Einleitung
Raum darstellen, und als ein Aspekt davon das räumliche Zeichnen, verstehen wir als grundlegendes Thema kultureller Bildung, welches auf verschiedenen Schulstufen und in unterschiedlichen Kontexten wichtig ist. Wir nähern uns diesem Thema in unserer Studie Räumlich zeichnen lernen, in der wir eine zweite Primarschulklasse im Bildnerischen Gestalten bei der vielfältigen – insbesondere zeichnerischen – Auseinandersetzung mit quaderförmigen Schachteln während mehreren Wochenlektionen didaktisch begleiteten und videografierten. In diesem Artikel thematisieren wir die theoretischen Grundlagen und einige methodische Konsequenzen unserer fachdidaktisch orientierten Studie, welche wir anhand eines Ausschnitts aus einer unserer empirischen Fallanalysen illustrieren. Das Ziel der Fallanalysen ist es, Handlungs- und Denkprozesse zu rekonstruieren, die sich in einer dyadischen Lehr-Lern-Situation von räumlich-zeichnerischen Darstellungsproblemen ereignen.
Strukturgenetische Denkweise
Im Zentrum unserer Untersuchung steht die Frage, wie Kinder vorgehen, wenn sie sich mit dem Problem der zeichnerischen Darstellung des dreidimensionalen Raumes beziehungsweise eines Raumkörpers anhand unterschiedlicher Aufgabenstellungen auseinandersetzen. Wo liegen die Herausforderungen? Welche Lösungsstrategien wenden sie an? Wie können sie unterstützt werden, eine Lösung zu finden, die der Aufgabe und zugleich dem individuellen Anspruchs- und Fähigkeitsniveau gerecht wird? Unser Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Entstehung von neuen Strukturen – die Strukturgenese – mit Bezug zum räumlichen Zeichnen und Denken als Bestandteil der kulturellen Bildung. Die Theorie der Strukturgenese ist eine epistemologische Denkweise in der Entwicklungs- und Kulturpsychologie, die historisch vor allem in den Werken von Jean Piaget und Lev Vygotsky und aktuell bei Nachfolgern und Nachfolgerinnen zu finden ist (z.B. Seiler 2008, 2012, 2013; Valsiner 2000). Aus strukturgenetischer Sicht entwickeln sich Erkenntnisse – etwa zu räumlichen Darstellungsweisen – durch Erfahrungen, die auf Wahrnehmung und Handeln gründen. Die fortlaufende Herausbildung neuer, besser adaptierter Handlungs- und Denkstrukturen wird dabei nicht kausalanalytisch erklärt, sondern Individuen gelten als Akteure mit psychischer Eigendynamik, die sich sowohl aus ihrer Geschichte wie auch aus ihren Intentionen und Motivationen heraus verstehen lassen. Soziale Einflüsse sind grundlegend für die Tradierung von Kultur, doch sind sie nicht kausaler, sondern katalytischer Natur (vgl. z.B. Valsiner 2008, 2017: 7; Wettstein/Thommen 2009). So sind Bildungsinhalte im Bereich des räumlichen Zeichnens Angebote, die ein Kind je nach seinen Vorläuferfähigkeiten in einer Weise nutzt, die letztlich nicht vorhersagbar ist. Kinder in ihren räumlichen Darstellungsfähigkeiten zu fördern bedeutet deshalb nicht, eine direkte kausale Wirkung durch eine pädagogische Intervention zu erwarten, oder im Gegenteil zu meinen, Kinder könnten kraft ihrer selbstorganisierten Konstruktionsfähigkeit alle kulturellen Errungenschaften selbst entdecken. Vielmehr sehen wir didaktische Bemühungen als Anregungen oder Angebote, die individuell verschieden aufgenommen und genutzt werden, je nachdem, wie ein Anschluss an die individuellen Voraussetzungen möglich ist.
Unser fachdidaktisches Verständnis – welches mit Bezug zum Zeichnen auch von anderen geteilt wird (vgl. Schubert 2017; Uhlig 2014) – folgt oben genannten strukturgenetischen und kulturpsychologischen Theorien. Diese betrachten kulturelle Techniken wie das räumliche Zeichnen als intergenerationale Vermittlungsinhalte, die in der konkreten Interaktion stets mit offenem Ausgang gestaltet werden. Daher erweist sich jede Situation des Lehrens und Lernens – so auch mit räumlicher Darstellung – als neu: Die lernende und die vermittelnde Person bringen je ihr zuvor erworbenes Wissen und Können in die Situation ein, während sie sich an der Lösung eines Problems oder an der Erörterung eines Sachverhaltes beteiligen. Auf dieser Grundlage kann sich etwas Neues, nicht Vorhersagbares ereignen. Die pädagogische Interaktion verstehen wir daher als zeitlich sich fortsetzender Prozess, in welchem Veränderungen und Transformationen im Zentrum stehen. Vor diesem Hintergrund interessiert uns, was während eines zeichnerischen Konstruktionsprozesses geschieht, in welchem ein Kind ein räumliches Darstellungsproblem bearbeitet und dabei von einer Lehrperson begleitet wird.
Forschungskontext und Mikrogenese
Im ersten Teil unserer Studie Räumlich zeichnen lernen leiteten wir in sechs aufeinanderfolgenden Unterrichtseinheiten 19 Kinder einer zweiten Primarschulklasse im Alter von 7;5 bis 8;9 Jahren im Klassenverband und in Kleingruppen an, auf vielseitige Weise mit quaderförmigen Schachteln zu hantieren: erkunden, ordnen, dekonstruieren, abwickeln, rekonstruieren, bemalen und symbolisch als Haus gestalten. Wir erklärten Begriffe, die Quader charakterisieren, wie beispielsweise Kanten, Flächen und Parallelen, liessen die Kinder reale Schachteln und Bilder von Schachteln abzeichnen und ihr Vorgehen verbal beschreiben. Als Daten aus diesem explorativen Teil unserer Studie liegen sowohl Videoaufnahmen des Unterrichts wie auch Zeichnungen vor. Diese bieten Einblicke in die vielfältigen Vorgehensweisen der Kinder beim Hantieren mit und beim zeichnerischen Darstellen eines Quaders. Um die individuellen Konstruktionsprozesse systematischer zu ermitteln, wählten wir im zweiten Teil unserer Studie ein dyadisches Setting. In diesem zeichneten alle Kinder der Klasse nochmals eine Schachtel ab, wobei sie einzeln von der Lehrperson begleitet und adaptiv und intuitiv von ihr unterstützt wurden. Diese Lehr-Lern-Situation filmten wir so, dass die zeichnerischen Handlungen des Kindes, seine Blickbewegungen sowie Gestik und Rede von Lehrperson und Kind erfasst sind. Das Filmmaterial nutzen wir, um die Organisation des Zeichnungsprozesses im Detail zu rekonstruieren.
Während des dyadischen Prozesses richten Kind und Lehrperson ihre Aufmerksamkeit auf das zu lösende Problem – hier auf die quaderförmige Schachtel und auf die entstehende zeichnerische Darstellung auf Papier –, und beide setzen sich mit den Äusserungen des anderen auseinander. Wir untersuchen die Komplexität dieses Verhältnisses mikrogenetisch, das heisst, wir identifizieren die wesentlichen Handlungen, die bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu beobachten sind, und beschreiben anhand der transkribierten Videoaufnahmen detailliert den Verlauf der zeichnerischen Konstruktion (vgl. Abschnitt Einblick in die Fallstudie). Die theoretischen und methodischen Hintergründe des Konzepts der Mikrogenese liegen in den Anfängen der psychologischen Forschung und sind mit Namen wie Wilhelm Wundt, Heinz Werner und Friedrich Sander – er führte den Begriff Aktualgenese ein – verbunden (vgl. Stadler Elmer 2002: 218ff.; Wagoner 2009). Kennzeichnend für die Psychologie in den 1920er Jahren war das Interesse an der mikro- und strukturgenetischen Erforschung musikalischer und visuell-manueller Gestaltungsprozesse – ein Interesse, das bis in die 1950er anhielt, aber seit den 1960er Jahren stark zurück ging (vgl. Clausberg 2011) und heute in der kunstpädagogischen Forschung fast ganz verschwunden ist. Valsiner (2000: 78) definiert den mikrogenetischen Ansatz als „any empirical strategy that triggers, records and analyses the immediate process of emergence of new phenomena.” Da gestalterische Prozesse in Musik, Kunst, Tanz usw. rasch verlaufen, ermöglicht eine mikrogenetische Analyse ein Entzeitlichen, indem die wesentlichen Handlungen in ihrer Struktur begrifflich erfasst und beschrieben werden. Diese rekonstruktive Forschungsarbeit bietet detaillierte Einsichten in die Entstehung von etwas Neuem während der Vermittlung und Aneignung (vgl. Wettstein/Thommen 2009).
In unserer Studie zum räumlichen Zeichnen interessieren uns vor allem: 1. wie die Kinder durch ihr Zeichnen innerhalb ihrer Möglichkeiten und unter Anleitung zu einer für sie selbst zufriedenstellenden Lösung gelangen, 2. wie die laufende und abschliessende Bewertung der Zeichnung durch das Kind und die Lehrperson erfolgen und 3., welche geistigen Prozesse sich rekonstruieren lassen. Die den Konstruktionsprozess begleitenden und abschliessenden Bewertungen durch die Beteiligten werden wir nachfolgend mit dem Begriff der Wohlgeformtheit näher bestimmen, begründen und empirisch illustrieren.
Im Spannungsfeld zwischen personalen und konventionellen Konzeptionen von Raumdarstellungen
Für die Abbildung von Raumkörpern, die von einem als fixiert angenommenen Standpunkt aus beobachtet werden, existieren Konventionen aus der Darstellenden Geometrie. Dazu gehören parallel- und punktperspektivische Abbildungsarten. Diese historisch gewachsenen Kulturtechniken sind – gemäss Seiler (2008: 9ff.) – sozusagen die öffentlichen, kollektiven oder konventionellen Konzeptionen von Raumdarstellung, von denen die personalen Raumdarstellungskonzeptionen zu unterscheiden sind. Konventionelle Konzeptionen sind in hohem Masse strukturiert, definiert und festgelegt, jedoch nicht endgültig. Erst durch diese Eigenschaften der konventionellen Konzeptionen ist es möglich, eine gemeinschaftlich geteilte Objektivierung von Erfahrungen und die Grundlage für Verständigung zu bilden. Hingegen sind personale Konzeptionen offen und fliessend; sie bestehen aus vagen Strukturen, Annahmen und Merkmalen, denn sie verändern sich dauernd durch Aktualisierung beim Anpassen an neue Gegebenheiten. Die personalen Begriffe sind daher nie gleichbedeutend mit den konventionellen Begriffen, wobei insbesondere Bildung darauf abzielt, personale Konzeptionen den konventionellen anzunähern und damit die Individuen zu befähigen, an den kulturellen Errungenschaften teilzuhaben und sie weiter zu entwickeln.
Der Erwerb konventioneller Konzeptionen von Raumdarstellungen – in Form personaler Annäherung an eine kollektive Konzeption – befähigt, einen Raumköper – beispielsweise ein Quader – mit einer beschränkten Anzahl Linien, Winkeln oder Flächen so darzustellen, dass eine Korrespondenz in Form erkennbarer Ähnlichkeit zwischen Körper und Zeichnung entsteht. Willats (2002: 9ff.) und Van Sommers (1984: 65ff.) zeigen die dabei implizite Tendenz, Linien in geregelter Abfolge aneinander zu fügen und dabei systematisch Flächen zu schliessen. Bei diesem räumlichen Konstruktionstyp – der Zeichnung eines Raumkörpers – transformiert die zeichnende Person ihre Anschauung des Gegenstandes in eine flächige Form. Sie kann sich dabei expliziten kulturellen Techniken, wie etwa der euklidischen Geometrie, bedienen. Jedoch ist jede Konstruktion von Raum auf der Fläche nur eine Annäherung an die räumliche Anschauung, und folglich gibt es kein objektives oder allgemein gültiges Kriterium des Gelingens. Konventionelle Raumdarstellungen finden sich vollzogen in allen Arten von Bildern – Fotos, Film, Zeichnungen, Malerei –, jedoch selbst zeichnerisch solche Transformationen herzustellen, die den Betrachtenden Räumlichkeit suggerieren, erfordert Erfahrung, Anleitung und Übung.
Kinder beschäftigen sich von früh an beim Zeichnen mit der Darstellung von Raum, so bei der Gestaltung des Gesamtbildraumes, der Darstellung der Tiefenrelation mehrerer Gegenstände oder der Tiefe einzelner Raumkörper, beispielsweise von Häusern (vgl. Schuster 2000: 56ff.). Sie beabsichtigen dabei, Ähnlichkeiten mit dem, was sie wissen und sehen zeichnend herzustellen, und sie weisen den erzeugten Formen Bedeutung zu. Diese Bedeutungsgenerierung ist gleichzeitig ein Akt der Symbolisierung (vgl. z. B. Cassirer 1945: 51). Der oben beschriebenen Unterscheidung zwischen konventionellen und personalen Konzeption folgt auch Sowa (2013: 94f.): Er versteht das zeichnend räumliche Darstellen der Schulkinder als ein Streben nach Annährung an konventionelle Konzeptionen und betrachtet folglich die Kunstpädagogik als ein Übermitteln der selbigen. Diese Situation kann eine Lehrperson als Dilemma erleben: Zum einen kennt sie unterschiedliche räumliche Darstellungsformen des Bildungskanons und möchte diese vermitteln, und zum anderen möchte sie gleichzeitig das personal geprägte kindertypische Zeichnen wertschätzen und belassen. Doch auch das Kind steht vor der Herausforderung, etwas auf bestimmte Weise darstellen zu wollen und immer wieder zu erleben, seinen eigenen Ansprüchen noch nicht zu genügen, beispielweise aufgrund noch fehlender bildsprachlicher Mittel. Aus der Sicht fachdidaktischer Forschung ist es interessant, solche Dilemmata zu untersuchen, die sich stets um Prozesse des Annäherns von personalen an konventionelle Konzeptionen drehen. Idealerweise kennt die Lehrperson eine Vielfalt von räumlichen Darstellungsmöglichkeiten, und – ohne implizit eine als die ausschliesslich richtige vorzuziehen – setzt sie dieses Wissen intuitiv und entsprechend den momentanen Möglichkeiten des zeichnenden Kindes ein. Gemäss Cassirer (1944, S. 8 ff.) manifestiert sich in der Wahl der Raumdarstellung die epistemologische Herangehensweise und Absicht. Es gibt somit viele verschiedene Möglichkeiten Raum darzustellen, die sich alle im Spannungsfeld zwischen personalen und konventionellen Konzeptionen bewegen. Dieses Spannungsfeld lässt sich besser verstehen, wenn die psychologischen Aspekte des Bewertens der eigenen Handlung und des Produkts berücksichtigt werden.
Kontinuierliches und abschliessendes Bewerten und der Begriff der Wohlgeformtheit
Ein prozessanalytischer oder mikrogenetischer Ansatz nimmt an, dass das Herstellen einer Zeichnung in einem dyadischen Kontext ein komplexer Vorgang ist. Neben der Analyse der durch Linien entstehenden Gebilde fokussieren wir insbesondere die affektiven Aspekte, die sich in verschiedenen Formen der Bewertung der eigenen Handlung und des Fortgangs äussern und sich auch als ein Aha-Erlebnis zeigen können. Nicht nur die zeichnende Person bewertet oder beurteilt laufend ihre Handlungen, auch die allfällig begleitende Person ‘überwacht’ kontinuierlich das Geschehen, und sei es durch ihre stillschweigende Anwesenheit. Gemäss Arendt (vgl. 1958) zeichnet sich Handeln dadurch aus, Vorgänge zu veranlassen, deren Ende ungewiss und unabsehbar ist. Diese Offenheit des menschlichen Systems (vgl. Valsiner 2017) zeigt sich auch in der Erfahrung des Zeichnens, während dessen die eigenen Linienführungen unerwartet Neues hervorzubringen vermögen. Das laufend aktive Wahrnehmen und Bewerten der eigenen, aktuellen Handlungsausführung in die Richtung eines Gelingens erfolgt aufgrund vorwiegend intuitiver Massstäbe oder Kriterien aus subjektiver Erfahrung. Bewertungen sind Gefühle (vgl. z.B. Branco/Valsiner 2010), und sie sind insofern irrational, als die Entstehungsgrundlagen dieses Bewertens nicht mehr dem Wissen zugänglich sind (vgl. Cassirer 1932). Dieses intuitive und zugleich handlungsleitende Bewerten gründet auf mindestens zwei allgemeinen und universellen Prozessen: a) auf menschlichen Wahrnehmungsmechanismen, die in Form von Gestaltgesetzen strukturierend wirksam sind (vgl. unten), und b) auf individuell erworbenen, kulturell geprägten Vorstellungen und Erinnerungen, den personalen Konzeptionen. Diese Erinnerungen sind in unserem Gedächtnis angesammelt, verschmolzen und verdichtet, und während einer konstruktiven Handlung (zeichnen, singen usw.) aktualisieren sie sich als Vorstellung des Schönen oder Vollendeten in Form laufender und abschliessender Bewertungen eines Produkts. Trotz immanent verwehrter rationaler Zugänglichkeit bietet unser sinnliches und geistiges Erfassen und Herstellen von Ordnungen oder Strukturen eine Orientierung, sozusagen als ästhetische Dimension.
Allgemein ist hier festzuhalten: Ein Bild zu zeichnen und dabei Raum darzustellen, ist ein Beispiel für eine kreative Handlung, durch welche etwas Neues entsteht. Mit Hilfe von Werkzeugen (Stifte) und Material (Papier) konstruiert eine Person Gebilde, die während der Ausführung gleichzeitig durch die Wahrnehmung des Gegenstandes und der Zeichnung laufend bewertet werden im Hinblick auf eine Vorstellung einer Stimmigkeit oder Gestalt. Die vorgestellten Formeigenschaften, die entstehen sollen, sind nicht unbedingt klar, sondern entfalten sich während des Tuns. Der Herstellungs- oder Konstruktionsprozess ist daher einerseits wahrnehmungsgeleitet und folgt universell menschlichen Wahrnehmungsgesetzen durch aktives Ordnen – beispielsweise nach Kontrast, Prägnanz, Geschlossenheit –, und andererseits bewertet oder überwacht die Person ihre Ausführung laufend in Bezug zu inneren Vorstellungen von Formeigenschaften, die sie darzustellen beabsichtigt. Diese strukturierenden und bewertenden Wahrnehmungsprozesse lassen sich konzeptuell trennen, aber wirken bei der Formgebung zusammen.
Aufgrund dieser theoretischen Auseinandersetzungen schlagen wir vor, die oben erwähnten laufenden und abschliessenden Bewertungen während eines Gestaltungsvorgangs im Hinblick auf eine Lösung als ein Streben nach Wohlgeformtheit zu bezeichnen. Der Begriff der Wohlgeformtheit stammt ursprünglich aus der Linguistik und bezeichnet ein als korrekt oder stimmig empfundenes Anwenden von generativen Regeln, beispielsweise beim Erzeugen eines Satzes (vgl. z.B. Meyer 2009) oder eines Liedes (vgl. Stadler Elmer 2015). Interessant ist nun, dass sich der Begriff der Wohlgeformtheit auch auf bestimmte Bildtypen, die generativen Regeln folgen, anwenden lässt (vgl. Plümacher 1999; Willats 2002).
Als wohlgeformt beurteilt werden intuitiv ein Satz oder eine Melodie, die minimal mit grammatikalischen Regeln übereinstimmen. So ist es für Sprachkompetenz charakteristisch, Sätze in ihrer Wohlgeformtheit – als grammatikalisch korrekt – zu beurteilen und auch selbst wohlgeformte Aussagen zu bilden. Das grammatikalische Wissen – sei es im Bereich Sprache oder Musik – bahnt sich von früher Kindheit an und manifestiert sich im praktischen Gebrauch und ohne explizites Bewusstsein der Regeln (Stadler Elmer 2019).
Ein zunehmend bewusster Umgang mit generativen Regeln ermöglicht es, neue Kreationen und absichtliche Regelabweichungen begründet zu beurteilen, z.B. bei Wortschöpfungen, Kompositionen, zeichnerischen Konstruktionen. Allgemein implizieren Systeme, die aus definierten Elementen und kombinatorischen Regeln bestehen – so genannte generative Systeme –, die Eigenschaft der Wohlgeformtheit mit Bezug auf die daraus entstehenden Produkte. Sprachliche, musikalische oder darstellerische Ausdrucksformen sind Produkte, welche durch das Anwenden von Regeln oder Grammatik erzeugt werden.
Im Vergleich zu den sprachlichen Grammatiken gründen die Prinzipien der Bildstrukturierung nach Plümacher (1999) in den Eigentümlichkeiten der visuellen Wahrnehmung, wie sie insbesondere von der Gestaltpsychologie beschrieben wurden. In diesem Sinne ist Wahrnehmung ein strukturierender Vorgang, der unbewusst durch Gestaltgesetze gelenkt ist: Die menschliche Wahrnehmung bevorzugt klare, symmetrische und prägnante Formen und tendiert dazu, perzeptuelle Kontraste, Gruppen und Konstanzen zu unterscheiden und zu Einheiten zu gliedern (vgl. z.B. Ehrenfels 2017; Metzger, 1975; Wertheimer 1923; Whitehead 2000). Im Zusammenhang mit unserem Beispiel – dem Abzeichnen einer quaderförmigen Schachtel – fällt insbesondere die allgemeine Neigung auf, offene Flächen auf dem Papier zu geschlossenen Formen zu schliessen oder unterbrochene Linien zu einer Kontinuität hin zu ergänzen. Diese Neigung lässt sich sowohl anhand von Gestaltgesetzen erklären wie auch dem Wissen über den Gegenstand zuschreiben (vgl. Schuster 2000: 80). Im vorliegenden Fall des Abzeichnens einer quaderförmigen Schachtel legt es deren Prägnanz – durch ihre Kanten als Grenzen und Kontrast zum Hintergrund – nahe, aufmerksam die Kanten so anzuschauen, dass es möglich wird, sie in Form von Linien auf das Papier zu transformieren. Linien und deren Längen und Richtungen sind die entscheidenden Konstruktionsmittel, die es gilt so anzuordnen, dass eine Ähnlichkeit mit dem Objekt entsteht. Unabhängig von der Art der räumlichen Darstellungsform ist aus gestaltpsychologischer Sicht davon auszugehen, dass die zeichnende Person danach strebt, offene Formen zu Flächen zu schliessen (vgl. van Sommers 1984; Willats 2002) oder unterbrochene Linienzüge zu ergänzen (vgl. Plümacher 1999). Folglich sind die Linien, die zum Zeichnen eines Quaders erforderlich sind, – sei es beim Abzeichnen, Kopieren oder Zeichnen ohne direkte Anschauung – nicht zufällig konstruiert. Vielmehr folgt die zeichnende Person dem beschriebenen Konstruktionsprinzip und schliesst – wenn immer möglich – Linien zu Flächen. Wie oben gesagt, begründet sich ein Aspekt des Strebens nach Wohlgeformtheit in den Gestaltgesetzen, die während des Gestaltens das laufende und abschliessende Bewerten beeinflussen. Der andere Aspekt – der Erwerb von kulturellen Vorstellungen und Aufbau von Erinnerungen – ist mit den Wahrnehmungsprozessen verbunden. Auf diesen bauen sich die personalen Konzeptionen auf, die sich den Konventionen annähern. Bei dieser Annäherung wirken – kurz gesagt – kognitive Entwicklungsprozesse wie Differenzierung, Abstraktion und Bewusstsein über das eigene Erkennen und Wissen (vgl. Piaget 1977; Seiler 2012).
Eine Handlung oder ein Produkt als wohlgeformt zu bezeichnen bedeutet daher, der ausführenden Person zuzuschreiben, dass sie Gestaltgesetze, ein Regelwerk oder eine Grammatik implizit anwendet, um dem eigenen Ausdruck eine annähernd allgemein verständliche Form zu verleihen. Ein Zuschreiben von Wohlgeformtheit orientiert sich an der personalen Konzeption und an Strukturen, an den subjektiven oder auch intersubjektiven Bewertungen und dabei daran, wie die eigene Absicht zum Ausdruck gebracht wird. Wohlgeformtheit nimmt zwar Bezug auf Darstellungsnorm oder -konvention, gewichtet jedoch vor allem die personale Konzeption der kulturellen Handlung. Auf das räumliche Zeichnen von Kindern bezogen eignet sich der Begriff der Wohlgeformtheit, um das Streben nach und das schrittweise Erreichen einer subjektiv oder intersubjektiv stimmigen Gesamtstruktur zu bezeichnen. Das Streben zeigt sich im stetigen Bemühen, Elemente so herzustellen und zu organisieren, dass sie zueinander in einer irgendwie geregelten Beziehung stehen.
Einblick in die Fallstudie mit Alice (7 Jahre)
Im Folgenden demonstrieren wir anhand des Einzelfalls der 7-jährigen Alice, ein Mädchen aus der oben erwähnten Schulklasse, wie durch Analysen ihrer nacheinander erstellten Zeichnungen Ausdifferenzierungen ihrer Problemlösemuster sichtbar werden. Ebenfalls zeigen wir exemplarisch auf, wie die mikrogenetische Analyse des Zeichnungsprozesses erlaubt, Herausforderungen, Lösungsstrategien und Aha-Erlebnisse zu rekonstruieren.
Im Rahmen der oben beschriebenen Unterrichtsreihe sowie im Einzelsetting bestand die zeichnerische Aufgabe darin, mit dem Bleistift wiederholt eine kleine, vor den Kindern auf dem Tisch liegende, quaderförmige Kartonschachtel abzuzeichnen. Während des Unterrichts wurden die Kinder im Klassenverband und in Kleingruppen mit allgemeinen Hinweisen und teilweise auch spezifisch unterstützt. Im Einzelsetting erfolgte eine individuelle Begleitung durch die Lehrperson.
Die Zeichnungen, die von Alice vorliegen und in Abbildung 1 dargestellt sind, erlauben einige Entwicklungsschritte nachzuverfolgen: In der ersten Zeichnung (Abb. 1a) ist das Objekt an der Standlinie orientiert, und Alice verwendet ausschliesslich senkrechte und waagrechte Linien. Diese gibt sie schrittweise auf und zeichnet zunehmend schräge Linien. Damit gelingt es dem Mädchen, Tiefe in seine Zeichnung zu integrieren und eine räumliche Wirkung zu erzeugen. Eine erste schräge Linie zeichnet Alice nach dem Hinweis der Lehrerin an die Klasse, dass Tiefe durch schief zur Blattkante verlaufende Linien dargestellt werden kann. Dabei behält sie die Standlinienorientierung bei. Da es dadurch unmöglich wird, die Kanten parallel zu zeichnen, bleibt die räumliche Wirkung aus (Abb. 1b). Dennoch gelingt es Alice, wie schon bei der ersten Zeichnung, eine kohärente, geschlossene Form darzustellen, in der alle drei Seiten miteinander verbunden sind. In der nächsten Zeichnung, bei der Alice individuell begleitet wurde (Abb. 1c), verbindet sie schräge Linien mit parallelen Kanten, womit diese Darstellung im Vergleich zu den vorhergehenden räumlicher wirkt. Bei der nächsten Zeichnung (Abb. 1d), die das Mädchen wieder ohne Unterstützung anfertigt, gelingt ihm diese quasi parallelperspektivische Darstellungsweise nicht mehr. Der zu spitze Winkel beim ersten Versuch und Radierspuren beim zweiten Versuch auf diesem Zeichnungsblatt weisen darauf hin, dass für Alice insbesondere die Deckfläche schwierig darzustellen ist. Die Prozessanalyse der Entstehung der letzten zwei Zeichnungen von Alice (Abb. 1e), bei der sie von der Lehrperson im videografierten Einzelsetting begleitet wird, bestätigt ihre Schwierigkeit mit der Deckfläche. Betrachten wir nun in Abbildung 1e im unteren Teil die erste Zeichnung und in Abbildung 2 die entsprechende Analyse der nacheinander gezeichneten Linien, die diese Figur ergeben. Es ist zu erkennen, dass Alice nach dem Zeichnen der zwei Seitenflächen mehrmals und mit Hilfe von Ausradieren die Deckfläche darzustellen versucht (Abb. 2, Linie 9 und folgende). Offensichtlich ist sie mit den ersten zwei Lösungen, die zu einer geschlossenen Form führen (Abb. 2 Linie 11 und 12), nicht zufrieden, radiert sie aus und beendet die Konstruktion mit den Linien 13 und 14.
Zusätzlich zur Analyse der Linienabfolge (Abb. 2), die zunächst vom tatsächlichen Zeitverlauf absieht, transkribieren wir anhand der Videoaufnahme gemäss unseres mikrogenetischen Ansatzes das Zusammenspiel von Blickrichtung, zeichnerischen Handlungen (wie u.a. Ziehen von Linien, Innehalten, Radieren), Gestik und verbalen Aussagen im Zeitverlauf und stellen diese grafisch dar. Eine solche Darstellung – die hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden kann – erlaubt die Analyse eines komplexen Geschehens als eine Verknüpfung unterschiedlicher Handlungen in einem spezifischen Zusammenhang (vgl. Dinkelacker 2016: 70). Sichtbar wird damit die diachrone und synchrone Konfiguration dieser Handlungen, was es ermöglicht, die Problemlöse- und Erkenntnisprozesse detailliert und im Zeitverlauf zu rekonstruieren und zu beschreiben (vgl. ausführlicher Weniger/Stadler 2019). Im Fall von Alice zeigt sich, wie sie ihre ersten zeichnerischen Lösungen betrachtet (Abb. 2, Zeichnungen nach Linie 11 bzw. 12) und gestisch und mit Worten anzeigt, welche Stelle nicht gelungen ist, und wie sie diese ändern möchte. Alice erkennt dabei, dass für das Zeichnen der Deckfläche weder drei Linien (Abb. 2, Linie 11), noch eine Linie (Abb. 2, Linie 12) zu einer sie befriedigenden Lösung führen, sondern zwei in einem ganz bestimmten Winkel zueinander stehende Linien nötig sind. Nach diesem wortwörtlichen Aha-Erlebnis findet sie rasch zu einer sie nun erstmals überzeugenden Lösung, welche die erwünschte Raumillusion wiederzugeben vermag. Ein Gespräch zwischen Lehrperson und Kind erfolgte in diesem Fall erst, nachdem Alice einen Abschluss dieser Zeichnung signalisierte. Danach begann sie mit einer zweiten Zeichnung.
Schlussfolgerungen
Mit einem empirischen Ausschnitt aus einer mikrogenetischen Fallanalyse haben wir exemplarisch aufgezeigt, wie ein Kind verschiedene Vorgehensweisen erprobt, diese bewertet und dadurch schrittweise erreicht, eine subjektiv beurteilte Ähnlichkeit zwischen dem dreidimensionalen Modell und der Linienkonstruktion auf der Fläche herzustellen. Dieses Beispiel gibt einerseits einen kleinen Einblick in die Anwendung strukturgenetischer Denkweisen und daraus folgendem analytischen Vorgehen, und andererseits eignet es sich, um die Verwendung des Begriffs der Wohlgeformtheit zu demonstrieren. Diesen Begriff verwenden wir, um zwei verschiedene strukturbildende psychische Funktionen zu bezeichnen: a) die gestalttheoretisch begründeten Wahrnehmungsprozesse und b) die Bewertungen und darauf aufbauende Differenzierungen und geistige Abstraktionen, die sich durch die handelnde Auseinandersetzung mit gestalterischen Prozessen an sozial geteilten Regelwerken oder Grammatiken orientieren. Mit dem Begriff der Wohlgeformtheit lassen sich gestalterische Handlungen in ihren strukturellen Orientierungen und den dabei wirksamen sinnlichen und geistigen Prozessen – in Abgrenzung zur Annahme von fixierten Normen oder Konventionen, die ein klares ‘richtig-falsch’ suggerieren – genauer und angemessener analysieren und verstehen.
Die von uns beobachteten und gefilmten Schulkinder, von denen hier mit Alice ein exemplarischer Einzelfall ausgewählt wurde, entschieden alle selbst, in welchem Moment sie ihre Raumdarstellungen als gelungen und abgeschlossen betrachteten. Während die Kinder zeichneten, ging die Lehrperson auf die Signale von Unsicherheit und Aufforderung nach Hilfe ein, sie unterstützte das Suchen nach Lösungen im Dialog und durch Zeigegesten, liess jedoch die Kinder stets selbst zeichnerische Handlungen herausfinden und ausführen. Dieses «Aushandeln» einer gelungenen Lösung ist nicht zu verwechseln mit dem Vorgeben und Übernehmen von schulisch erwarteten Darstellungsnormen. Die Absicht der Lehrperson, das zeichnende Kind zu einem subjektiv gelungenen Bildprodukt zu führen und bei aufkommenden räumlichen Darstellungsproblemen zu unterstützen, erachten wir als einen wesentlichen kulturpsychologischen und zugleich didaktischen Aspekt: Die Vermittlung von Kulturtechniken – hier jene von Raumdarstellungen – erfordert von der Lehrperson ein adaptives Eingehen auf die kindlichen Darstellungsmöglichkeiten und gleichzeitig ein Unterstützen in Momenten der Unsicherheit, in denen das Kind eine Orientierung in Richtung konventioneller Konzeptionen braucht. Schulkinder verfügen in vielen kulturellen Bereichen noch über ein intuitives und vages Bewusstsein über das eigene Erkennen und Wissen. Die Erfahrung jedoch, eine von möglichen und als gelungen empfundene Darstellungsform zu finden, ist für Kinder ermutigend, noch weitere zu entdecken.
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