Dinge, Stimmungen, Handlungen - Der Spaziergang als Konstellation
Abstract:
Sowohl in künstlerischen Forschungsprojekten als auch im Unterricht werden Spaziergänge zur Untersuchung von Raumwahrnehmung genutzt. Das gemeinsame Gehen wird dabei als Konstellation betrachtet, um die Faktoren, die die Aktion bestimmen, zu erkennen und zu beeinflussen, also kollektives Handeln zu gestalten. Anhand künstlerischer Beispiele wird aufgezeigt, wie Raum und Wahrnehmung zusammenhängen und wie ihr Verhältnis immer wieder neu konstruiert wird.

Grundlage dieses Textes sind Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt Grenzgang – Künstlerische Untersuchungen zur Wahrnehmung und Vermittlung von Raum im trinationalen Grenzgebiet Zudem fliessen Erkenntnisse aus einem jährlich stattfindenden Seminar am Institut Lehrberufe Gestaltung und Kunst der HGK FHNW ein, in dem Studierende selbst Spaziergänge konzipieren und anleiten. Die Gedanken zusätzlich geschärft hat eine Einladung an das Internationale Performancefestival in Giswil im Sommer 2018, für das ich zusammen mit Tina Z’Rotz eine Wanderung als Performance entworfen und durchgeführt habe (Tina Z’Rotz, Markus Schwander, Rahel Kraft, Wunder und Wasserfall, 8. September 2018).

Im Forschungsprojekt Grenzgang wurde das trinationale Grenzgebiet um Basel mit Hilfe von Spaziergängen untersucht. Die Mitglieder der Forschungsgruppe (Beate Florenz, Simone Etter, Daniel Brefin, Amadis Brugnoni, Markus Schwander) entwickelten zehn exemplarische Spaziergänge, auf welchen in sehr individuellen Untersuchungen die Wahrnehmung von Raum erfasst und deren Vermittlung reflektiert werden konnten. Fünf der Spaziergänge wurden gemeinsam in der Gruppe durchgeführt, die anderen fünf individuell. Das Zusammenspiel von Weg, individueller Notation, geteilten Anweisungen und der Dynamik der Gruppe machte ein komplexes Ineinandergreifen unterschiedlichster Faktoren erlebbar. Ziel war, in der realen Auseinandersetzung die These, „dass die Bewegung im Raum seine Konstruktion massgeblich beeinflusst“ (Antrag zu Grenzgang, 2012), körperlich zu überprüfen. Dies sollte durch einen „radikal individualisierten Ansatz künstlerischer Forschung“ (Antrag zu Grenzgang, 2012) erreicht werden.

Sowohl auf den gemeinsamen, insbesondere aber auf den individuellen Begehungen, waren die Forschenden durch spezifische Anweisungen miteinander verbunden. Sei es der Auftrag, sich an bestimmten Orten auf Geräusche zu konzentrieren, die Vorgabe, möglichst nahe der Linie einer Starkstromleitung zu folgen oder das Ersetzen der Schuhe durch Hotelschlappen: Die Anweisung half, sich bestimmter Faktoren, welche die Wahrnehmung prägen, bewusst zu werden. Auch auf anderen Spaziergängen, die ich in den letzten Jahren miterlebte, wurden gemeinsame Regeln oder Handlungsanweisungen aufgestellt (z.B. rückwärts oder blind zu gehen) oder die Spazierenden formulierten eigene Aufgaben, wie etwa alle gelben Dinge zu notieren oder Richtungswechsel mit dem Würfel zu bestimmen. Die Anweisungen sind nicht so sehr als zu lösende Aufgaben zu betrachten, sondern als Möglichkeiten, das Erlebnis mitzuprägen. Die Faktoren, welche die Konstellation in einem Spaziergang bestimmen, können dadurch verstärkt, verändert oder gegeneinander verschoben, also gestaltet werden.

Der Begriff Konstellation dient dazu, das Repertoire der Faktoren, die uns in einer Aktion bewusst sind, zu erweitern und zu lernen, mit ihrer Hilfe kollektives Handeln zu gestalten. Darin liegen Potentiale für die Vermittlung, da im gemeinsamen Gehen als Aktion „Erkenntnis generiert (nicht lediglich transponiert) Florenz 2016: 2).

DINGE

Sowohl das Seminar als auch das Forschungsprojekt stellt Bezüge zu den Gedanken des Basler Soziologen und Spaziergangswissenschaftlers Lucius Burckhardt her. Auf seinen Spaziergängen thematisiert er vor allem die Beschreibung der Landschaft und deren Planung. Burckhardt geht in seinen Überlegungen von einem ,klassischen Spaziergang’ aus. Dieser führt von der Stadt in ländliche Gegenden und wieder zurück. Die landschaftlichen Elemente, die Burckhardt in seinen Texten aufzählt, sind immer ähnlich, daher typisch. Burckhardt bezieht sich auf Schillers Gedicht „Der Spaziergang“, in dem ein Rundgang in die Natur den Menschen Freiheit erfahren lässt. Der Mensch kommt aus der Erfahrung der Natur zurück und erkennt die Grenzen der individuellen Freiheit in der Zivilisation. Der bürgerliche Spaziergang, wie ihn Burckhardt schildert, ist eine sonntägliche Wiederholung von Schillers Erfahrung in homöopathischen Dosen. Burckhardt stellt dieser aus seiner Sicht unreflektierten Spaziergangskultur eine Didaktik entgegen, in welcher durch Verfremdung die gewohnte Sicht dekonstruiert wird. So wurden auf Spaziergängen durch den urbanen Raum Beobachtungen von den Entdeckungsfahrten Captain Cooks in die Südsee vorgelesen. „Wir, das heisst Studenten aus Mailand und aus Kassel, wählten zwölf Stationen, den Bahnhof beispielsweise, ein Industriegelände, ein nettes Gärtchen, (…), ein Schlösschen, und an diesen Stellen las ein Schauspieler dann jeweils eine Seite aus dem Tagebuch von Georg Forster über die Erforschung von Tahiti vor “ (Georg Forster begleitete James Cook auf seiner zweiten Weltumsegelung 1772-1775, A.d.V.) (Burckhardt 1989: 311-312). Durch mehr oder weniger passende Textstellen wird das Gewohnte der räumlichen Situationen in Frage gestellt.

1975 veröffentlichte Georges Perec sein kleines Buch Tentative d’épuisment d’un lieu parisien (Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen) (Perec 2011). Dieser Publikation ging die folgende Aktion voraus: Am 18. und 19. Oktober 1974 setzte sich Perec auf den Place Saint-Sulpice, um zu notieren „was man im Allgemeinen nicht notiert, das, was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert ausser Zeit, Menschen, Autos und Wolken“ (Perec 2011: 9). Er beschreibt Menschen und Dinge in kurzen Sätzen, Listen und Stichwörtern. Sowohl der Versuch, mit Absicht unterschiedslos alles zu erfassen, als auch der Wille, einen ganzen Tag an einem Ort zu verbringen, verändern die alltägliche Routine und sind mögliche künstlerische Methoden, um die eigene Wahrnehmung im Verhältnis zum Raum zu untersuchen.

STIMMUNGEN

Dekonstruktion von Gewohnheiten macht Gewohnheiten erkennbar, indem sie durchbrochen werden. Die durch Störung bewusster gewordene Wahrnehmung kann benannt, besprochen und eingeordnet werden. Perec listet passierende Busse, Autos und Hunde auf, Burckhardt erzählt von Orten. Auf der Fahrt nach Tahiti wird deren Bedeutung ad absurdum geführt und das Augenmerk auf das gerichtet, was wir sehen. Spazierende finden sich in der Landschaft jedoch nicht nur umgeben von Dingen, sondern sind auch dem Wetter und der Beschaffenheit des Weges ausgesetzt. Es zeigt sich vieles, was nicht offensichtlich Objekt ist. Eher registrieren wir Zustände oder Atmosphären. Gernot Böhme stellt in Aisthetik der Aussage „Ich sehe den Baum“ die Feststellung „Mir ist kalt“ gegenüber, um verständlich zu machen, wie sich die leibliche Erfahrung des Spürens nicht nur durch die benutzten Sinne vom Sehen eines Gegenstandes unterscheidet, sondern auch dadurch, dass die Aussenwelt sich in dieser leiblichen Erfahrung wahrnehmbar mit dem Körper verbindet und das was nur schwer vom wie der Perzeption unterschieden werden kann. Das Atmosphärische kann nur stimmungsmässig erfasst werden; Schatten, Kälte oder die Nacht sind wesentliche, prägende Faktoren (vgl. Böhme, 2001: 39). 

Um den Fokus von den wahrgenommenen Objekten auf das wie der Wahrnehmung zu lenken, gehen wir im Seminar gelegentlich mit unterschiedlich farbigen Brillen. Wenn eine Gruppe Spazierender farbige Brillen trägt, ist ihnen gemeinsam, dass ihr Sehen verändert wird. Die verschiedenen Farben machen aber auch deutlich, dass sich ihr Sehen je anders verändert.

Bild 1/2: Spaziergang mit farbigen Brillen, Foto: Markus Schwander

Diese Brillen benutzten Tina Z’Rotz und ich auch zum Einstieg in unsere Wanderung am Internationalen Performancefestival in Giswil. Parallel fanden vier Wanderungen statt und die Besucher*innen des Festivals mussten sich entscheiden, mit wem sie den Nachmittag verbringen wollten. Die drei anderen Performer*innen nutzten die Wanderung, um eine Performance in der Landschaft vorzuführen. Wir führten im Unterschied dazu nichts auf. Die Performance, wie wir sie verstehen, deckt sich mit der Konstellation der Wanderung. Unser Interesse fokussierte sich darauf, die Faktoren, welche die Gesamtheit der Aktion bildeten, in ein die Erfahrung verstärkendes Verhältnis zu bringen. Die farbigen Brillen beeinflussen nicht was wir sehen, sondern wie wir sehen. Die Brillen verändern nicht nur die Farben, sie verändern die Stimmung. Kontraste werden verstärkt oder verringert, die Farbigkeit kann das Gefühl für Temperaturen beeinflussen oder sich auf das Hören auswirken; das Gehirn adaptiert mit der Zeit die ungewohnte Wahrnehmung. Das Abnehmen der Brille macht schockartig bewusst, dass sich eine neue Normalität eingestellt hat. Im ersten Moment erscheint die Aussenwelt als Gegenbild zum Erlebnis mit der Brille. Das wie der Wahrnehmung wird als im eigenen Körper liegend erlebt, dessen aktiver Anteil an der wahrgenommenen Konstellation erfahren.

HANDLUNGEN         

1990 bis 1992 ging der Künstler Francis Alÿs mit einem Spielzeughund spazieren, in dessen Innerem sich ein Magnet befand (Francis Alÿs, The Collector, 1990-1992). Während er ging, zog der kleine Hund all die Metallstückchen an, die auf der Strasse lagen. Beachtung fand hier Kleinstabfall, Ausrangiertes, Verlorenes. Alÿs Zugang zum Raum wird von der Kunsthistorikerin Monika Kästli als „an die Performanz des Menschen gebunden und als ‚performed space’ verstanden“ beschrieben (Kästli 2015: 32). Das inzwischen vergangene Geschehen und die an den spezifischen Ort gebundene Handlung wurden in der Erzählung durch den Künstler und die Kunsthistorikerin weitervermittelt. Der Künstler präsentierte als Ergebnis der Arbeit Videos seiner Performance, Fotos der Aktion oder er stellte eine Gruppe von etwa dreissig der Spielzeughunde aus. Die gesammelten Abfallstücke selber wurden nicht als Sammlung gezeigt und in den Videos ist die Wirkung des Magnetes nicht wirklich zu sehen. Die Kombination von Erzählung und Dokumentation erzeugt eine Vorstellung, wie die Metallteile von der Strasse an den Spielzeughund springen und ihn immer schwerer werden lassen. Es entsteht ein imaginäres Bild der magnetischen Verbindung zwischen dem empfangenden Körper des Hundes und seiner Umgebung. 

Bilder von der Beziehung des gehenden Körpers zu seiner Umgebung entstehen auch bei Walk 7 von Simone Etter, welcher anlässlich des Booklaunchs von Walkbook am 19. März, angeleitet von Studierenden des Instituts LGK LLAD, mit einer Gruppe von Interessierten durchgeführt wurde. Als Folge des Forschungsprojektes Grenzgang entwarf die Künstlerin 13 Spaziergänge, welche als promenadologische Raumexperimente ohne die Anwesenheit der Künstlerin durchgeführt werden können (Etter, 2019, 52 - 53). Für Walk 7 umwickelten die Spazierenden ihre Schuhe mit Leintuchstücken, sodass sich darauf beim Gehen Material von der Strasse ansammeln konnte. Die Aktion war auffällig und erschien aus der Sicht von Passant*innen als Performance. Die einen Spazierenden fühlten sich beobachtet und wurden sich ihrer Handlung stärker bewusst. Andere konzentrierten sich mehr darauf, wie ihr Verhalten die Leinwand an ihren Füssen prägt, was Nässe, Steine und Schmutz bewirken mögen. In beiden Fällen lösten die weiss umwickelten Füsse bei den Spazierenden selbst eine Veränderung der Wahrnehmung aus.

Bild 3: Walk 7, Foto: Markus Schwander 

KONSTELLATIONEN

Perec untersuchte eine bestimmte räumliche Konstellation als Aussenstehender, Burckhardt konfrontierte die Gedanken zu einer als bekannt vorausgesetzten Konstellation mit unerwarteten Beschreibungen. Alÿs lenkte mit seiner Aktion den Blick auf die Interaktion zwischen dem Handelnden und der ihn umgebenden, veränderlichen Konstellation. Alle machten auf ihre Weise die Konstellation diskutierbar. Die von den Füssen gelösten Leinwandstücke aus Walk 7 gaben keine abschliessende Auskunft darüber, was die Einzelnen erlebt hatten. Ihre Betrachtung ermöglichte aber zum Beispiel eine erlebnisbasierte Diskussion über das Verhältnis von performativem Prozess und Produkt. Trotz unterschiedlichem Erlebnis stärkten die Leinwandfetzen das Sprechen über das Gemeinsame in der Aktion. 

Vermittelnde Aktionen finden innerhalb einer gegebenen, gewählten oder gestalteten Konstellation statt. Das Planen und/oder Anleiten von Spaziergängen fördert das Bewusstsein für die Komplexität einer Situation, in der die Handelnden sowohl der Umgebung ausgesetzt als auch Teil davon sind. In der Erfahrung der Bewegung finden sich Hinweise, wie Raum und Wahrnehmung zusammenhängen und in der Diskussion dazu wird bewusst, wie der Raum durch das Richten der Aufmerksamkeit und die Art und Weise des Wahrnehmens immer wieder neu konstruiert wird. 

Quellen:

Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. München, Wilhelm Fink.

Burckhardt, Lucius (2006): Bergsteigen auf Sylt (ein Gespräch mit Nikolaus Wyss). In: Ders.: Warum ist Landschaft schön. Berlin, Martin Schmitz, S. 306 – 319.

Etter, Simone (2019): Walkbook – 13 Promenadologische Raumexperimente. Basel, LLAD.

Florenz, Beate (2016): Abschlussbericht zu Grenzgang, https://ba14ns21403-sec1.fhnw.ch/mediasrv/zotero_2250437/2250437.2XH6UNCD_enclosure/iframe [11.5.2019].

Kästli, Monika (2015): Widerständige Geschichten. München, Silke Schreiber.

Perec, Georges (2011): Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Konstanz, Libelle.

Kurzbiografien der Autor_innen: