IT'S ABOUT TIME. Kritische Kunstvermittlung in digitalen Zeiten

Editorial

Das Entstehen der 18. Ausgabe des e Journals Art Education Research fällt in die erste Hälfte des Jahres 2020. Neben der sich stetig zuspitzenden Klimakrise, deren Ausmasse in einigen Regionen der Erde das Leben der lokalen Bevölkerungen bereits täglich spürbar beeinträchtigen, werden die Menschen von einer weltweiten Pandemie heimgesucht, die bereits Hunderttausenden das Leben gekostet hat. Nachdem ein Polizist in Minneapolis den unbewaffneten George Floyd durch Erstickung ermordet hat, ist in den vergangenen Wochen die #blacklivesmatter-Bewegung erstarkt. Eine junge Frau hat den Mord auf Video festgehalten und damit die Möglichkeit zur viralen Verbreitung gegeben. Seitdem protestieren weltweit Menschen gegen Rassismus, Polizeigewalt und White Supremacy. Wir, Sophie Lingg und Helena Schmidt, solidarisieren uns als Herausgeberinnen dieser Ausgabe mit den Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt, immer und überall. 


Wie die #blacklivesmatter-Proteste zeigen, organisieren und informieren sich sowohl Aktivist*innen als auch deren allies und die interessierte Zivilgesellschaft zu einem grossen Teil im Internet, genauer –auf sozialen Netzwerken. Twitter, Instagram und Facebook sind wichtige Tools für Koordination und Information. Via Hashtags werden die Beiträge geordnet und auffindbar für Dritte – alle Nutzer*innen können Rezipient*innen und Produzent*innen zugleich sein. Die etablierten Medien können mit dieser Unmittelbarkeit, Schnelligkeit und Effizienz häufig nicht mithalten, da sie aufgrund ihrer institutionellen Rahmenbedingungen zeitlich weniger flexibel agieren können. Zudem kann beobachtet werden, dass von der Vielzahl der von Zeug*innen erstellten Videos bei weitem nicht alle die notwendige Beachtung bekommen: Medien verwenden die in diesen Videos festgehaltenen und im Internet veröffentlichten Szenen für ihre Berichte, verbreiten sie jedoch nicht in korrekter Form. Das Videomaterial aus sozialen Netzwerken wird mitunter gekürzt oder fragmentarisch veröffentlicht, um Narrationen jenseits ‚objektiver‘ Berichterstattung zu erzeugen.

 

It's about Time — Beiträge

Mit dem Titel It’s about Time wollen wir als Herausgeberinnen unsere Aufmerksamkeit der Zeit als prägnantem Faktor für digitale und soziale Medien und Technologien widmen. Der Titel adressiert Zeit im doppelten Sinne. Zum einen als Masseinheit, die unseren digitalen Alltag prägt und durch die im Netz verkürzten Abstände zwischen Aktion und Reaktion (nach Schütze 2016) sowohl die oben angesprochenen aktivistischen Praxen als auch ganz banale Online-Situationen bestimmt — man denke nur an die Rushhours in den Timelines der sozialen Netzwerke, in denen die Fülle an Beiträgen von Algorithmen orchestriert werden muss. Zum anderen steht It’s about Time für die Notwendigkeit, auf dem Feld der Vermittlung und speziell der Kunstvermittlung digitale Plattformen als Räume, in denen Vermittlung geschieht, zu beschreiben und darüber hinaus digitale Technologien als potentielle Vermittlungstools zu untersuchen. Als wir den Titel der Ausgabe gewählt haben, konnten wir uns noch nicht vorstellen, wie sehr sich der Alltag der gegenwärtigen Gesellschaft wie auch der Kunstvermittler*innen durch die globale Pandemie verändern würde. Die unterschiedlichen Technologien ermöglichen es, auf die veränderten Zustände annähernd in Echtzeit digital zu reagieren.

 

Basierend auf der Frage, welche Auswirkungen diese schnellen Reaktionen im digitalen Raum auf Projekte im Kontext von Kunstvermittlung haben, vereint diese Ausgabe experimentelle, technofeministische, (queer)feministische, dekoloniale und aktivistische Zugänge zu Nutzungsweisen digitaler Medien aus den Feldern der Kunst, Vermittlung und Bildung in der Schule, im öffentlichen Raum, im Museum, auf digitalen Plattformen und in der Forschung. Es ist uns wichtig, digitale Technologien und ihre Nutzung in der Vermittlung und darüber hinaus im Kontext der jeweiligen spezifischen machtpolitischen und materialistischen Entstehungsbedingungen von Technologien zu betrachten (Sollfrank 2018: 16). Treffend formulieren es die Mitglieder des Kollektiv Feige in ihrem Beitrag — „Vermittlung ist Haltung“. Dies trifft vor dem beschriebenen theoretischen Hintergrund besonders auf die Vermittlung von und via Digitalität zu. Dabei müssen neben den technologischen Bedingungen des Digitalen auch die damit verbundenen (machtpolitischen) Auswirkungen diskutiert werden.

 

Die für das e Journal #18 ausgewählten Positionen sind eng mit den jeweiligen künstlerisch-vermittelnden Praxen der Autor*innen verknüpft, die sich in Universitäten, Schulen, Institutionen und freien Szenen verorten und über Vermittlung, bildende Kunst und Theorie bis hin zu Kuratieren und Aktivismus reichen. Um die vielen Dimensionen der unterschiedlichen digitalen Praxen im Spannungsfeld von Kunst und Kunstvermittlung annähernd abbilden zu können, haben wir uns dazu entschlossen, neben theoretischen Auseinandersetzungen, Gesprächen und Projektanalysen auch künstlerische Beiträge in Form von GIFs, Memes, Comics und Videos in das e Journal #18 aufzunehmen. Wir sind davon überzeugt, dass Publikationen wie das SFKP e Journal die richtigen Orte sind, um die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf dem Feld der Kunstvermittlung in digitalen Räumen und mit digitalen Technologien über die klassischen Methoden hinaus voranzutreiben. 


 ⏰ 👩‍🏫❓ Konstanze Schützes Auseinandersetzung mit digitalen Bildern und der Zeit war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Konzeption dieser Ausgabe. In der Kategorie 3 Fragen an …beantwortet sie Fragen zu ihrer Arbeit in der Kunstvermittlung und dem Zusammenhang von Digitalität und Zeit. 


🏳️‍🌈🏳️‍⚧️💅💄👩‍🏫🔮 🎨🖼️📜📚 Auch die Tiefe Kümmernis beantwortete uns via Video drei Fragen zu ihrer Person, ihrer Arbeit als Vermittlerin sowie zu queerer Sichtbarkeit in Kunstgeschichte und Vermittlung in Drag.


🏳️‍🌈🏳️‍⚧️💻💕👧👅💦 In ihrem dialogischen Beitrag „Leck mich doch“ war denen einfach too much! besprechen Mitglieder des Kollektiv Feige die 2018 entstandene Videoserie Liebe, Sex und Klartext, in der sich jugendliche Frauen* mit Körpern, Sexualität und Gefühlen auseinandersetzen. Sie geben Einblick in ihre inhaltliche Arbeit, den Produktionsprozess der Videos, die Resonanz nach der Veröffentlichung und sprechen über Verbreitungsmechanismen im Internet, die daran gekoppelten Diskussionsräume und deren Potenzial. 


👩🎤🔊🤖 In SOMEWHERE OFF THE REAL setzt sich Malin Kuht mit smarten Geräten und deren Verbindung mit Gender und Race (etwa durch Zuweisung bestimmter Stimmen und Gesichter) auseinander. Sie bringt ihre theoretischen Überlegungen in Relation zu ihrer eigenen künstlerischen Arbeit OFFREAL, die sich mit Schönheitsidealen von Avataren befasst. Dabei deckt sie (politische) Machtverhältnisse auf, die in Zusammenhang mit digitalen Technologien stehen.


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Ariana Dongus beschreibt in Die lebendigen Pixel ausgehend von künstlerischen Arbeiten Harun Farockis, wie Bilder ,operativ‘ werden. Diese Operativität der Bilder existiert nur, weil zunächst (prekäre) menschliche Arbeit investiert wurde, um maschinelle bzw. sogenannte ,künstliche‘ Intelligenzen zu ermöglichen.   


🏝️🍹🍹🍹📹🕵️‍♀️🇦🇹🤳 Im Beitrag Coming back from Ibiza schreiben die Herausgeberinnen Helena Schmidt und Sophie Lingg über den Instagram-Account Ibiza Austrian Memes der Aktivistin Anahita Neghabat und verknüpfen deren aktivistische Vermittlungsarbeit mit Fragen der Jugendkultur, Medienkompetenz und Schule. 


📔🎨✍️⌨️🕸️🖥️ Helen Stefanies Comic reise zum :) setzt sich mit der microblogging-Plattform tumblr, ihren Nutzer*innen und den darauf kursierenden Inhalten auseinander, die zu einem grossen Teil von (weiblichen, queer/trans*, PoC) Teenagern und Millennials geprägt wurden. 


🤳🤸‍♀️💃📹 Das Künstlerinnenduo BIGLERWEIBEL hat eigens für unsere Ausgabe eine Serie von GIFs erstellt, die gängige Körpernormen und Schönheitsideale auf Social-Media-Kanälen kritisiert. 



Danke & Merci

Wir bedanken uns herzlich bei Annemarie Nowaczek für das Korrektorat und Erin Mallon für die Übersetzung. Ein grosser Dank gilt Lea Fröhlicher für die Unterstützung bei der Organisation sowie Wolfgang Jung für den Support beim Upload. Wir möchten uns herzlichst beim Board der SFKP für das entgegengebrachte Vertrauen bedanken, diese Ausgabe zu kuratieren und herauszugeben. Dabei geht ein besonderes Danke an Gila Kolb — merci für die Videotelefonate, die Beantwortung all unserer Fragen und die Ermunterung, uns für die Herausgabe zu bewerben. Ausserdem möchten wir uns bei Elke Krasny bedanken, die uns in unserer Arbeit stets beratend zur Seite steht. Der grösste Dank gilt natürlich allen Autor*innen — die Zusammenarbeit mit euch war extrem bereichernd und wir freuen uns sehr, eure diversen und bedeutungsvollen Stimmen in diesem e Journal vereinen zu dürfen.

 

Sophie Lingg und Helena Schmidt

Wien im Juni 2020

 

 

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Literatur:

Schütze, Konstanze (2016): Where the *pragmatics happens. Über die Ästhetik der leeren Hände und die Arbeit am Magischen. In: Meyer, Torsten/Dick, Julia/Moormann, Peter Moormann/Ziegenbein, Julia (Hg.), Where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste. München, Kopaed, S. 85-91.

Sollfrank, Cornelia (2018): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert. Wien, Transversal Texts.

Kurzbiografien der Autor_innen: