Eine praxeologische Betrachtung von Unterricht mit kunstpädagogischem Fokus
Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in das Promotionsprojekt Zeichnen – Reden – Zeigen (Bader 2019). Ausgangslage der Studie ist die Frage, in welcher Weise der kommunikative Austausch im Kunstunterricht bildnerisches Denken und Handeln beeinflusst. Sie widmet sich somit konkreter Unterrichtspraxis, wie sie sich – zwischen Unterrichtsplanung und Schüler*innenergebnissen – in der Live-Situation vor Ort im Klassenraum entfaltet. Dabei soll das Geschehen nicht evaluierend, sondern ganz grundlegend im Hinblick auf dessen strukturelle Verfasstheit betrachtet werden.Der Begriff Unterrichtsforschung bezeichnet oft Forschungsansätze, die auf eine Evaluation und Verbesserung der Qualität von (Fach-)Unterricht ausgerichtet sind, wie z.B. die videobasierte Unterrichtsforschung der Pythagoras-Studie im Bereich der Mathematik, online unter: https://www.dipf.de/de/forschung/projektarchiv/Pythagoras [4.8.2019]. Die Studie Zeichnen – Reden – Zeigen grenzt sich davon ab, da sie sich im Sinne einer Grundlagenforschung der strukturellen Verfasstheit situierter Lehr-Lern-Prozesse widmet. Anhand von Audio- und Videoaufzeichnungen aus einer Unterrichtsstunde zum Zeichnen nach Anschauung an einem Gymnasium in der Schweiz werden in vier Mikro-Fallstudien exemplarische Lehr-Lern-Situationen mehrperspektivisch untersucht. Die empirischen Erkenntnisse bilden die Basis für eine Theoriebildung vor dem Hintergrund praxistheoretischer Konzepte, die mit kunst- und theaterpädagogischen Positionen verknüpft werden. Im Sinne einer Grundlagenforschung wird einerseits ein Instrumentarium zur systematischen Beschreibung und Analyse von Lehr-Lern-Prozessen entwickelt,Das Instrumentarium wurde ausgehend von Unterricht im Bildnerischen Gestalten auf Sekundarstufe 2 und mit fachspezifischem Akzent entwickelt, beansprucht darüber hinaus jedoch auch Relevanz für die Untersuchung von Lehr-Lern-Prozessen im Unterricht generell. andererseits werden die angewandten Forschungsmethoden auch auf visueller Ebene weiterentwickelt und damit ein innovativer methodischer Beitrag im Bereich videografischer Forschung geleistet.
Der vorliegende Artikel widmet sich zwei Besonderheiten, welche die Studie auszeichnen: Erstens schliesst die Studie direkt an das Pilotprojekt Zeichnen – Reden an, das 2012/13 an der Hochschule der Künste Bern unter der Leitung von Ruth Kunz von einem kleinen Forschungsteam – Nadia Bader, Sarah Hostettler, Simone Haug, Franziska Bieri – durchgeführt wurde. Meine Dissertation stützt sich mitunter auf die im Pilotprojekt erhobenen empirischen Daten sowie auf die im Team erarbeiteten ersten Erkenntnisse, die eine fundierte und validierte Grundlage für die weitere Forschung bieten. Neben vielen Anschlüssen zeigten sich in der Weiterarbeit jedoch auch neue Desiderate, die zu methodischen und theoretischen Erweiterungen und zu einer neuen Fokussierung führten. Damit komme ich zur zweiten Besonderheit: Die Weiterentwicklung der aus der Soziologie und Ethnologie entlehnten, videobasierten Analysemethoden. Anhand eines Auszugs aus einer von vier Mikro-Fallstudien wird die praxistheoretisch fundierte Analyse entlang des entwickelten 4-Perspektiven-Modells veranschaulicht, wobei die visuelle Dimension der Darstellung einen wesentlichen Anteil ausmacht.Dank dem e-Journal-Format des Beitrags werden erstmals Gif-Animationen eingesetzt.
Pilotstudie | Konzeption, Datenerhebung und Basisanalyse
Im Pilotprojekt wurde die Gesamtanlage der nun zweiteiligen Studie grob konzipiert, die leitende Forschungsfrage erstmals formuliert, die Datenerhebung durchgeführt und eine erste Analyse ausgewählter Daten vorgenommen. Diese Analyse (Basisanalyse) ist in mehreren Arbeits- und Begleitdokumenten festgehalten.Ursprünglich waren diese Dokumente über die Projektdatenbank der Berner Fachhochschule (BFH) frei zugänglich. Da dies seit einer kürzlich erfolgten Umstrukturierung nicht mehr gegeben ist, sind die Dokumente nun über meine Webseite abrufbar: http://www.nadiabader.ch/cms2/index.php?/project/-zeichnen---reden/ [14.08.2019]. Das Kürzel "ZePro" kennzeichnet in Dateinamen und Bildquellen den Bezug zum Pilotprojekt. Im Band 37 Zeichnen – Reden der Reihe Kunstpädagogische Positionen (Bader 2017) werden wesentliche Ergebnisse zusammengefasst. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Datenerhebung ein und konzentriere mich dann auf die methodischen Herausforderungen, die sich angesichts der Forschungsfrage(n) in den zwei Teilprojekten in je spezifischer Weise stellen und entsprechende Lösungsansätze erfordern.
Die Datenerhebung erfolgte in einem Setting, das eine Nähe zu regulärem Unterricht aufweisen sollte, jedoch zugunsten eines forschenden Zugriffs zugleich laborhafte Züge annahm. Die Unterrichtsstunde zum Zeichnen nach Anschauung wurde in Absprache mit dem Forschungsteam von einer regulär am Gymnasium tätigen Lehrperson konzipiert und durchgeführt. Die Anschauungsgegenstände – Handtaschen vom TrödelmarktAbb. 1: N. Bader, Anschauungsgegenstände, 2018, nachgezeichnete Fotografien, © N. Bader – wurden von den Forschenden mitgebracht. Dokumentiert wurden alle im Unterricht geführten Gespräche (Funkmikrofon getragen von der Lehrperson), die durchgängigen gestalterischen Prozesse von drei zufällig bestimmten Schülerinnen (Standkamera auf Arbeitsfläche gerichtetAbb. 2: N. Bader, Raumansicht mit Standkameras, 2013, nachgezeichnete Fotografie, © ZePro & N. Bader) sowie die Lehr-Lern-Gespräch zwischen der Lehrperson und den drei Fokusschülerinnen (F1, F2, F3) (HandkameraAbb. 3: N. Bader, Ansicht mit Handkamera, 2018, Visualisierung, © N. Bader). Um Dialoge zwischen der Lehrperson und den Schülerinnen ins Zentrum zu rücken, wurden Einzeltische im Klassenraum verteilt und Peer-Gespräche weitgehend vermiedenAbb. 4: N. Bader, Anordnung im Raum, 2013, Visualisierung, © ZePro & N. Bader. Dieses prüfungsartig anmutende Setting gilt es bei einer Untersuchung von Beeinflussungen und Wechselwirkungen zwischen gestalterischem und kommunikativem Geschehen entsprechend mitzudenken (vgl. Bader 2019: 128ff). Zugleich verfolgen weder Pilot- noch Folgestudie den Anspruch, vermeintlich authentische Lehr-Lern-Situationen zu untersuchen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass jede Unterrichtssituation von vielfältigen, situativen Einflüssen geprägt ist, die gewollt sind, gezielt eingesetzt werden oder aber ungewollt und unbemerkt mitwirken (ebd.: 132). Das (Forschungs-)Setting ist entsprechend Teil davon.
Die im Team vorgenommene Basisanalyse der (audio-)visuellen Daten ist darauf ausgerichtet, zeitlich sequenziell zu rekonstruieren und zu verstehen, was im dokumentierten Unterricht geschieht (vgl. Bader 2017: 21). Im Forschungsprozess stellte sich nämlich heraus, dass ein Grundverständnis für die dialogischen und gestalterischen Prozesse überhaupt erst die notwendige Basis schafft, um in einem nächsten Schritt potenzielle Wechselwirkungen zu untersuchen (ebd.: 20 f). Als Ergebnisse der Pilotstudie liegen entsprechend Rekonstruktionen und Erstinterpretationen vor, die methodisch getrennt zunächst das Unterrichtsgeschehen insgesamt, dann die beratenden Einzelgespräche zwischen den drei Fokusschülerinnen und der Lehrperson sowie das gestalterische Vorgehen der drei Schülerinnen beleuchten (ebd.). Die sequenzanalytische Rekonstruktion des Unterrichtsverlaufs (→ Sequenzanalyse) ermöglicht es, Lehr-Lern-Gespräche und Gestaltungsprozesse als im Unterricht eingebettete Handlungszusammenhänge zu betrachten. Eine farbcodierte Visualisierung, die im Pilotprojekt entwickelt und im Folgeprojekt weiter ausdifferenziert wurde, zeigt zeitliche Abläufe, Dimensionen und Gesprächsphasen Abb. 5: N. Bader, Farbcodierte Verlaufsstruktur, Unterrichtsstunde „Zeichnen nach Anschauung“, 2016, © N. Bader. In der videointeraktionsanalytischen Untersuchung der Lehr-Lern-Dialoge (Knoblauch 2004) wird rekonstruiert, wie sich Lehrperson und Schülerin gegenseitig verständigen und wie sich deren Austausch inhaltlich und dramaturgisch entwickelt (→ Dialoganalyse). Anhand einer hermeneutisch-beschreibenden Analyse der gestalterischen Prozesse wird das je individuelle, bildnerische Vorgehen der drei Fokusschülerinnen kenntlich, das sich durch spezifische Phasen, Handlungen und Ereignisse charakterisieren lässt (→ Prozessanalyse). Durch die Basisanalyse wird zudem deutlich, wie sich die Lehr-Lern-Dialoge nicht nur auf die Gestaltungsprozesse der Schülerinnen auswirken, sondern dass auch die Lehrperson einen Lern-/Erkenntnisprozess durchläuft, der in der weiterführenden Analyse berücksichtigt wird (vgl. Bader 2017: 38f).
Folgestudie | Methodische Weiterentwicklung und theoretische Fundierung
Im Rahmen der Folgestudie stellte sich zunächst die Herausforderung, die separaten Teilanalysen der Teamforschung miteinander zu verbinden und einen geeigneten methodischen Zugang zur übergeordneten Forschungsfrage nach Wechselwirkungen zwischen kommunikativem Austausch und bildnerischem Denken und Handeln zu finden. Da der Fokus auf einem interaktiven Zwischenraum liegt, werden exemplarische Lehr-Lern-Situationen, an welchen je (mindestens) zwei Personen sowie nicht-menschliche Akteure beteiligt sind, als Fälle definiert (vgl. Bader 2019: 73ff).Dies wird hier hervorgehoben, weil insbesondere in der pädagogischen Fallforschung, die auf eine lange Tradition zurückblickt, Fälle zumeist Personen oder allenfalls Personengruppen oder Organisationen zugeordnet werden (vgl. Fatke 1995: 677), jedoch nicht spezifischen Situationen. Darüber hinaus galt es, neben dem zeitlich sequenziellen Verlauf des Geschehens auch eine Gleichzeitigkeit verschiedener potenzieller Einflüsse zu berücksichtigen (ebd.: 104). Solche mehrdimensionalen Verflechtungen lassen sich nicht mehr innerhalb einer einzelnen situations- und handlungslogischen Erzählung unterbringen, da verschiedene Erzählstränge aufeinandertreffen und sich zu einem komplexen Gebilde verweben. Je nach Fokus zeigt sich das Gewebe von einer anderen Seite. Um also dessen Verwobenheit auf die Spur zu kommen, gilt es, dieselbe Fallgeschichte mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu erzählen und so dieselben Phänomene aus mehreren Perspektiven zu beleuchten.
Methodisch wurden zunächst kurze auf Beeinflussungen/Wechselwirkungen hindeutende Lehr-Lern-Situationen ausgewähltDank der Mitarbeit im Pilotprojekt kannte ich das Datenmaterial bereits sehr gut, was die Auswahl erster Fallbeispiele erleichterte. Diese wurden durch Beispiele ergänzt, die einen möglichst starken Kontrast aufwiesen. und als Fälle gefasst. Dazu wurden Datenmaterial und erste analytische Erkenntnisse aus den Prozess- und Dialoganalysen zu einer neuen Fallgeschichte verbunden, die die vermuteten Beeinflussungen und Wechselwirkungen darstellen (vgl. Bader 2019: 102). Ausgehend von ersten Ergebnissen aus der Pilotstudie wurden vier Analyseperspektiven abgeleitet, die eine systematische Betrachtung ermöglichen und darüber hinaus anschlussfähig an praxistheoretische Konzepte sind.Die Theoriebildung vor praxistheoretischem Hintergrund erfolgt aus der Empirie, aus den Fallstudien heraus (vgl. Bader 2019, 387ff: fallvergleichende Ergebnisse). Hier werden die Analyseperspektiven direkt mit theoretischen Bezügen versehen. Die Fälle wurden entlang dieser Perspektiven je separat (re-)interpretiert, um so verschiedene Ebenen potenzieller Beeinflussungen/Wechselwirkungen aufzufächern.
(1) Aus der Perspektive zeitlicher Situiertheit wird betrachtet, wie Zeitpunkt, Dauer und zeitlich-dramaturgische Einbettung eine Lehr-Lern-Situation beeinflussen. Damit wird dem von Andreas Reckwitz beschriebenen „Spannungsfeld zwischen Routinisiertheit [sic! A.dV.] und systematisch begründeter Unberechenbarkeit von Praktiken“ (Reckwitz 2003: 282) Rechnung getragen. Demnach ist Praxis zugleich zukunftsoffen und – zumindest teilweise – vorhersehbar (vorstrukturiert durch Routinen etc.). Diese zeigt sich unter anderem an den Möglichkeiten und Grenzen von Unterrichtsplanung und der Notwendigkeit eines situativ angepassten, improvisierenden Lehrer*innenhandelns (vgl. Neuweg 2002: 12; Kalkül & Kontingenz bei Schürch/Willenbacher 2014).
(2) Aus der zweiten Perspektive werden die je individuellen bildnerischen Vorstellungen und Vorgehensweisen der (inter-)agierenden Personen untersucht, die in Lehr-Lern-Prozessen zum je aktuellen (fachlichen) Gegenstand aufeinandertreffen. Praxistheoretisch wird hier von einem komplexen Zusammenspiel von persönlichen und überindividuellen, kulturellen, von explizit verbalisierten und impliziten, von bewusst kommunizierten und womöglich unbeabsichtigt mitschwingenden Bedeutungsebenen ausgegangen, die sich in verbalen und non-verbalen Äusserungen der Personen spiegeln (vgl. zu implizitem Wissen Neuweg 2002 und Polanyi 2016).
(3) Schmidt zufolge ist eine Besonderheit praxistheoretischer Konzepte, dass diese „neben den [sozialisierten, menschlichen] Körpern auch Artefakte als Handlungsträger und Mitwirkende an Praktiken“ auffassen (Schmidt 2012: 63). Aus kunstpädagogischer Sicht erscheint dies interessant, weil damit unter anderem die Bedeutung von medialen Eigenheiten gestalterischer Mittel, räumlicher Anordnungen sowie Relationen zwischen Menschen und Dingen als wesentliche Bestandteile von Lehr-Lern-Prozessen berücksichtigt werden können, was unter der Perspektive Materialität, Medialität und Körperlichkeit in den Fokus rückt.Vgl. Meyer-Drawe (1999) zur „Aufforderung durch die Dinge“ (S. 333f).
(4) Die vierte Analyseperspektive knüpft an den für kunstpädagogische Belange wesentlichen Umstand an, dass sich non-verbale Handlungen (doings) nicht in sprachliche Handlungen (sayings) übersetzen lassen (vgl. Schmidt 2012: 257) und umgekehrt. Das Zusammenspiel von verbaler und non-verbaler Kommunikation (Reden, Zeigen) sowie von sprachlicher und ästhetischer Logik (Mersch 2015) in bildnerischen Lehr-Lern-Prozessen wird daher nochmals separat untersucht.
Im Überblick der vier Analyseperspektiven wird deutlich, dass sich diese überlagern und nur bedingt voneinander getrennt werden können.Je nach Forschungsinteresse kann z.B. eine Ergänzung weiterer Analyseperspektiven sinnvoll oder notwendig sein. Hier liegt der Fokus auf fachlichen Lehr-Lern-Prozessen, wobei z.B. die Beziehungsdimension jenseits einer fachlichen Verständigung kaum zum Thema wird, da die Datenlage dahingehend nur Spekulationen zulässt. Möglich ist jedoch ein gezieltes Auffächern mehrdimensionaler Lesarten, die ein alltäglich spontanes Verständnis von Lehr-Lern-Situationen irritieren und alternative, zuweilen widersprüchliche Deutungsoptionen aufzeigen können. Lehr-Lern-Prozesse erscheinen durch die mikroskopische Betrachtung fragil, prekär und von Brüchen durchzogen, die für die involvierten Personen in situ oft kaum wahrnehmbar sind. Der forschende Zugang ermöglicht durch eine kontrolliert herbeigeführte Verzerrung, Verfremdung und Dekontextualisierung (vgl. Schmidt 2012: 255) einen anderen Blick auf Alltägliches und vermeintlich Selbstverständliches. Eine solche Betrachtungsweise macht spezifische (eigene) Deutungsmuster kenntlich, was deren kritische Befragung sowie potenzielle Veränderung anregen und eine Grundlage für alternative Handlungsoptionen bieten kann. Im Folgenden wird ein Auszug aus einer von vier Mikro-Fallstudien vorgestellt,Vgl. Bader 2019, S. 236ff: Ausführliche Version der Fallstudie. um die mehrperspektivische Analyse und die Verbindung sprachlicher und bildlicher Darstellungsmodi zu veranschaulichen.Erste Überlegungen zum → Erkenntnis- und Vermittlungspotenzial von Bildern wurden im Rahmen der Pilotstudie festgehalten. http://www.nadiabader.ch/PDF_Download/ZePro3_Bader_2013_visualisierungsarbeit.pdf [14.08.2019].
Mehrperspektivische Analyse anhand einer exemplarischen Lehr-Lern-Situation
In der Unterrichtsstunde zum Zeichnen nach Anschauung werden zwei Kurzaufgaben (Fleckmalerei, Blindzeichnung) und die Hauptaufgabe zur linearen Sachzeichnung bearbeitet. Die hier betrachtete Lehr-Lern-Situation findet während der ersten Kurzaufgabe statt. Auf den Pulten der Schülerinnen befinden sich je ein Blatt (DIN A3), ein Pinsel und ein Becher mit verdünnter Tusche.
Die von der Lehrperson mündlich formulierte Aufgabenstellung lautet folgendermassen: „[…] versucht einmal drei bis vier Fleckzeichnungen, Fleckmalereien zu machen. Das heißt, ihr schaut wirklich die Gesamtform an von der Tasche, die Silhouette, und versucht vielleicht ein bisschen die Augen zusammenzukneifen, dann seht ihr’s besser. […] versucht eben nicht von der Linie her, also nicht von der Kontur oder der Umrisslinie her, die Tasche aufzubauen, sondern flächig, von der Fläche her. Und noch ein letzter Hinweis: Jedes Mal, wenn ihr zu einer neuen Fleckzeichnung kommt, wechselt ihr die Ansicht. Das heißt, ihr könnt sie beispielsweise […] auf den Tisch legen, ihr könnt sie wenden, ihr könnt die Tasche verändern, […] öffnen, schliessen, […] das Volumen verändern […]. Gut, dann könnt ihr beginnen, kurz nur so drei bis vier [Studien], nur die Gesamtform, die Silhouette.“ Ein Schüler fragt direkt im Anschluss, ob Hell-Dunkel berücksichtigt werden solle, worauf die Lehrperson antwortet „Nein, ihr berücksichtigt nur die Form, und deshalb hilft es eben, wenn ihr ein bisschen die Augen zusammenkneift.“
Die Aufgabenkriterien beziehen sich auf Anzustrebendes und zu Vermeidendes. Prozessbezogen soll nicht mit der Konturlinie begonnen, sondern von der Fläche her gearbeitet werden – eine eher ungewohnte Arbeitsweise. Die Fleckmalereien selbst sollen kein Hell-Dunkel und keine Details aufweisen, sondern „die Gesamtform, die Silhouette“Der Begriff der „Silhouette“ oder auch Schattenriss verweist sowohl auf eine Konturlinie/Umrisslinie als auch auf eine umrissene Fläche. Mit dem Arbeiten „von der Fläche her“ meint die Lehrperson hier wohl letzteres, was für die Schülerinnen aber teilweise unklar ist, wie sich später zeigt. des Gegenstands wiedergeben. Dies erfordert ein abstrahierendes Sehen und Ausblenden von Feinheiten (Augen zusammenkneifen). „Kurz, nur so drei bis vier [Studien]“ verweist auf ein zügiges, serielles Arbeiten.
Zum Zeitpunkt des folgenden kurzen Lehr-Lern-Dialogs hat die Schülerin Tina mit ihrer ersten Fleckmalerei begonnen. Auf ihrem Blatt sind drei Tuscheflecken erkennbar, die den zylindrischen Taschenkörper bezeichnen, wobei der aufgeklappte Deckel noch fehltAbb. 7: N. Bader, Zwischenstand & Gegenstand Fleckmalerei Tina, 2019, Videostandbild und nachgezeichnete Fotografie, © N. Bader. Die weiss ausgesparte Linie, die sich längs über den Taschenkörper zieht, scheint eine Glanzstelle auf dem speckigen Leder wiederzugeben und damit eine Hell-Dunkel-Differenzierung – ein erster Widerspruch zur Aufgabe (welche vorgibt, kein Hell-Dunkel zu berücksichtigen).
Die Schülerin hält in ihrer Arbeit inne und lauscht dem Gespräch am Nebentisch.
Der mitgehörte Hinweis der Lehrperson, dass die gesamte Tasche als eine Fläche dargestellt werden soll, weckt bei Tina den Verdacht, die Aufgabe womöglich falsch verstanden zu haben, denn ihre Malerei weist mehrere Flecken/Flächen auf. Auf ihre Rückfrage hin heisst die Lehrperson die Umsetzung jedoch gut – ein Zugeständnis zugunsten der Lösung der Schülerin. Abschliessend fordert sie Tina dazu auf, eine neue Fleckmalerei zu beginnen. Aus Sicht der Lehrperson scheint die erste Studie fertig zu sein. Tina arbeitet jedoch daran weiter. Dabei zeigt sich, dass sie die Form des Deckels zunächst konturiert, bevor sie diese ausmalt – ein zweiter Widerspruch zur Aufgabe (die vorgibt, aus dem Fleck heraus zu arbeiten).
Im Anschluss an diesen kleinen Ausschnitt stellen sich bereits verschiedene Fragen: Hat die Schülerin den Hinweis, aus dem Fleck heraus zu arbeiten, überhört, oder ignoriert sie diesen? Würde die Lehrperson das Konturieren und Ausmalen ebenfalls gutheissen, wie zuvor die mehreren Flecken, oder auf ihrer Vorgabe bestehen? Welche Implikationen birgt die dargelegte Situation im Hinblick auf den Lehr-Lern-Prozess, in den die Schülerin und die Lehrperson involviert sind?
Entlang der vier Analysedimensionen werden nun Bezüge zu weiteren Situationen hergestellt und unterschiedliche Lesarten und Deutungsmöglichkeiten ausschnitthaft dargestellt, um Wechselwirkungen nachzuzeichnen und das Analyseprinzip zu veranschaulichen.Die folgende Darstellung beginnt detaillierter, wird jedoch auf Grund der gebotenen Kürze zunehmend skizzenhafter. Eine ausführlichere Analyse kann im Buch zum Projekt (Bader 2019) nachgelesen werden.
Die vorgestellte Lehr-Lern-Situation macht zunächst auf das unterschiedliche Aufgabenverständnis von Lehrperson und Schülerin aufmerksam, weshalb ich mich zunächst den malerischen Vorgehensweisen und Vorstellungen widme. Anhand des Entstehungsprozesses der Fleckmalerei vor dem Dialog zeigt sich, dass Tina beim Malen durchgängig gleich und insofern konsequent vorgeht. Sie konturiert zunächst die einzelnen Flecken und malt sie danach aus.
Vermutlich ist ihr nicht bewusst, dass sie damit einen wesentlichen Aspekt der Aufgabe umgeht, denn Tina initiiert das Gespräch mit der Lehrperson, als sie bezüglich der Aufgabenstellung unsicher wird (ein Fleck oder mehrere?). Sie möchte die Aufgabe richtig machen. Ihr malerisches Vorgehen scheint sie jedoch nicht anzuzweifeln. Ein Hinweis von aussen wäre nötig.
Um das Aufgabenverständnis der Lehrperson zu untersuchen, werden Einzelgespräche mit anderen Schülerinnen einbezogen, die während der Kurzaufgabe stattfinden. Kurz vor dem Gespräch mit Tina weist die Lehrperson die Schülerin Lisa darauf hin: „Versuch nachher wirklich gerade von der Fläche her, dass du mehr Tusche nimmst und die Pfütze so runterziehst und nicht die Umrisslinie ausmalen“ Abb. 12: N. Bader, Dialog mit Lisa, 2018, Ausschnitt aus Videostandbild, © N. Bader. Vermutlich hätte sie also auch Tina auf die vorgesehene Malweise hingewiesen, konnte die Schülerin jedoch nicht beim Malen beobachten. Kurz nach dem Gespräch mit Tina spricht die Lehrperson mit AnjaDie Autor*innenschaft der (eingescannten) Fleckmalereien liegt bei den Schülerinnen (vgl. auch Abb. 14, 15, 18), die Autorschaft des Aufgabenblattes bei der Lehrperson. Im Rahmen des Pilotprojektes Zeichnen – Reden (2012/13) wurden die Namen aller dokumentierten Personen anonymisiert, was für das Folgeprojekt (Bader 2019) sowie den vorliegenden Beitrag beibehalten wird.: „Du kannst auch mehrere [Flecken], aber dann würde ich [die Form] nicht so extrem auseinandernehmen. Dann würde ich schon schauen, dass es wirklich, weisst du, so die Aussenform, das Gesamte mal anschaust.“ Abb. 13: Anja (Name anonymisiert), Fleckmalerei Anja, 2013, Ausschnitt aus Scan, © Anja, ZePro & N. Bader. Drei Flecken scheinen aus der Sicht der Lehrperson noch akzeptabel zu sein, während eine stärkere Fragmentierung den Rahmen der Aufgabe sprengt. An die Schülerin Eleisa gewandt, lobt die Lehrperson kurz darauf: „Sehr schön. Und da so Sachen sind natürlich schön, wenn es so etwas heller wird, weisst du, fast zufällig, aber doch so wie Raum [Räumlichkeit] reinkommt.“Abb. 14: Eleisa (Name anonymisiert), Fleckmalerei Eleisa, 2013, Gesamtansicht Scan, Original Din-A3, © Eleisa, ZePro & N. Bader Obschon keine Hell-Dunkel-Differenzierung vorgesehen ist, wird diese hier als ästhetische Qualität honoriert. Doch handelt es sich im Gegensatz zur weissen Aussparung in Tinas Fleckmalerei um ein Zufallsphänomen der trocknenden Tusche und nicht um eine absichtliche Ausgestaltung. Später im Unterricht (zu Beginn der Hauptaufgabe) wird den Schülerinnen ein Aufgabenblatt ausgeteilt, auf dem Fleckmalereien abgebildet sind, wie sich die Lehrperson diese vorgestellt hatteAbb. 15: Lehrperson/N. Bader, Aufgabenblatt mit Fleckmalereien, 2013, Scan, © Lehrperson, ZePro & N. Bader. Eleisas Malerei entspricht diesem (Vor-)Bild geradezu idealtypisch.
Anhand dieser Ausschnitte zeigt sich, wie die eingangs formulierte Aufgabe durch Lehr-Lern-Dialoge fortlaufend verhandelt, konkretisiert, (re-)definiert und individuell ausdifferenziert wird.
Aus der Perspektive zeitlicher Situiertheit bestimmt der Zeitpunkt, die Dauer und Dramaturgie der kurzen Interaktion zwischen der Lehrperson und Tina (weniger als 10 Sek.) mit, was wie verhandelt wird, werden kann, was wegfällt, übersehen wird und so weiter. Die Lehrperson scheint Tina nicht beim Konturieren und Ausmalen beobachtet zu haben, weil sie sonst eingegriffen hätte – wie bei Lisa. Durch Tinas Initiative wird die Aufmerksamkeit der Lehrperson im Dialog auf eine spezifische Frage gelenkt – ob drei Flecken akzeptabel seien –, die die Lehrperson rasch beantwortet und sich unmittelbar von Tinas Arbeitsplatz entfernt. So bleibt keine Zeit für eine vertieftere Auseinandersetzung. Dies ist auch dem Format der Kurzaufgabe geschuldet und dem von der Lehrperson geforderten zügigen Vorgehen, was sich in der Bemerkung „Und jetzt verändern und eine Neue!“ zeigt.
So erstaunt es nicht, dass die Lehrperson die Glanzstelle in der Malerei nicht bemerkt, womit die Dimension der Materialität und Medialität angesprochen wird. Im Vergleich zwischen Gegenstand und Malerei wäre ersichtlich, dass der Deckel der Tasche auf dem Studienblatt noch fehlt. Doch vermutlich fokussiert die Lehrperson im Vorbeigehen ausschliesslich das Blatt. Frage und Geste der Schülerin würden den Bezug zwischen Malerei und Gegenstand herstellen (verbale und non-verbale Kommunikation). Sie fragt zunächst „Aha, also die ganze Tasche als Silhouette...“ und deutet mit dem Pinsel auf ihre Fleckmalerei und dann auf den Gegenstand: „...und dort, wo es weiss ist beispielsweise auch?“Abb. 17: N. Bader, Verbale & gestische Kommunikation, Fall 4, 2019, überzeichnetes Videostandbild, © N. Bader. Wird diese flüchtige Geste ernst genommen, bezieht sich das Weiss auf die Glanzstelle, die am Gegenstand „weiss ist“. Die Lehrperson scheint das Weiss jedoch auf die Aussparungen in der Malerei zu beziehen. So könnte spekuliert werden, dass die Lehrperson die Darstellung mit drei Flecken gutheisst, weil ein nachträgliches Ausmalen mit verdünnter Tusche nicht funktionieren würde, da Übermalungen deutlich sichtbar wären. Dieser Gedanke führt zurück zur Arbeitsweise der Schülerin, die einen zügigen und versierten Eindruck macht. Das Konturieren und Ausmalen scheint für sie ein gewohntes Vorgehen zu sein, das schliesslich zu drei Fleckmalereien führt, die von einer differenzierten Beobachtung sowie einem routinierten Umgang mit Pinsel und Tusche zeugenAbb. 18: Tina, Fleckmalereien Tina, 2013, Gesamtansicht Scan, Original Din-A3, © ZePro & N. Bader. So liesse sich gerade bei dieser Schülerin argumentieren, dass ein ungewohntes Vorgehen (Form aus der Fläche heraus entwickeln) und ein Durchbrechen von bereits etablierten Routinen eine neue/andere ästhetische Erfahrung anstossen könnte. Dieses in der Kurzaufgabe angelegte Potenzial bleibt hier ungenutzt, was wiederum von der Schülerin und der Lehrperson nicht bemerkt wird.
Potenziale eines (ästhetisch sensibilisierten) praxistheoretischen Blicks auf Kunstunterrichtspraxis
Anhand des Fallbeispiels wird die Komplexität von Lehr-Lern-Prozessen im Kunstunterricht (zumindest ansatzweise) nachvollziehbar. Durch die vier-perspektivische Analyse werden Einflüsse und Wechselwirkungen auf mehreren Ebenen aufgezeigt. Je nach Fokus und Gewichtung bieten sich unterschiedliche Deutungen der Lehr-Lern-Situation an. Zum Beispiel zeigt sich angesichts der Aufgabe zur Fleckmalerei eine unbemerkt ungenutzte Lerngelegenheit und zugleich eine differenzierte Annäherung an den Gegenstand, was für die später folgende Aufgabe zur Sachzeichnung bedeutsam ist.
Der videobasierte Forschungszugang ermöglicht eine feinteilige Untersuchung von Interaktionen, die in der Live-Situation sehr kurz und flüchtig sind. So können Dimensionen von Lehr-Lern-Prozessen in den Blick geraten, die den involvierten Personen in situ nur ansatzweise oder gar nicht zugänglich sind, etwa das Vorgehen der Schülerin, das sie selbst nicht infrage stellt/stellen kann, das die Lehrperson nicht wahrnimmt oder wahrnehmen kann.
Wie angedeutet wurde, bieten praxistheoretische Konzepte Erklärungsansätze für ein besseres Verständnis von (Kunst-)Unterrichtspraxis (z.B. Implizites Wissen). Umgekehrt kann eine kunstpädagogische Perspektive jedoch auch einen Beitrag zu Praxistheorien leisten. Im vorgestellten Fallbeispiel versucht die Lehrperson, mit der Aufgabe der Fleckmalerei eine gewohnte Vorgehensweise zu durchbrechen und eine andere, ungewohnte Zugangs- und Wahrnehmungsweise zu provozieren: Anstatt einen Gegenstand von seiner Kontur her zu denken, soll dessen Gesamtform aus einem Fleck heraus entwickelt werden. Durch solche Ansätze können (vermeintlich) selbstverständliche und gewohnte bildnerische (aber auch alltägliche) Praktiken wieder ins Bewusstsein gelangen und so verhandelbar und veränderbar werden.Im Theaterkontext ist dies besonders offensichtlich, wenn beispielsweise Praktiken aus ihrem Alltagskontext herausgelöst, auf der Bühne zur Schau gestellt und so als spezifische, kulturell situierte Praktiken kenntlich und öffentlich verhandelbar gemacht werden (vgl. Hentschel 2016).
Der hier vorgestellte Forschungsansatz möchte demgemäss dazu ermutigen, die Feinheiten in Lehr-Lern-Prozessen und die alltägliche Dimension von Kunstunterricht im Sinne einer regular practice (Bader 2019: 394ff) in den Blick zu nehmen. Eine differenzierte Betrachtung von vermeintlich Selbstverständlichem und Banalem kann auf zunächst unbemerkte Unwägbarkeiten aufmerksam machen und implizite, oft unbewusste (eigene) Deutungs- und Handlungsmuster offenlegen, wodurch diese verhandelbar und veränderbar werden können.
Literatur:
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