Editorial Art Education °3

Queer und DIY im Kunstun­ter­richt

Her­aus­ge­be­rin: Ber­na­dett Set­te­le

EDITORIAL

Das e-Journal Art Education Research als Schulbuch

Carmen Mörsch, Herausgeberin von Art Education Research

Die vier Kunsthochschulen der Deutschschweiz veranstalten im Rahmen der Ausbildung von Gymnasiallehrpersonen für das Schulfach Bildnerisches Gestalten jedes Semester ein „Netzwerkmodul“. In einer Blockveranstaltung kommen Studierende aller vier Standorte für eine Woche zusammen, um sich kennenzulernen, auszutauschen und sich auf eine bestimmte fachdidaktische Fragestellung bzw. auf die Enrprobung und Entwicklung von Lehr- und/oder Forschungsmethoden zu konzentrieren. Das Modul wird von den beteiligten Hochschulen im Wechsel betrieben. Alle zwei Jahre im Januar liegt der Ball bei der Vertiefung „bilden & vermitteln“ des Master of Arts in Art Education der Zürcher Hochschule der Künste. Die Modulverantwortung liegt bei mir, der Leiterin des Instituts for Art Education (IAE) und Herausgeberin dieses e-journals.
Unter anderem mit dem Netzwerkmodul erfüllt das IAE eine seiner zentralen Aufgaben, die in der Amtssprache des tertiären Bildungssektors mit „Transfer zwischen Forschung und Lehre“ benannt ist. Wir interpretieren diese Aufgabe weniger im Sinne einer Dienstleistung, die auf von den Studiengängen oder dem Berufsfeld artikulierte Bedarfe ohne Hinterfragung reagiert und diese zu bedienen sucht.
Ein solches Vorgehen widerspräche den von uns formulierten Arbeitsprinzipien, die uns am IAE einer Forschung, die sich herrschafts- und hegemoniekritisch versteht, verpflichten. Vielmehr ist es unser Anliegen, in engem Austausch und in kritischer Auseinandersetzung mit der Lehre und dem Berufsfeld möglichst viele Fragestellungen und Ergebnisse unserer Forschungs- und Entwicklungsarbeit für die Bildungs- und Ausbildungsarbeit der Studiengänge produktiv zu machen und umgekehrt Impulse aus dieser Auseinandersetzung wiederum in neue Forschungsfragen und Entwicklungsaufgaben zu überführen. Aus dieser Haltung heraus entstand die Idee, die zweijährigen Netzwerkveranstaltungen an der ZHdK unter dem Titel „Persönlichkeitsverwicklung“ zu konzipieren.
Das, was Psycholog_innen und Soziolog_innen mit Persönlichkeitsentwicklung bezeichnen, oszilliert zwischen der Fähigkeit zum kritischen Denken, zum Umgang mit Differenz einerseits sowie (mehrheits-)gesellschaftlicher Normierung und Arbeitsmarktkompatibilität andererseits. Für Adoleszente (und nicht nur für sie) ereignet sich Persönlichkeitsentwicklung innerhalb komplexer Verwicklungen und nicht auflösbarer Widersprüche, in der Spannung zwischen Anpassung und Abweichung, zwischen dem Herstellen und Aushalten sozialer Ein- und Ausschlüsse.
2007 führte die österreichische Regierung eine Studie mit dem Titel „Kulturmonitoring“ durch, die auf einer Bevölkerungsbefragung von 2.000 Personen fußte. Dabei gaben rund 75% der Befragten an, dass sie die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur vor allem für die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen als wichtig einstufen und daher auch den Ausbau der schulischen Kunstvermittlung befürwortetenINSTITUT FÜR EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG GMBH: „Kulturmonitoring der österreichischen Bevölkerung 2007. Erstellt für das BM für Unterricht, Kunst und Kultur“, hier: S. 30 http://www.bmukk.gv.at/medienpool/15575/23800007berichtkultur.pdf. Zuletzt aufgerufen am 22.4.2009.. Doch was bedeutet die Aussage, Kunst und Kultur seien für die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen relevant, konkret? Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich daraus für den Kunstunterricht? Diesen Fragen wurde und wird im Netzwerkmodul der Zürcher Hochschule der Künste anhand von Praxisbeispielen, Gruppenarbeiten, Materialentwicklungen und theoretischen Reflexionen nachgegangen. Dabei stand beim ersten Mal, im Januar 2010 unter dem Motto „Queer und DIY im Kunstunterricht“ die Kategorie Geschlecht im Fokus der Auseinandersetzung. Die zweite Folge der „Persönlichkeitsverwicklung“, im Januar 2012, wird den Fragen nach einem „Kunstunterricht in der Migrationsgesellschaft“ gewidmet sein. Die dritte, im Januar 2014, wird nach der Relevanz der Kategorie „Klasse“, nach dem kulturellen und sozialen Kapital als Determinanten für die Gestaltung des Schulfachs „Bildnerisches Gestalten“ fragen.
Das Adaptieren jugendkultureller Praktiken und Bilderwelten gehört unter den Stichworten „lebensweltlicher Bezug“ und „Alltagsorientierung“ zu den griffbereiten Strategien im Schulfach Bildnerisches Gestalten. In den drei Netzwerkveranstaltungen wurde und wird dabei jedoch eine queere Perspektive eingenommen: Es ging und geht um die unterrichtspraktischen Konsequenzen der Tatsache, dass der Umgang mit Zeichen nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfindet. Im Gegenteil sind die Selbstartikulationen von Subjekten (egal welchen Alters) in symbolische Ordnungen eingeschrieben – zum Beispiel in die Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit oder der Differenzlinie entlang von Ethnizität und sozialer Herkunft. Die Zeichen, die sie produzieren, sind strukturiert von dominanten Darstellungskonventionen. Sie fügen sich zumeist glatt in diese Konventionen und symbolischen Ordnungen ein, oder sie scheitern daran, deren Perfektion wiederholen zu wollen. In selteneren Fällen weichen sie bewusst, lustvoll und offensiv von ihnen ab oder verschieben sie.
Die Netzwerkmodule an der ZHdK konzentrieren sich auf die kunstpädagogischen Potentiale von solchen lustvollen Abweichungen und Verschiebungen. Sie nehmen die Möglichkeit künstlerischer Verfahren und künstlerischer Bildung ernst, dominante Ordnungen sichtbar zu machen, zu hinterfragen, zu dekonstruieren und neue Konstellationen und Konzepte jenseits von neuen Festschreibungen zu erproben. Sie versuchen zusammen mit allen Beteiligten, einen Kunstunterricht zu entwerfen, der über eine lustvolle und verunsichernde Persönlichkeitsverwicklung zu einer vielleicht etwas stärker selbstbestimmten, gerechteren und differenzierteren Persönlichkeitsentwicklung führen könnte – für Lernende und Lehrende gleichermassen.

Es ist geplant, zu jeder der drei Fragestellungen der Netzwerkmodule 2010, 2012 und 2014 auch eine Ausgabe von Art Education Research entstehen zu lassen. Die Ausgabe zum ersten Netzwerkmodul, zu „Queer und DIY im Kunstunterricht“, liegt nun hier vor.
Sie ist als Schulbuch, als Sammlung von Materialien für den Unterricht, konzipiert. Mit dem Bestehen auf der Möglichkeit, didaktisches Material als Ergebnis von Forschungsarbeit zu veröffentlichen, wird im Ansatz auch ein Konzept von Forschung verschoben, welches das Entwickeln didaktischer Materialien als „Runterbrechen“ komplexer Inhalte und damit als Praxis jenseits von wissenschaftlicher Arbeit verortet. Am IAE beschäftigen wir uns mit dem hierarchischen und nicht zuletzt vergeschlechtlichten Verhältnis unter den verschiedenen Produktionsweisen und Verortungen von Wissen in Kunst und Wissenschaft einerseits und in der Vermittlung andererseits. Es handelt sich dabei um einen querliegenden Frage- und Handlungskomplex, der sich durch alle unsere Projekte zieht.
Wir versuchen, diese Hierarchien durcheinanderzubringen, sie herrschaftskritisch zu „queeren“.
Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der Durcharbeitung von Theorien und künstlerischen Produktionen in der Perspektive der Vermittlung und bei ihrer Fortsetzung, Reflexion und Umarbeitung im Unterrricht eher um Akte des „Raufbrechens“, im Sinne einer Steigerung von Komplexität.
Die vorliegenden Ausgabe von Art Education Research möchte zu solchen Versuchen des Raufbrechens anregen.
Ich wünsche viel Spass beim Lesen und bei den aus der Lektüre resultierenden Unterrichtsideen und Experimenten.
Mein Dank gilt an dieser Stelle den studentischen Assistentinnen, die uns beim Netzwerkmodul unterstützten, und den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des IAE, ohne die weder das Konzept noch die Durchführung der Veranstaltung möglich gewesen wären: Danja Erni, Nora Landkammer, Anna Schürch und Bernadett Settele. Bernadett Settele gilt zusätzlich mein besonderer Dank für ihre Arbeit an der Herausgabe dieser dritten Ausgabe von Art Education Research.
Zu den Texten
Zu den Materialien

Short CVs of the authors: