Konflikthafte Konversationen. Kunstvermittlung als politische Bildung
Abstract:
Ausgehend von einer subjektiven Reflexion meiner Erfahrungen setze ich mich mit erlebten Rollen- und Interessenkonflikten sowie Meinungsverschiedenheiten im Kontext meiner Arbeit als sobat auf der documenta fifteen auseinander. Ich möchte Probleme, die ich erlebt habe, zur Sprache bringen und Überlegungen dazu anstellen, wie sie gelöst werden könnten. Dabei bediene ich mich Theorien der rassismuskritischen Bildung und argumentiere dafür, sie für die Kunstvermittlung nutzbar zu machen. Welche Konfliktpotenziale es birgt, Kunstvermittlung erweitert als transkulturelle politische Bildung zu verstehen, und welche Potenziale Konflikte in Vermittlungssituationen bieten, dem will dieser Text nachgehen.

They don‘t know we‘re supposed to be friends. Meine Erfahrungen als sobat

Die Mitglieder des Vermittlungsteams der documenta fifteen hiessen sobat-sobat, Indonesisch für Freund*innen oder Gefährt*innen (vgl. ruangrupa 2022: 39). Auf der Website der documenta fifteen wird die Rolle der sobat-sobat wie folgt beschrieben:

„Mit den Teilnehmenden erleben [die sobat-sobat] Begegnungen, bauen gemeinsam Brücken und entdecken neue Zugänge. Im Dialog und über die Praxis des Storytellings entfalten sie dabei die Kosmologie von lumbung-Wissen Die Künstlerische Leitung der documenta fifteen, ruangrupa, nutzten Storytelling als Praxis, die Vielstimmigkeit und das gemeinschaftliche Teilen von Wissen ermöglicht. Denn „[d]as Teilen von Wissen ist ein Aspekt des Teilens von Ressourcen und damit wesentlicher Part des Grundgerüsts der documenta fifteen“ (documenta fifteen 2022a: o.S.). Die Methode wurde auf die Kunstvermittlung übertragen.. Anhand großer und kleiner Erzählungen verbinden die sobat-sobat Orte, Menschen, Bedingungen und Erfahrungen miteinander und begleiten durch die Ausstellungen der documenta fifteen. Die Gäste der documenta fifteen können eigene Ressourcen an Wissen und Erfahrungen einbringen, teilen und für andere verfügbar machen. Mit dieser Kultur der Teilhabe und Beteiligung bereichern sie lumbung während der 100 Tage und werden selbst aktiver Teil der documenta fifteen.“ (documenta fifteen 2022b o.S.)

Als sobat-sobat hatten wir also die Aufgabe, gemeinsam mit Besucher*innen verschiedene Venues der documenta zu erkunden, Storytelling zu praktizieren, Wissen miteinander zu teilen  und Kontakte zu knüpfen. Frenzel, Müller und Sottong definieren die Methode folgendermaßen: „Storytelling heißt Geschichten gezielt, bewusst und gekonnt einzusetzen, um wichtige Inhalte besser verständlich zu machen, um das Lernen und Mitdenken der Zuhörer [sic] nachhaltig zu unterstützen, um Ideen zu streuen, geistige Beteiligung zu fördern und damit der Kommunikation eine neue Qualität hinzuzufügen“ (Frenzel/Müller/Sottong 2006: 3). Der methodische Ansatz des Storytelling war für ruangrupa zentral und wurde während der Preparation Weeks, der Ausbildungsphase der sobat-sobat, in Workshops mit Storyteller*innen trainiert und stellte für sie eine grundlegende Herangehensweise an subjektive, machtkritische Kunstvermittlung dar. In meiner Arbeit als sobat nutzte ich insbesondere anekdotische, für mich als Erzählende emotional besetzte Geschichten.Dafür wurde uns das Konzept Freundschaft als grundlegender Begegnungsmodus an die Hand gegeben (vgl. Steinke 2022: 27). Wie genau sich dieser freundschaftliche Umgang mit den Besucher*innen gestalten und welche konkreten Methoden sich eignen könnten, galt es zu erarbeiten.

Ziel des sobat-sobat-Konzepts war es, eine andere Art von Kunstvermittlung zu praktizieren, bei der alle Sprechenden gleichermassen autorisiert sind, ihr Wissen zu teilen. So sollten (Wissens-) Hierarchien zwischen Vermittler*innen, Besucher*innen und Künstler*innen durchbrochen werden. lumbung ist für die Künstlerische Leitung ruangrupa eine zentrale Praxis des Teilens und gemeinschaftlichen Nutzens von Ressourcen Der indonesische Begriff lumbung bezeichnet eine Reisscheune, in der die überschüssige Ernte einer Gemeinschaft gelagert und kollektiv verwaltet wird. lumbung fungiert als Metapher für das Teilen verschiedener Ressourcen in kollektiven Arbeitsprozessen, wie sie im Rahmen der documenta fifteen stattfanden (vgl. ruangrupa 2022: 12, 16)., die auf Freundschaft basiert. So sollten wir Vermittler*innen uns als Freund*innen der Besucher*innen und der artists verstehen und lumbung praktizieren.

In Anlehnung an Storytelling als Methode möchte ich zunächst subjektiv von einigen persönlichen Erfahrungen während meiner Tätigkeit als sobat berichten, die mir als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienten. Auch soll dieser erste Teil des Textes illustrieren, von welchem Standpunkt aus ich spreche und wie sich meine Haltung zur Kunstvermittlung auf der documenta fifteen durch diese Erfahrungen herausgebildet hat.

Obgleich mir das sobat-sobat-Konzept vielversprechend für machtkritische und multiperspektivische Vermittlung erschien, stellte ich in der Praxis fest, dass viele Besucher*innen von den meinerseits angebotenen partizipativen Methoden und anekdotischen Erzählungen überrascht waren. Manche waren sogar enttäuscht oder verärgert darüber, dass viele der sobat-sobat versuchten, von faktenbasierter, erklärender, autoritärer Vermittlung Abstand zu gewinnen. Besucher*innen beschwerten sich z.B. bei mir darüber, dass sie für den Preis, den sie für die Walks and Stories gezahlt hatten, mehr faktische Informationen erwarteten. Andere hatten keine Lust, sich an Gesprächen zu beteiligen, und es wurde mir zurückgemeldet, dass mein Ansatz, mit Storytelling und partizipativen Methoden über Kunst zu sprechen, als unprofessionell wahrgenommen wurde. Mit anderen Worten: Viele Besucher*innen gingen nicht auf meinen Versuch ein, Walks and Stories als Freundin zu gestalten, obgleich ich diesen Wunsch jedes Mal zu Beginn mitteilte.

Abb. 1 Shirin Graf, They don't know we're supposed to be friends, 2022, meme.

Bei Walks and Stories handelte es sich um bezahlte Vermittlungsangebote, wodurch die meisten Besuchenden keine Einladung zur Freundschaft erwarteten, sondern in erster Linie eine Dienstleistung: Faktische Vermittlung von Inhalten der documenta fifteen und den ausgestellten Arbeiten. Ihre Erwartungen unterschieden sich stark von meinem Anspruch an eine freundschaftliche Interaktion im Sinne des sobat-sobat-Konzepts und von lumbung. Es stellte sich die Frage:

„Kann Freundschaft hier überhaupt zustande kommen oder ist die schmerzliche Erfahrung, dass der Vorschlag Freunde zu sein immer nur als Freundlichkeit und höchstens Ungezwungenheit, als Annehmlichkeiten einer guten Dienstleistung verstanden wird, unvermeidbar?“ (Steinke 2022: 28)

Meine Arbeit als sobat bestand darin, performativ den methodischen Ansatz des Storytelling der documenta fifteen zu praktizieren, die Praktiken, Anliegen und Hintergründe der lumbung members und artists darzustellen, Besucher*innen zufriedenzustellen und meinen eigenen Erwartungen an Kunstvermittlung gerecht zu werden. Ich wollte gute Freundin, solidarische Vertreterin, pflichtbewusste Dienstleisterin und professionelle Kunstwissenschaftlerin sein und befand mich in einem inneren Rollen- und Interessenkonflikt.

Wie also mit diesem Zusammenstoss der Erwartungen in mir und zwischen Besucher*innen und mir umgehen? Sollte ich mich nach dem Ideal des freundschaftlichen Umgangs richten und  empathisch reagieren? Gleichzeitig würde ich mir als Freundin aber auch wünschen, dass die Besucher*innen ebenso auf meine Ansprüche an und Ideen von Vermittlung Rücksicht nehmen. Jedoch mussten nicht nur ich, sondern auch die Besucher*innen ein Interesse daran haben, Freundschaft zu schliessen. Unter diesen Rahmenbedingungen kam es oft zu konfliktbehafteten Situationen innerhalb meiner Walks and Stories.

Im Kontext der documenta fifteen erlebte ich Konflikte in verschiedenen Konstellationen. Oft waren es die Standpunkte von Besucher*innen auf der einen und die von mir vermittelten Inhalte der künstlerischen Arbeiten auf der anderen Seite. Denn es ging häufig darum, einem Publikum, das überwiegend aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft stammte, eine kulturell situierte, politisch engagierte Kunst im weitesten Sinne näherzubringen. Ich konnte Konflikte wahrnehmen, die aus unterschiedlichen Wertvorstellungen, Perspektiven und Sehgewohnheiten resultierten. Mir fiel auf, dass einige Besucher*innen besonders wenig Verständnis und/oder Wertschätzung solchen Projekten entgegenbrachten, die sozial engagiert waren sowie marginalisierte (und einigen vielleicht unbekannte) Perspektiven und Identitäten behandelten. Diesen Projekten sprachen sie z.B. keine künstlerische Qualität zu.

Als Vermittlerin wollte ich mich in und zu solchen Konflikten positionieren. Aber wie? Der englische Begriff art mediator Angelika Doppelbauer führt Überlegungen zu verschiedenen Begriffsdefinitionen in dem Buch Museum der Vermittlung. Kulturvermittlung in Geschichte und Gegenwart ausführlicher aus (Doppelbauer 2019: 28-37). Zur Diskussion des Begriffs art mediation (im Verhältnis zu Vermittlung) siehe auch: The Term ‘Mediation’ in the Context of Art. An Attempt at Translation  (Henschel 2011: 22-33). legt wörtlich genommen nahe, dass ich als Kunstvermittlerin eine vermittelnde Rolle zwischen den künstlerischen Arbeiten als auch ihren Kontexten auf der einen und den Äusserungen von Betrachter*innen auf der anderen Seite einnehmen. Manchmal fühlte ich mich wie die Vermittlerin zwischen verschiedenen Gruppen, wobei die erste Aufgabe darin bestand, einen Konflikt überhaupt erst einmal für die Besuchenden sichtbar und besprechbar zu machen. Ähnlich verhielt es sich mit meinen Versuchen, Unzufriedenheit der Besuchenden mit dem Vermittlungskonzept abzuwenden. Aber wie genau sollte ich mit solchen Spannungssituationen umgehen? Sollte ich schlichten, aushandeln, aushalten oder gar anstiften?  Die meisten Besucher*innen  erwarteten meiner Erfahrung nach weniger, dass die Walks and Stories Räume wären, in denen Interessen- und Wertekonflikte ausgetragen würden. Sollte ich diese Erwartungen erfüllen - und wenn ja, wessen Erwartungen würde ich dann nicht erfüllen können? Und aus welcher Perspektive, mit welchem Rollenverständnis könnte ich solche Erwartungen überhaupt erfüllen?

In meiner Arbeit als eine von „[...] viele[n], viele[n] sobat-sobat“ (ruangrupa 2022: 287) auf der documenta fifteen habe ich einige ver_andernde Äusserungen in Gesprächen mit Besucher*innen erlebt und war damit nicht die Einzige. Insbesondere Fälle, in denen Personen sich abwertend und diskriminierend gegenüber den Künstler*innen und von ihnen vertretenen Communities äusserten, liessen mich meine eigene Ambition überdenken, überhaupt Freundschaften zu schliessen. Denn im realen Leben ist es mir wichtig, mit Freund*innen grundlegende Werte zu teilen. Dazu zählen für mich vor allem Respekt, Empathie und eine antirassistische Haltung. Diese Werte wollte ich auch gegenüber den Besuchenden vertreten.

Es traten Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Besucher*innen und mir auf, aber auch (innere) Konflikte bei den Besucher*innengruppen, wenn einzelne Ansichten zur Diskussion gestellt wurden. Meine inneren Konflikte drehten sich um die Frage, wie ich mich in diesen Situationen verhalten sollte: Einen Konflikt abwenden, um ein angenehmes Erlebnis für die zahlenden Besucher*innen zu gewährleisten, oder ihnen als sobat meine Meinung zu sagen und den Konflikt nicht zu scheuen?

Als sich die Fälle häuften, in denen Besucher*innen diskriminierende Begriffe verwendeten und unreflektierte eurozentrische und ver_andernde Die Begriffe Ver_Anderung bzw. VerAnderung oder Othering beschreiben die Abgrenzung einer Person oder Gruppe von einer anderen Gruppe, indem diese als abweichend von der Norm betrachtet wird. Entlang von Diskriminierungskategorien wird die fremde Gruppe dadurch abgewertet und die Identität der eigenen Gruppe gestärkt (vgl. Diversity Arts Culture Berlin, o.S.). Aussagen tätigten, war ich enttäuscht, aber nicht überrascht. Schliesslich sind struktureller und alltäglicher Rassismus allgegenwärtige Phänomene. Ich begann, meine Tätigkeit mehr und mehr über die Kunstvermittlung hinaus auch als politische Bildungsarbeit zu begreifen.

Für mich resultierte das zum einen daraus, dass ich mich der kuratorischen Ausrichtung der Ausstellung und den künstlerischen Inhalten gegenüber verantwortlich fühlte. Sie machten in ihren Projekten auf gesellschaftliche und politische Anliegen aufmerksam und verstanden ihre Praxis als Empowerment Der englische Begriff Empowerment stammt aus der Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er Jahre und meint die politische Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen. Mithilfe verschiedener Strategien wird auf individueller, gruppenspezifischer und gesamtgesellschaftlicher Ebene Selbstbestimmung erkämpft (vgl. Meyer/Lindmeier 2021: o.S.). der eigenen, marginalisierten Communities. Das bedeutete auch, dass ich mich der schwierigen Aufgabe annehmen musste, als weisse deutsche Frau mit kunsthistorischer Ausbildung über die A_N_D_E_R_E_N Vgl. Mörsch 2019.  zu sprechen. Aus meiner persönlichen Hoffnung ergab sich unter anderem der Anspruch, den erlebten Konflikten produktiv zu begegnen – indem ich die Walks and Stories als potenzielle Räume für interkulturellen Austausch und diskriminierungskritische Bildung betrachtete.

Das geschieht am besten, wenn Kunstvermittlung zur Kontaktzone wird: Der Begriff der Kontaktzone wurde von der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt eingeführt, um Räume zu beschreiben, an denen unterschiedliche Akteur*innen und kulturelle Praktiken aufeinandertreffen und in Austausch treten. Das birgt Konflikte, aber auch produktive gegenseitige Lerneffekte (vgl. Pratt 1991: 40). Nora Sternfeld bezeichnet das Para-Museum, in dem institutionelle Machtstrukturen untergraben werden können, ebenso als Kontaktzone: ein Raum, in dem Brücken gebaut und Differenzen überwunden werden können (vgl. Sternfeld 2018: 80f.). Genau so wurden auch die Aufgaben der sobat-sobat definiert. Die Kontaktzone ist ein Möglichkeitsraum für postrepräsentative Vermittlung und demokratische Partizipation. Mit Bezug auf radikale Pädagogik stellen sich dort auch die Fragen, wie wir etwas lernen können, das es noch nicht gibt, und wer spricht (vgl. ebd.: 171). Partizipation kann vor allem durch Konversation gewährleistet werden. Nach bell hooks ist Konversation ein zentrales Mittel demokratischer Pädagog*innen, denn so werden Informationen und Ideen über diverse Formen von Sprache ausgetauscht (vgl. hooks 2003: 44). Der Modus des Dialogs bietet Teilnehmenden die Chance, neue Sichtweisen zu verarbeiten (vgl. ebd.: 194).

Ich kam zu dem Schluss, dass ich solchen Situationen am besten begegnete, wenn ich mich als kritische Freundin Der Ansatz der kritischen Freund*innen ist eine Feedback-Methode und zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen verschiedenster Qualifikationen und Hintergründe sich unterstützend und konstruktiv-kritisch zu einem Sachverhalt  (dem Verhalten oder der Leistung einer Person aus der Gruppe) äussern, und so unterschiedliche Perspektiven bei der Reflexion berücksichtigt werden können (vgl. Costa/Kallick 1997: 49ff.). Dabei wird Wissen ausgetauscht und gemeinsam gelernt – es passt also genau zu ruangrupas Vorstellungen von Kunstvermittlung für die documenta fifteen. verstand. Das bedeutete, mich  von der wahrgenommenen Pflicht zu lösen, stets höflich und zuvorkommend zu sein, und stattdessen meine Meinung zu sagen. Diese Entscheidung half mir, mich zwischen den verschiedenen Rollen und Erwartungen zurechtzufinden und meinen politischen Werten gerecht zu werden.
Ich möchte für das Potenzial von Konflikten in Vermittlungssituationen argumentieren. Sie können produktiv, also als Chance für diskriminierungskritische Interventionen genutzt werden, wenn wir sie aus der Position von kritischen Freund*innen angehen. Statt zu versuchen, Konflikte lediglich zu befrieden und Themen, die sich scheinbar abseits der Kunst befinden, unkommentiert zu lassen, schlage ich vor, ernste politische Diskussionen in Ausstellungsräumen nicht zu scheuen, auch wenn sie Freundschaften eventuell schaden können.

Lasst uns kritische Freund*innen sein!

Überlegungen zu Positionierungen und Potenzialen von Kunstvermittler*innen als kritische Freund*innen wurden in der Publikation der sobat-sobat Ever been friend-zoned by an Institution? (2022) bereits in unterschiedlichen Ansätzen ausgeführt. Mahsima Kalweit, Sarah Marcinkowski, Anna Marckwald und Antonin Steinke schreiben in der Publikation der sobat-sobat über das Potenzial von critical friends (vgl. Efstathopoulos/Tabach 2022:  9,14f., 27ff., 40f.).

Im Webseiteneintrag zu den Walks and Stories werden Begriffe wie Dialog und Brücken bauen (Vgl. documenta fifteen 2022c: o.S.) hervorgehoben und die aktive Rolle der Besucher*innen unterstrichen. Das sind auch zentrale Elemente der diskriminierungskritischen Bildung. Übertragen auf unsere Tätigkeit bedeutete kritische Freund*in zu sein, Denkanstösse zu geben, gleichzeitig aber auch Verletzlichkeit und Verunsicherung ernst zu nehmen und ihnen gemeinsam zu begegnen. Gegenseitiges Ernstnehmen und Vertrauen – grundlegende Qualitäten von Freundschaft – bilden die Basis, um Kritik zu äussern (vgl. Marckwald 2022: 29; vgl. Kuht/Marckwald 2022: 9). Mir kam es darauf an, freundlich und zugewandt mit den Teilnehmer*innen der Walks and Stories in Kontakt zu treten, empathisch, aber auch authentisch und ehrlich zu sein und Stellung zu beziehen. Aussagen, die weder mit den Motiven der documenta fifteen einhergingen noch mit dem Anspruch vieler sobat-sobat an machtkritische, postkoloniale Vermittlung, liess ich nicht unkommentiert stehen.
Äusserungen, die von unterschwellig ver_andernden Narrativen über eurozentrische Überlegenheitsvorstellungen hin zu offen ausgesprochenen rassistischen, antisemitischen, misogynen, ableistischen, queerfeindlichen Bezeichnungen und Aussagen reichten, erforderten jedes Mal eine spontane, individuelle Reaktion von mir. Sicherlich hat das Vermittlungskonzept, das auf Dialoge im Sinne von Gesprächen unter Freund*innen setzte, auch einige Menschen dazu ermutigt, ihre fragwürdigen Ansichten mitzuteilen. Im Angesicht der Idealvorstellung von wertschätzender Interaktion, die mir die Möglichkeit lässt, mich gegen Diskriminierung zu positionieren und darauf aufbauend produktive Diskussionen zu führen, fiel es mir im Einzelfall aber nicht immer leicht, angemessen zu reagieren. Mal war ich frustriert, resigniert, mal geschockt und mal unsicher, ob ich wohl so entschieden reagieren sollte, wie ich es gern tun würde, aus Angst die Besucher*innen gegen mich aufzubringen.
Der gewählte Ansatz, als kritische Freundin aufzutreten, ermöglichte mir in solchen Fällen folgendes: Genau so, wie ich mit Freund*innen meine politische Meinung austausche, teile ich sie, wenn notwendig, auch mit den Besucher*innen. Als sobat und kritische Freundin muss ich nicht neutral bleiben oder mich entgegen meiner eigenen Haltung um Diplomatie bemühen. Kritik zu äussern bedeutet unweigerlich eine eigene Positionierung, da Kritik aus einem subjektiven Standpunkt geäussert wird. Ziel der Äusserung ist es, ein Problem oder eine Spannungssituation zu überwinden, also einen Konflikt produktiv zu nutzen (vgl. Bönkost 2013: 2). Das bedeutet: Diskriminierungsskritische Kunstvermittlung verlangt eine Positionierung. Das führt unter Umständen zu einem nächsten Konflikt: Besucher*innen, die sich darüber wundern oder ärgern, dass ich nicht nur neutral über künstlerische Positionen und ästhetische Ansätze referiere und ihre Ansichten hinterfrage oder sogar kritisiere. Schliesslich waren sie gekommen und hatten bezahlt, um Kunst vermittelt zu bekommen. Sandra Ortmann, Vermittlerin auf der documenta 12, stellt fest: „Wenn es in der Kunstvermittlung tatsächlich unter Umständen gelingt, Heteronormativität, westliche Vorherrschaft oder Kapitalismus in Frage zu stellen, reagieren manche BesucherInnen mit Ablehnung, und es kann zu einem Konflikt kommen. Denn warum sollten BesucherInnen einer Ausstellung sich die Vorstellung ihrer ‘Normalität’ dekonstruieren lassen, wenn sie hergekommen waren, um unterhalten oder gerade in ihrer Normalität bestätigt zu werden“ (Ortmann 2009: 276). Mit einer Positionierung setzte ich also des Öfteren nicht nur die Anerkennung meiner Kompetenz  als professionelle Vermittlerin aufs Spiel, sondern in einigen Fällen auch den freundschaftlichen Umgang innerhalb der Gruppe: Ich wurde nicht mehr als höfliche Servicekraft wahrgenommen, die voll und ganz an den Bedürfnissen der Kund*innen orientiert ist, sondern als Antagonistin. An dieser Stelle muss ich einwenden, dass es mir teilweise unbehaglich war zu entscheiden, worüber sich noch diskutieren liess und welche Aussagen ich direkt disqualifizieren sollte. Insbesondere im Zusammenhang mit Kontexten, die ich selbst nicht repräsentieren kann. Bin ich in der Position und habe ich genügend kritisches Gespür dafür, das zu entscheiden? Wie spreche ich über andere kulturelle Kontexte, wie (re-)präsentiere ich sie, ohne zur Ver_Anderung beizutragen? Diese und weitere Fragen diskutierten wir in einer selbstorganisierten Arbeitsgruppe zum Thema critical whiteness. Wir reflektierten unsere Standpunkte und Privilegien, behandelten die Reproduktion von Differenzen und Bildern durch Sprache, teilten Erfahrungsberichte und Strategien. Die Arbeitsgruppe entstand als Reaktion auf Erfahrungen, wie ich sie hier mitteile. Konflikte produktiv zu nutzen hiess für mich der Versuch, strukturelle Diskriminierung im Kontext der Themen, die die documenta fifteen eröffnete, besprechbar zu machen: marginalisierte Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart, andere Wissensformen sowie Gegenerzählungen zur eurozentrischen (Kunst-)Geschichte. Wenn die Antisemitismusdebatte im Rahmen meiner Walks and Stories diskutiert wurde, kam es zu ähnlichen Situationen: Weil häufig Dinge geäussert wurden, die ich für undifferenziert hielt, wollte ich gegen Stereotype und Universalisierung arbeiten und die Komplexität der Debatte differenziert aufzeigen. Dabei war ich als sobat die Begleiterin der Gäste beim Ver_Lernen María do Mar Castro Varela definiert dies als Verlernen des Verständnisses, dass die eigene Wahrnehmung der Realität die objektive Wahrheit sei, denn die eigene Perspektive auf die Welt hängt von unserer persönlichen sozialen Position ab (vgl. Castro Varela 2007: 5)., das sich nicht nur auf oben genannte Themen, sondern auch auf bekannte Kunstvermittlungsmodi und -methoden bezog. Denn nur durch Ver_lernen kann anderes Wissen erst geteilt und gehört werden. Die Methode des Storytelling, zentral im Kosmos der documenta fifteen, nutzt situiertes Sprechen Der Begriff des situierten Sprechens ist angelehnt an Donna Haraways Konzept des situierten Wissens. Nach Haraway gibt es kein universelles, neutrales Wissen, stattdessen sind Wissensformen immer historisch und kulturell spezifisch (vgl. Haraway 1995: 73-97). Unter anderem in Postcolonial Studies wird das Konzept aufgegriffen, um essenzialisierenden Perspektiven entgegenzuwirken (vgl Castro Varela/Dhawan: 2015). und lässt verschiedene Erzählungen nebeneinander existieren: „Storytelling, insbesondere multiperspektivische Narrative, könnten so das Ver_lernen einer imaginiert vorgeschriebenen Erläuterung der Arbeit befördern“ (Kalweit 2022: 41).

Wenn man sich bewusst macht, dass die eigene Sichtweise kulturell geprägt ist, und es ebenso andere Sichtweisen auf der Welt gibt, gerät der eigene, in meinem Fall eurozentrische, universalisierende Blick, ins Wanken. Verschiedene Perspektiven anzunehmen ist die Basis für interkulturelle Kompetenz. Wie wir bestimmte Kontexte betrachten, liegt an uns. Diese Sichtweise erlaubt es uns, eine aktive Haltung einzunehmen (vgl. Schreiner 2017: 36). Ich bin der Meinung, dass die Kunstvermittlung, aufbauend auf den Werken, Projekten, Themen und Motiven der documenta fifteen, genau das ermöglichen konnte. Konflikte als Chance zur Neuverhandlung von etablierten Normen zu sehen, wie Karin Schreiner es formuliert (vgl. ebd.: 37), ist in der vermittlerischen Praxis manchmal schwierig, aber sehr wohl möglich und auch nötig.

Kritische Freundschaften pflegen. Beispiele aus meiner Praxis Nachdem ich zunächst vorhatte, Ausschnitte aus Gesprächen mit Besucher*innen hier nachzuerzählen (auch um den Leser*innen zu zeigen, mit was für schlimmen Aussagen ich teilweise konfrontiert war), habe ich mich nun dagegen entschieden. Denn ich möchte weder diskriminierende Sprache und Narrative reproduzieren, noch diese Erlebnisse für mich und andere in Erinnerung rufen 

Wenn ich die Motivation und den Eindruck hatte, dass die Besucher*innen, die sich diskriminierend geäussert hatten, (ver-)lernwillig und offen für andere Perspektiven sind, war es bisweilen auch hilfreich, mit Verständnis zu reagieren und eine aufbauende Konversation zu führen. Wer sich nicht angegriffen fühlt, ist oft zugänglicher.
In keinem Fall hatte ich den Eindruck, dass sich jemand mutwillig diskriminierend geäussert hätte. Meine Erlebnisse als sobat auf der documenta fifteen bilden eher ab, wie weit verbreitet unterschwellig ver_andernde Haltungen sind, die nicht als eben solche wahrgenommen werden. So stand ich in jeder individuellen Situation vor der Aufgabe, eine konstruktive Konfliktsituation zu kreieren, die die betreffenden Personen nicht in erster Linie persönlich anklagt.
Ich habe festgestellt, dass es dem Verhältnis zu den Besucher*innen und der Stimmung in der Gruppe schadete, wenn ich mich als ihre Antagonistin positionierte, also versuchte, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte der Künstler*innen sowie politische Haltungen vehement zu verteidigen, indem ich autoritär auftrat. Damit hängt sicher auch zusammen, dass einige Personen aufgrund meines Alters und Geschlechts an meiner Glaubwürdigkeit und Expertise zweifelten. Interessanterweise sprachen sie mir meine Expertise oft erst dann ab, wenn es nicht mehr nur um Kunst, sondern um Politik ging.
Daher hat sich bei mir die Methode bewährt, Fragen zur Diskussion an die Gruppe zu geben. Wenn also jemand etwas Diskussionswürdiges sagte, fragte ich in die Runde, wie alle anderen dazu stünden. Das nahm mir den Druck, Aussagen sofort zu evaluieren und mich zu positionieren, gab allen die Möglichkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und regte in vielen Fällen belebte Diskussionen an. Es setzte voraus, dass alle auf einer Ebene miteinander in den Dialog treten und übertrug die Verantwortung mit auf die Gruppe. Wenn dann eine Person feststellt, dass sie die einzige ist, die sich diskriminierend äussert, wird sie ihre Wortwahl und/oder Haltung möglicherweise überdenken. Diskussionen vervielfältigen die Perspektiven auf bestimmte Sachverhalte. Sie erzeugen Vielstimmigkeit auf der Basis von bestimmten Regeln und demokratisieren so die Vermittlungssituation.
Die Methode setzt aber voraus, dass die Diskussionsteilnehmenden ein gewisses Vorwissen mitbringen, auf dessen Basis fundiert diskutiert werden kann. Das war natürlich nicht immer gegeben, weshalb mir manchmal doch wieder die Aufgabe zukam, Informationen zu vermitteln.
Ausserdem bergen solche Diskussionen die Gefahr, dass sich eine diskriminierende und/oder ver_andernde Perspektive als in der Gruppe mehrheitlich anerkannt herausstellt. Zum einen macht es das für andere Mitglieder der Gruppe schwieriger, divergierende Meinungen zu äussern, und zum anderen führt es mich auf die Frage zurück: Wann greife ich ein? Inwiefern bin ich im Kontext meiner Situiertheit in der Lage zu beurteilen, welche Aussagen diskriminierend sein könnten und daher disqualifiziert werden sollten?

Daher eigneten sich in einigen Fällen Diskussion anleitende Fragen besser. In vielen Fällen legten die Projekte der Ausstellenden bereits nahe, über Vorannahmen und Stereotype zu sprechen und darauf aufbauend den eurozentrischen Kunstkanon kritisch zu diskutieren. Am Beispiel der Ausstellung von Fondation Festival Sur le Niger bot es sich an, von „Was denkt ihr über den Begriff ‚afrikanische Kunst‘ (im Vergleich zu europäischer Kunst?)“ über „Wer definiert das?“ zu „Wie können wir jetzt die Arbeiten einordnen?“ die Diskussion zu leiten.
Universalisierende Perspektiven im Hinblick auf lokale/nationale Zuschreibungen versuchte ich zu dekonstruieren, indem ich zum Beispiel korrigierte, dass Wajukuu Art Projects nicht aus Afrika kämen, sondern genauer aus dem Mukuru-Slum bei Nairobi in Kenia. Wenn Besucher*innen (voreilige, falsche) kulturelle Zuschreibungen machten, fragte ich, woran sie diese denn festmachen würden, um dann etwaige Universalisierung und Ver_Anderung zu dekonstruieren - beispielsweise in den Werken von Malgorzata Mirga-Tas und Robert Gabris.
Insbesondere die Arbeiten im ROMAMoMA der Off-Biennale Budapest boten sich an, um gemeinsam über (visuelle) Stereotype zu sprechen und zu schauen, inwiefern diese bereits in den Arbeiten aufgegriffen, angeeignet oder dekonstruiert werden. So konnten wir auch (vergleichend) die Strategien der Künstler*innen diskutieren und erlernten ver_andernde und essenzialisierende Narrative reflektieren, denn die Künstler*innen stellten andere Erzählungen entgegen.
Das bot aber auch die Gefahr, dass diskriminierende Bezeichnungen verwendet würden. Wenn es in einem Ausstellungsbereich um Identität und Zuschreibungen ging, war es ratsam, am Anfang zu klären, welche Begriffe warum (nicht) genutzt werden sollten – natürlich in Absprache mit den Künstler*innen.
Trotzdem fiel das Verlernen von Begriffen sowie ver_andernden Narrativen vielen Besucher*innen meiner Walks and Stories sehr schwer. In solchen Fällen wiederholte ich den betreffenden Satz, allerdings mit der korrekten Selbstbezeichnung statt des diskriminierenden Begriffs (in der Hoffnung, dass die Personen nur noch einmal daran erinnert werden müssten).

Wenn diskriminierende Bezeichnungen wiederholt verwendet wurden, habe ich direkt angemerkt, dass ich dies nicht guthiess. Dabei merkten die Besucher*innen sicher, dass ich aufgebracht war. Das zeigte ihnen, dass es mir – als Kunstvermittlerin und Freundin – etwas bedeutete. Ich hatte den Eindruck, dass meine Sichtweisen manchmal eher ernst genommen wurden, wenn ich sie auf der emotionalen Ebene kommunizierte statt auf der informativen.
Aber wenn sich kein Ver_lernwille zeigte, die Leute stur und abwehrend reagierten, war für mich meist der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr versuchte, den freundschaftlichen Umgang mit Einzelnen aufrecht zu erhalten. Schliesslich bin ich auch Freundin der Künstler*innen, ihrer Communities sowie meiner marginalisierten Kolleg*innen und möchte, dass respektvoll über sie gesprochen wird, wenn wir schon über sie und nicht mit ihnen sprechen.
Wichtig war es mir auch, die eigene Situiertheit zu reflektieren, indem ich die Gruppe Dinge fragte wie „War jemand von Euch bereits vor Ort?“, „Habt ihr das schon mal erlebt? Ich auch nicht, aber die Künstler*innen haben uns berichtet…“

Kea Wienand schreibt über die documenta 12-Kunstvermittlung als transkulturelle Praxis und erläutert, dass es insbesondere in Situationen Vermittlung brauche, in denen eigene (erlernte) Sehgewohnheiten und Annahmen mit anderen konfrontiert wurden (vgl. Wienand 2009: 127) Diese Erfahrung teilte auch ich 15 Jahre später.
Es besteht immer noch „[…] ‘Vermittlungsbedarf’ […] hinsichtlich einer Rassismus- und Sexismuskritischen und postkolonialen Rede über Kunst […]“ (ebd.: 126), wobei die Konfrontation mit eigenen Rassismen (sowie anderen Formen von Diskriminierung und deren Verschränkungen) unvermeidlich ist. Es muss reflektiert werden, wie wir über gesellschaftliche Differenzen sprechen, ohne zu essenzialisieren und zu ver_andern (vgl. ebd.).
Durch ein Anleiten zur Selbstreflexion – sozusagen eine gelenkte Betrachtung – sowie einem subjektiven Zugang zu Hintergründen über das (Nach-)Erzählen persönlicher Geschichten können rassifizierende, exotisierende und essenzialisierende Vorannahmen und Sehgewohnheiten reflektiert werden.
Eigene Stellungnahmen zu Themen wie Ver_anderung laden Besucher*innen dazu ein, ebenso Stellung zu beziehen.

Die genannten Strategien haben gemeinsam, dass die Beteiligten aufgefordert bzw. zumindest eingeladen werden, am Gespräch teilzunehmen, die eigene Perspektive zu reflektieren und sich zu positionieren. Sie erhalten die Möglichkeit zur Selbstreflektion und sehen im Bestfall die Notwendigkeit dazu.
Aus passiven Konsument*innen der Kunstvermittlung wurden Menschen, die sich aktiv zu politischen Anliegen verhalten mussten. Es wurde gemeinsam ver_lernt und Wissen geteilt, erlernte Annahmen und eigene Privilegien reflektiert.
Der strukturelle Rahmen – meine Arbeitsbedingungen und die Konzeption des Vermittlungsformats – sowie fehlende Expertise bzw. Vorbereitungszeit für Konfliktgespräche führten jedoch dazu, dass ich meinen Ansprüchen nicht immer vollkommen gerecht werden konnte. Wenn ich verunsichert oder erschöpft war, musste ich auch mal auf die bewährte Methode des autoritären Sprechens zurückgreifen. Sarah Marcinkowski stellte bereits während der documenta fifteen fest: „Zeit für Methoden, für Zwischenräume und Gespräche; Zeit, den vielen Diskussionen Raum zu geben, und auch notwendige Grenzen zu ziehen – eher Fehlanzeige“ (Marcinkowski 2022: 15).

Kollektive Arbeit, kollektive Verantwortung: Antirassismus

Rassismuskritische Bildungsarbeit basiert auf der Perspektive, pädagogisches Handeln als „[…] eingebettet in Kontexte von Nationalstaat, Migration, Macht- und Dominanzverhältnissen [zu] begreifen“ (vgl. Scharathow 2011: 12). Es gilt zu erkennen, dass Rassismus eine hegemoniale Gesellschaftsstruktur konstruiert und legitimiert, die auf Zuschreibungen, ungleiche Bewertungen und Unterscheidung sozialer Gruppen fusst. Ziel der Bildungsarbeit ist es, durch Analyse, Reflexion, Bewusstseinsbildung und Positionierung zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen (vgl. ebd.: 12f.):

„Im Sinne einer rassismuskritischen pädagogischen Perspektive geht es darum, eine kritische Haltung zu entwickeln, welche dazu befähigt, das eigene Handeln sowohl im Kontext von Strukturen, Diskursen und Dominanzverhältnissen als auch vor dem Hintergrund rassismustheoretischer Implikationen beständig zu reflektieren und entsprechend widerständige Strategien zu entwickeln sowie Handlungsalternativen zu erarbeiten.“ (Ebd.: 13)

bell hooks spricht vom politischen Lernen gegen Rassismus als kollektive Arbeit an geteiltem Wissen. Für sie ist diese Arbeit von persönlicher Haltung, vom Streiten, aber auch von der Hoffnung geprägt, dass durch sie gesellschaftliche Veränderungen vorangebracht werden können (vgl. hooks 2003, zit. n. Sternfeld 2014: 17).

Die documenta fifteen und meine Erlebnisse dort haben mir deutlich gezeigt, dass Kunst politisch ist, dass sie uns auch abseits von ästhetischer Beurteilung dazu bringen kann, uns zu ihren Inhalten zu positionieren. Das kann gelingen, wenn Kunstvermittlung als kollektives Handeln, die Tätigkeit als Vermittler*innen als politisch engagiert und Antirassismus als gemeinsame Verantwortung verstanden wird.
Wenn wir Ausstellungen als Orte verstehen, die nicht nur Kunstobjekte, sondern auch kontextbezogene politische Geschichten zeigen (vgl. Ault 2002: 53), wird Kunstvermittlung zur politischen Bildung. Vermittlungssituationen werden dann zu Kontaktzonen, wo diese Bildung als kollektiver Prozess stattfinden kann.

Kunst birgt das Potenzial, Seh- und Sprechgewohnheiten zu reflektieren und zu erweitern. Das kann geschehen, indem Machtverhältnisse sowie Ein- und Ausschlussmechanismen thematisiert und Kontextinformationen gegeben werden, eigene Standpunkte, Vorannahmen und gesellschaftliche Vorstellungen reflektiert und Positionen bezogen werden. Kea Wienand beobachtete das bereits auf der documenta 12: „Dass die Kunst auf der documenta 12 zur Artikulation von Rassismen geführt hat, bedeutet meiner Ansicht nach nicht, dass die Kunst oder die Ausstellung rassistisch waren, sondern zeigt vielmehr, dass Kunst Rassismen hervorrufen, aber auch verhandelbar machen kann, insofern sie es ermöglicht, eigene Blickstrukturen und Dominanzverhältnisse zu reflektieren. […] Kunstvermittlung generierte sich auf der documenta 12 […] als ein Raum, der Rassismus diskutierbar macht […]“ (Wienand 2009: 142).
Nora Sternfeld konzipiert Kunstvermittlung als emanzipatorische Pädagogik: „[…] Lernen als Waffe im Prozess der Selbstermächtigung, Bewusstsein für die eigene Situation, Thematisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen und von Ausschluss- und Ausbeutungsmechanismen, Verbindung von Lernen und Handeln im Hinblick auf eine soziale und politische Veränderung […]“ (Sternfeld 2005: 31).

Auf der Basis von Carmen Mörschs Definition zu kritischer Kunstvermittlung (Mörsch 2009: 20ff.) komme ich zu dem Schluss, dass wir sobat-sobat auf der documenta fifteen kritisch Kunst vermitteln konnten, wenn wir uns als kritische Freund*innen verstanden – machtkritisch und unter Sichtbarmachung der eigenen Position, spezifisches Wissen der Teilnehmenden ernst nehmend und vor allem Haltung zeigend:

„Das Ernstnehmen vorhandenen Wissens führt auch dazu, dass sich ihre Praxis von einer reinen Dienstleistung unterscheidet: Kritische Kunstvermittlung setzt auf Kontroverse. Sie positioniert sich z.B. anti-rassistisch und anti-sexistisch und setzt diese politische Haltung an die Stelle behaupteter Objektivität und verordneter Diplomatie.“ (Ebd: 21)

Dienstleistungsorientierte Vermittlung lässt kaum Raum für kritische Praxis. Es ist die Aufgabe kritischer Kunstvermittler*innen, Diskriminierung entgegenzutreten.
Kunstvermittlung sollte nicht als unabhängig von politischer Bildung verstanden werden. Interessen- und Wertekonflikte müssen ausgehandelt werden, auch wenn sie „den Rahmen sprengen“ und Teilnehmende sie lieber vermeiden würden. Dabei ist es wichtig, als vermittelnde Person die eigene subjektive Perspektive zu reflektieren. Es empfehlen sich Strategien aus der rassismuskritischen Bildung. Vor allem braucht es eine Sensibilisierung der Vermittler*innen im Umgang mit Diskriminierung, damit sie sie erkennen und handeln können. Nicht nur Vermittler*innen sollten diese Verantwortung übernehmen, sondern auch Institutionen, die für die Schulung des Personals zuständig sind. Es muss ebenso möglich sein, gegebene Vermittlungskonzepte an Erfahrungen in der Vermittlungsarbeit anzupassen, bzw. sich innerhalb von ihnen Spielraum zu nehmen.

Literatur

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Kurzbiografien der Autor_innen: