in dieser Zeit zwei Rollen inne, die sich reziprok zueinander verhielten, die als Vermittlerin und die als Forscherin in Form einer teilnehmenden Beobachtung. In Erweiterung meiner Perspektive halfen mir dabei Fokusgruppengespräche mit vier anderen Vermittler*innen darzustellen, wie die sobat-sobat die vielseitige lumbung-Praxis für ihre Vermittlungsarbeit verstanden, das documenta fifteen-Wertesystem übersetzt und didaktische Strategien erprobt haben und mit den herrschenden Spannungsverhältnissen umgingen. Im Zentrum steht dabei eben jene Praxis, die ruangrupa als „Software“ (vgl. The Collective Eye 2022: 100) der documenta fifteen bezeichnet: lumbung. In Bahasa Indonesia eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune bezeichnend wird lumbung als Metapher der künstlerischen, vermittelnden und kuratorischen Praxis von ruangrupa und den beteiligten Künstler*innen und Kollektiven gelebt. Der Begriff steht sinnbildlich für den Versuch, „alternative Ansätze von Ökonomie, Kollektivität und Nachhaltigkeit zu erproben“ (documenta fifteen 2022a). Das Kollektiv wählte nach eigenen Aussagen diese Praxis für die documenta unter anderem darum aus, da sie als Chance erschien, die noch immer frischen Wunden des Kolonialismus, des Kapitalismus und der patriarchalen Strukturen zu heilen (vgl. ruangrupa 2022). Entgegen der üblichen Konzipierung einer Grossausstellung entwickelte ruangrupa gemeinsam mit dem Artistic Team nicht etwa Themen für die documenta fifteen und deren gesamtes Ekosistem, sondern sie sprachen von Basiswerten, „die lumbung ausmachen“ (vgl. Jocks 2022: 55): lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit und Regeneration sowie Transparenz, Unabhängigkeit und Genügsamkeit. Auf dieser Basis wurde kollektiv über die zur Verfügung stehenden Ressourcen entschieden, die im Sinne von lumbung folgende sind: Geld, Equipment, Räume, Netzwerke, Fürsorge und Wissen.
Von Spannungsverhältnissen (bis) zum Clash
Eine Umfrage, die für die sobat-Publikation Ever been friendzoned by an institution? (Efstathopoulos/Tabach 2022) an alle sobat-sobat geleitet wurde und von etwa 60 der ca. 130 Personen beantwortet wurde, kann wie folgt kurz zusammengefasst werden: 81,6 % sagen, dass sie den Clashs zwischen der lumbung-Praxis und der documenta gGmbH als mindestens so unangenehm wahrnehmen, wie der Geräuschpegel des Kratzens über eine Wandtafel und damit Erinnerungen an körperliche Reaktionen aus der Schulzeit hervorruft (Achatzi/Baldermann 2022: 77).
Dies ist zweifelsohne kein Befund mit repräsentativer Aussagekraft. Jedoch zeigen die Antworten, dass ein bedeutender Teil der sobat-sobat eine starke Diskrepanz zwischen dem Anspruch und Management der documenta gGmbH einerseits und lumbung als Praxis andererseits wahrgenommen hat. Gründe dafür sehe ich in der hohen Arbeitsbelastung der sobat-sobat, die unter anderem durch Mehrarbeit aufgrund coronabedingter Krankheitsausfälle oder problematischer Kommunikationswege und -strategien anfielen. Ein Beispiel dafür ist die fehlende oder schleppende offene Kommunikation und Stellungnahme in Bezug auf die nicht abgeschlossenen Debatten um das Thema Antisemitismus. Wichtige Informationen erfuhren wir in unserer Funktion als Ansprechpartner*innen für Besuchende oft erst aus der Presse. Detaillierter ausformuliert kann die Kritik an den Arbeitsbedingungen in einem Offenen Brief der organized sobat-sobat mit konkreten Forderungen nachgelesen werden (vgl. Die organisierten sobat-sobat 2023).
Ein grosser Teil dieser Spannungen liegt in der Situiertheit der Kunstvermittlung in der Kunstwelt begründet. Sie ist daran gebunden, sich fortwährend zu legitimieren, den Institutionen, den Kunstschaffenden, den Besuchenden, Kolleg*innen, ja sogar als Vermittler*innen sich selbst gegenüber (vgl. Mörsch 2009: 13f.; Marchart 2005: 35). In diesen Spannungsverhältnissen fanden meine und unsere Arbeit statt und zugleich galt es, sich im Sinne einer hegemoniekritischen Praxis an ihnen abzuarbeiten, um Missstände im besten Fall aufzulösen. Seit Beginn der documenta im Jahr 1955 ist ihr Kunstvermittlungsangebot nicht nur reicher an Formaten geworden, sondern versucht ausdifferenzierte, professionalisierte sowie kritische Formate der Kunstvermittlung auf dem umkämpften Feld der Kunstvermittlung einzubringen (vgl. Gallo 2015: 155f; Kolb/Sternfeld, 2019: 2; Marchart 2022: 89–91).
Neben den der Vermittlungspraxis inhärenten Spannungen waren die sobat-sobat einem documenta fifteen-spezifischen Spannungsverhältnis ausgesetzt, welches nach Isabell Baldermann und Viviane Tabach darin bestand, dass die Abteilung Bildung und Vermittlung lumbung nicht als Ausgangspunkt ihrer Arbeit genutzt habe (vgl. Baldermann/Tabach 2022: 10f.). Ein Grund für diesen Clash kann darin gesehen werden, dass das Education Department den vertraglichen Bedingungen der documenta gGmbH unterstellt war und damit gerade kein integraler Bestandteil des künstlerischen Leitungsteams war. Anders als z.B. bei der documenta 11, für die Okwui Enwezor sowohl Karin Rebbert als auch Oliver Marchart für die Organisation und inhaltliche Ausrichtung des Education Project einlud oder bei der d14, für die Adam Szymyczyk für die Konzipierung der Vermittlungsabteilung der d14 Sepake Angiama berufen hatte. Für die Vermittlung auf der documenta fifteen sah die künstlerische Leitung ursprünglich folgendes vor, wie farid rakun im Interview mit der sobat Viviane Tabach formulierte: „The first idea about education is actually to not have an education department at all. Because it’s there already in many of the practices of all artists, of all the members. And then […] we were talking about sobat-sobat.“ (rakun/Tabach 2022: 65) Ein Beispiel für eine solche künstlerische Praxis ist das Kollektiv Another Roadmap Africa Cluster, das sich kritisch mit den Diskursen zu Pädagogik und Bildung in der Kunst sowie Lernprozessen durch Kunst befasst, wofür sie wissenschaftliche, aber auch künstlerische Methoden nutzen.
Dass schliesslich doch ein Education Department mit über 130 Mitarbeitenden entstand, ist Teil und Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, den ruangrupa mit der documenta gGmbH führte. Dass es doch zu den buchbaren Führungen kam ist damit verbunden, dass das kostenpflichtige Angebot der W&S eine Einnahmequelle für die documenta gGmbH bedeutet. Carmen Mörsch merkte den geschäftsmässigen Einsatz von Vermittlung bereits bei der d12 kritisch an, demnach wären Führungen auch dort als „Einnahmequelle“ (vgl. Mörsch 2009: 26) eingesetzt worden. Eine Herangehensweise, die sich mit den d-tours, Spaziergängen oder jüngst Walks and Stories fortschrieb. ruangrupa übergab also dem Education Department der documenta gGmbH die Verantwortung dafür, dass sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen nach bestem Gewissen in ihr Projekt einbringen würden. Diese fehlende Verbindung von konzeptionellen Ansätzen und einem eigenen Education Department hatte meines Erachtens zur Folge, dass kein leitender Gedanke oder ein Ziel für die Vermittlungspraxis formuliert wurde. Diese kann unter anderem in dem Sinne kritisch betrachtet werden, als dass das Fehlen eines Bezugspunktes die Vermittler:innen in einem teils angespannten Klima zwang, ihre persönlichen Bezüge preiszugeben und sich damit in Vermittlungssituationen angreifbar zu machen.
Bringing lumbung into Bildung und Vermittlung
Nur durch oftmals erhöhtes Engagement, in vielen Fällen über die bezahlten Arbeitsstunden hinaus, konnte die lumbung-Praxis mit den ihr innewohnenden Werten durch die sobat-sobat gelebt werden. Dies erforderte oft die Fähigkeit, der Institution resilient zu begegnen und ein hohes Mass an Selbstorganisation, was in Teilen in einer kollektiven Praxis mündete. Auf diese Weise wurde lumbung innerhalb des sobat-sobat-Teams genutzt. Beispielhaft dafür ist die selbstständige Organisation und Umsetzung einer Publikation, für die auf die Expertise der Einzelnen als nutzbare Ressource zurückgegriffen wurde, um das gesammelte Wissen und den Erfahrungsschatz festzuhalten und für andere zugänglich zu machen. Für mich war es von Interesse, herauszufinden, welche Strategien die sobat-sobat selbst entwickelten, um lumbung während ihrer W&S zu praktizieren, und wie sie die Praxis entsprechend ihrer kunstvermittlerischen Ansprüche interpretierten. Aus diesem Grund führte ich etwa einen Monat nach Ende der documenta fifteen im Rahmen meiner Thesis im MA Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste ein Fokusgruppengespräch. Mir erschien eine Gesprächssituation, bei der auf einen „kollektiven Wissensbestand” (Schulz 2012: 13) zugegriffen werden kann, eine passende Ausgangslage für die Untersuchung von lumbung.
Ausnahmslos sprachen alle Gesprächsteilnehmer*innen von spezifischen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit ihrer Meinung nach lumbung praktiziert wurde. Tatsächlich manifestierten sich diese gelungenen lumbung-Momente nur gelegentlich. „But there were moments that really showed that it's possible to practice lumbung. And I then realized that it depends on many, many things and structural aspects. And some of them you can’t influence yourself: Where do you have your tours? How much space is there, how loud is it, what kind of people are there?“ (Hohmann 2022: 13:29 Uhr) Hohmann spricht damit unterschiedliche Kategorien an, die wie folgt benannt werden können und sich durch Aussagen der anderen Fokusgruppen-Teilnehmenden bestätigen lassen:
- Materielle Voraussetzungen (wie die Venue oder der Raum), idealerweise mit der Möglichkeit spontan und flexibel die Orte zu wechseln oder Sitzmöglichkeiten für die Gruppen zu finden;
- Immaterielle Voraussetzungen (wie Zeit, Wetter oder Geräuschpegel), die zur Entwicklung von Gruppengesprächen beitrugen oder der Möglichkeit sich als Vermittler*in in Formaten zu üben. Insbesondere die Zeit wurde immer wieder als fehlende Ressource, „to really build up better work“ (vgl. Hohmann: 13:54 Uhr) identifiziert;
- Mentale Verfasstheit (wie die Bereitschaft der Besuchenden zur Interaktion), eine Vertrauensbasis oder die eigene Ausbildung.
Wenn diese vielschichtigen Voraussetzungen mehr oder weniger erfüllt waren, konnten Ansätze einer lumbung-orientierten Vermittlung erprobt werden.
Dialog
„Vermittlung könnte auf diese Weise als Versammlung in einem öffentlichen Raum verstanden werden, bei der unterschiedliche AkteurInnen und Wissensformen aufeinandertreffen: das Wissen der Objekte und der Kunstwerke, das Wissen der Institution sowie das Wissen der BesucherInnen und VermittlerInnen.“ (Sternfeld 2012: 32)
Im Verlauf des Gesprächs mit der Fokusgruppe kristallisierte sich zunehmend ein dialogischer Ansatz als fundamentale vermittlerische Strategie heraus mit dem Ziel, Orientierung zu bieten, Position zu beziehen, Fragen aufzuwerfen oder aber um offen zu bleiben für weitere Perspektiven. Zwar kündigt sich diese Strategie bereits im Einleitungstext zu den W&S an, es blieb dabei jedoch gleichwohl offen, was diesen dialogischen Ansatz ausmache (vgl. documenta fifteen 2022b). Dabei kann ein Dialog von unterschiedlichen erlernbaren Methoden geleitet sein und verschiedene Funktionen einnehmen. Ein Dialog kann ein informeller Austausch sein oder eine moderierte Diskussion. Vermittlungspersonen können Dialoge unter den Besuchenden anregen, sich herausnehmen oder sich ins Zentrum setzen. Ferner kann ein Dialog „nicht bloß als Interaktion verstanden [werden] und erschöpft sich nicht im Austausch von Erfahrungen, Wissen, Meinungen usw.“ (Salgado 2012: 1). Im Feld der Kunstvermittlung ist der Dialog eine Haltung und Methode als Vermittler*in mit Teilnehmer*innen eine „Denkgemeinschaft“ (vgl. Lielich-Wolf/Riedel 2019: 57) zu entwickeln. Damit machen sich die Vermittler*innen „den Umstand der Diversität zunutze – indem der Kunstvermittlerin/ dem Kunstvermittler bewusst ist, dass jede TeilnehmerIn mit anderen Lebenserfahrungen und damit auch Seherfahrungen ankommt und auch wieder weggeht“ (Gallo 2015: 163).
Ein dialogischer Ansatz im Kontext der documenta fifteen war Manitta zufolge ein Weg „to deal with all the problems, all the stress“ (vgl. Manitta 2022: 13:47 Uhr). Der Dialog eröffne Räume, in denen Besuchende und Vermittelnde zugleich ihren Unsicherheiten und Erfahrungen in Bezug auf die Ausstellung begegnen könnten. Durch Dialoge findet ein „starker Identifikationsprozess“ statt und er macht die Teilnehmenden zu „einem aktiven Mitgestalter des Vermittlungsprozesses“, was ein monologisches Format eher verunmöglichen würde (vgl. Lielich-Wolf/Riedel 2019: 57).
Den Gedanken der Raumöffnung griff auch Tabach auf, doch nutzte sie den geschaffenen Raum, um über kulturelle Differenzen zu sprechen (vgl. Tabach 2022: 13:40 Uhr). Ein dialogischer Einstieg in die W&S beschrieb sie als massgebend, „to create this common ground, or at least like a ground for them to feel comfortable in sharing whatever they want“ (ebd.: 13:52 Uhr). Dies half folglich dabei, die Interessensfelder auszuloten und ermöglichte die vorgegebenen Strukturen der W&S als veränderbar und Teil eines Prozesses anzusehen. Auf diese Weise fand ein Wissensaustausch statt, der das hierarchische Verhältnis eines Ausstellungsrundgangs aufzuweichen versuchte. Durch die Gespräche „entstehen Prozesse der Aneignung, Verhandlung und Auseinandersetzung“ (Sternfeld 2018: 150), die einen Blick in die Zukunft ermöglichen, um schliesslich durch die Versammlung von unterschiedlichem Wissen „etwas anderes“ (vgl. Salgado 2016: 4), etwas Neues aufzubauen. In welche Richtung diese Veränderung strebt, ist jedoch massgeblich abhängig von der Einordnung der Beiträge durch die Gesprächsteilnehmenden, seien es die Vermittler*innen oder die Besuchende. Sie entscheiden mit, ob die Dialoge dazu dienen, die bestehenden Systeme zu unterstützen oder im Sinne einer kritischen Kunstvermittlung – und im Sinne der lumbung-Praxis – die eigene Positioniertheit in der Gesellschaft zu hinterfragen.
Please or make them feel uncomfortable dt.: Sie zu erfreuen oder ihnen Unbehagen zu bereiten
„I was wondering many times if I should make my guests feel more uncomfortable. I’m still not sure about that.“ (Hohmann 2022: 13:58 Uhr)
In einer Ausstellung wie der documenta fifteen, in der ein hauptsächlich weisses, aus dem globalen Norden stammendes Publikum auf Kunst und Projekte mit Autor*innenschaft aus dem globalen Süden blickt, bleibt die Frage nach dem Wie nicht aus. So formulierte Tabach, dass sie immer wieder kulturelle Differenzen wahrnehmen konnte und diese aktiv adressierte, insbesondere in Bezug auf die Bewertung der Funktion von Institutionen (vgl. Tabach 2022: 13:52 Uhr). Ich musste mir als Vermittlerin die Frage stellen, ob ich Besuchende eher aus ihrer Komfortzone bringen wollte oder ob ich nicht vielmehr eine Wohlfühloase schaffen wollte. Soll ich ihnen das Verständnis erleichtern, die Inhalte und die Konstruktion der Welt und Gesellschaften verdaubar machen? Mache ich dabei die Grenzen meines Wissens sichtbar oder konfrontiere ich sie mit ihrem Nicht-Wissen und rege eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verortung in der Welt an?
Damit soll die Diversität einer Gruppe oder ihre Beziehung zu den ausgestellten Projekten jedoch nicht zu überwinden versucht werden, sondern der Dissens als Gesprächsanlass genutzt werden. Wenn die Besuchenden jedoch schweigen, „then we have to provoke them, because we are not neutral“ (vgl. Freire 1989: 34). Gegenstimmen sollen herausgefordert, Zwischenräume geöffnet und dadurch andere Stimmen hörbar gemacht werden. „Das kann zu produktiven Disharmonien führen, die einen epistemischen Wandel ermöglichen. Eine hegemoniale Stimme kann nicht einfach durch eine Gegenstimme ersetzt werden, es gilt vielmehr die Heterogenität des Globalen als Verstehensraum zu eröffnen“ (Castro Varela 2021: 123).
Jonathan Hohmann sprach in diesem Kontext die Frage von „guilt“ an, die Menschen aus dem globalen Norden spüren könnten, wenn sie sich durch die Ausstellung bewegen. Er beschreibt eine „permanent tension [die während der W&S herrschte] between making friends, having a good time, just having fun, but at the same time it’s a lot about guilt. […] global inequalities“ (Hohmann 2022: 13:58 Uhr). Daran anknüpfend kann gesagt werden: „the task of museum education is to contribute to reflections on identity, on one’s own cultural background and on our images of self and other, as well as to encourage visitors to interrogate their prejudices and values“ (Landkammer 2018: 6). Was wiederum Grundlage einer kritischen Kunstvermittlung und Prozessen des Verlernens ist und damit das weiterträgt, was bereits während der documenta 12 und 14 angestrebt wurde (vgl. Mörsch 2012).
Gleichzeitig blieb der Begriff von Bildung auch bei uns sobat-sobat und unserem Format westlich geprägt, ohne dass dies aktiv thematisiert wurde. Auf unreflektierte Art wird die Oral History durch den programmatisch gewählten Titel Walks and Stories in das Zentrum gerückt. Doch welche Geschichten haben wir sobat-sobat erzählt und aus welcher Perspektive? Verdeckt diese Strategie der Institution nicht auch die Tatsache, dass die gesamte Institution eine Bildungsstätte ist? (vgl. Marchart 2022: S. 12)
Make Friends not Vermittlung
„So I decided make friends not art really count for my tour too.“ (Kröger 2022: 13:33 Uhr)
„Make Friends not Art“ ist das Motto, das die lumbung-Künstler*innen von Cinema Caravan und Takashi Kuribayashi in die documenta fifteen eingebracht haben, und das sich zum inoffiziellen Slogan der documenta entwickelte (vgl. documenta fifteen Handbuch 2022: 89). Der oben zitierten Aussage von Kröger zufolge geht es bei lumbung-orientierten W&S um die Begegnung mit anderen Menschen, in der die Arbeit an zwischenmenschlichen Beziehungen gegenüber der Produktion einer klassischen Vermittlungssituation, in der legitimiertes Wissen von Sender*in zu Empfänger*in übertragen wird, priorisiert wird. In die Praxis übersetzt bedeutet dies, als Vermittler*innen mit Offenheit und einem ernstgemeinten Interesse in die W&S zu gehen, um die Menschen und ihre Geschichten kennenzulernen. Momente, in denen dies zu glücken schien, waren insbesondere informelle Gespräche oder unerwartete Vorfälle, in denen zumindest temporäre Verbindungen entstanden. Manitta erwähnte zum Beispiel, dass sie immer wieder ihre E-Mailadresse an Teilnehmer*innen herausgab, um weitere Informationen auszutauschen oder einen Termin für einen weiteren Besuch der documenta zu besprechen. Bei ihr prägten sich diese Begegnungen ein, denn „these were the moments for me that were actually lumbung“ (vgl. Manitta 2022: 13:44 Uhr).
Gegen den Strom schwimmen
Das Ziel einer lumbung-orientierten Vermittlung besteht mitunter darin, die Strukturen für ein gleichberechtigtes Miteinander zu verhandeln, indem für wahr und gesetzt Erklärtes hinterfragt wird. Zu Beginn möchte ich einen Gedanken von Tabach aus der Fokusgruppe einbringen, die darüber reflektierte, wie Vermittlungspersonen im Sinne von lumbung aus dem Scheinwerferlicht treten, um die hierarchischen Verhältnisse zu verändern. Ihr zufolge steht sie durch einen dialogischen Methodenansatz als Vermittlerin nicht mehr im Zentrum aller Aufmerksamkeit, stattdessen wird sie als „almost […] a transparent person“ wahrgenommen, die „very porous to the environment" sei (vgl. Tabach 2022: 14:08 Uhr). Inwiefern es möglich ist, sich in einem Format wie den W&S in einem solchen Ausmass zurückzunehmen, wage ich zu bezweifeln und möchte es eher als ein idealisiertes Bild wahrnehmen. Vielleicht geht es vielmehr um die Geste des durchlässig-Werdens, die eigene nicht als die einzig geltende Perspektive darzustellen, sondern diese im Verlauf der Walks and Stories zur Debatte zu stellen.
Indem die eigene Perspektive transparent gemacht und immer wieder betont wird , dass es neben der eigenen Vermittlungspraxis noch viele weitere gibt, kann zu erreichen versucht werden, „bestehende Wahrheiten und Wissensformen durch kritische Vermittlung brüchig, diskutier- und hinterfragbar“ zu machen (vgl. Sternfeld 2018: 154). Mit einem solchen Ansatz könnte die bestehende Hegemonie infrage gestellt werden, indem „Bildung als sozialer Transformationsmotor und nicht nur als Assimilierungsmaschine gesehen“ wird (vgl. Castro Varela 2017: 5).
Doch nicht nur das Auftreten der Vermittlungsperson kann hierarchische Verhältnisse erzeugen, auch didaktische Methoden reproduzieren, erzeugen oder forcieren sie, wie Hohmann feststellte: „[T]hose methods can also be a form of hierarchy […] and [are] really not natural“ (Hohmann 2022: 14:05 Uhr).
Auch Manitta und ich selbst stellten fest, je tiefer wir in die lumbung-Praxis eingestiegen sind, desto weniger nutzten wir festgelegte didaktische Methoden. Dies läge ihrer Argumentation zufolge darin begründet, dass sie sich immer selbstbewusster in ihrer „practice and […] knowledge“ (Manitta 2022: 14:11 Uhr) fühlte und sich generell besser in die Situation eingefunden habe. Das bedeutet, dass die Vermittelnden die bekannten Methoden kritisch durchleuchten und in die „Curricula intervenieren“ (vgl. Castro Varela 2021: 122).
In diesem Hinterfragen der eigenen Methodik und dadurch, dass die Vermittler*innen ihre bekannten Strategien überdachten und ersetzen, stellen sie zur Debatte, wie ein gewohnheitsmässiger Rundgang durch eine Ausstellung strukturiert ist. Während Krögers W&S waren die Besuchenden beispielsweise gefragt, eine kollektive Entscheidung zu treffen, bevor ein Raum betreten wurde (Kröger 2022: 13:33 und 13:40 Uhr). Damit zielte sie darauf ab, das starre System, das ihnen normalerweise als Gruppe aufgetragen wird, zu umgehen und einen eigenen Modus für die Gruppe zu finden. Entgegen der Logik einer Führung auf einer Kunstausstellung scheint auch die Aussage von Hohmann zu stehen, der sagt: „it's not about the art“ (Hohmann 2022: 13:54 Uhr). Als Beispiel für eine nach seinen Massstäben gelungene lumbung-orientierte W&S-Vermittlung bringt er folgende an: „I had a tour, that went like three and a half hours, and we had only half of the pieces exhibited seen, because we were just talking. And then really also stopped talking about art and talked like, I remember, there was a guy who was talking about his daughter, and how he connects to her“ (Hohmann 2022: 13:31 Uhr). Es scheint also gerade hier um das Persönliche zu gehen, das geteilt wird; das, was den Menschen gerade am Herzen liegt.
Walks and Stories will continue, somewhere else?
Unauflösbar scheinen die Spannungsverhältnisse zu sein, die im Feld der Kunstvermittlung wirken. Bei der documenta fifteen wurden sie durch das Aufeinanderprallen der lumbung-Praxis und der Struktur der documenta gGmbH verstärkt. Dennoch entwickelte ein Teil der sobat-sobat Strategien, um eine Vermittlungspraxis auszubilden, in der Beziehungsarbeit über den von der Institution gewünschten klassischen Wissenstransfer priorisiert wurde. Um dies im Rahmen einer Führung zu realisieren, die nicht nur bei der documenta ein gern genutztes und verhältnismässig profitables Angebot ist, benötigen die Vermittler*innen (auch gemeinsam mit ihren Gruppen) einen Gestaltungsspielraum, mit dem eine vertrauensvolle Basis für eine kritische Vermittlungspraxis angelegt werden kann.
Eine dialogische Praxis zu ermöglichen, ist die Grundlage dazu. Sie ermöglicht einen Austausch über Erfahrungs- und Wissensstände sowie das Aufwerfen von Fragen. Zudem erlaubt ein dialogischer Ansatz, die vorgegebenen und gelernten Strukturen eines Führungsformats selbst zu durchleuchten. Damit entwickelt er das Potenzial hierarchische Verhältnisse aufzuweichen, um Gegen den Strom der eingeübten, traditionellen Führungen zu agieren. Bei Formaten im Sinne der lumbung-Praxis und dem angepassten inoffiziellen Motto Make Friends not Vermittlung soll es nicht zentral um die Vermittlung von Kunst gehen, sondern um das Schärfen eines Bewusstseins für das Zusammentreffen von (un-)bekannten Personen mit individuellen Perspektiven während eines begrenzten Zeitraums. Wie mit den präsenten Differenzen, auch in Bezug zur Ausstellung, umgegangen wird, hängt vom Ansatz der Vermittler*innen ab. Die offene Frage Please or make them feel uncomfortable kann dazu genutzt werden, als Vermittler*in den Besuchenden bewusst den Einstieg in Themen zu erleichtern, oder aber aktiv automatisierte Prozesse des Othering anzusprechen und damit ein Gefühl von Unwohlsein unter den Besuchenden in Kauf zu nehmen. Auf diese Weise kann ein Umgang mit Differenzen eingeübt werden, der auf gegenseitige Wertschätzung baut und die Komplexität der Gesellschaft wertschätzend thematisiert. In Zeiten von verfestigten Meinungen und einer angespannten Debattenkultur können wir kaum genug üben, mit Differenzen zu leben.
Literatur
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