Schlagwörter: Affirmative Strategien, age of the screen, always on, Art Education, chicken rings, drive-in, Fossilwerden, Fragmentierte Zeit, Gegenwart, Gleichzeitigkeiten, Jetzt, Komplexität, Kontingenz, kulturelles Skript, Menschheitsgeschichte, Plattformkritik, pluralisierte Medialität, storytelling, tiktok
Ein zentrales Moment unserer Gegenwart ist ihre serielle, pluralisierte Medialität. Was wir erleben transformiert unsere Welterfahrungen und bringt ein fragmentiertes Zeiterleben hervor. Digitale Inhalte strömen ständig und ungefiltert über mobile Endgeräte, die neuerdings z.B. an praktischen Handyketten baumeln. Überhöhungen und Verzerrungen, die zwischen Hyperrealität und Virtualität oszillieren, erzeugen neue, oft momenthafte, narrative Formen. Heimwerker-DIYs werden zu politischen Manifesten, Kochvideos zum Protestaufruf. Inmitten dieser verwobenen Inhalte entstehen ständig neue Fragen nach den Verhältnissen von Autor*innenschaft und Authentizität. Dabei greifen verschiedene Stränge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spekulativ ineinander und stellen ihrerseits Projektionen her (vgl. Esposito 2007; Avanessian 2016; Quent 2016, Baecker 2011).
In der kunstpädagogischen Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Filmprojekt geht es uns weder um die isolierte Vermittlung eines herausragenden Kunstwerks noch um die technische Analyse künstlerischer Verfahren. Im Zentrum steht vielmehr die Herausforderung, die vielfältigen Erzählweisen der Gegenwart in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Der Filmessay bricht mit traditionellen, linearen Erzählformen und zeigt stattdessen eine kaleidoskopische Reflexion über die Verflechtungen der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Die Überlagerungen von medialen Referenzen und visuellen Stilmitteln erzeugen ein hyperrealistisches Zerrbild, das die komplexe, vielfach widersprüchliche Realität heutiger digitaler Kulturen widerspiegelt. Diese Erzählweisen fordern uns heraus, uns mit den plattformgestützten narrativen und sozialen Effekten auseinanderzusetzen, und den durch Reckwitz (2017) als eine zentrale Herausforderung der Gegenwart beschriebenen Vereinzelungstendenzen nachzuspüren. Die parallelen Erzählstränge (z.B. Social-Media-Zyklen, Filterblasen) schaffen ein Spannungsfeld, das uns zwingt, der Sozialität und Individualität digitaler Realitäten in Überlagerung zu begegnen. Die fragmentierten Ensembles fordern von uns als Kunstpädagog*innen neue Ansätze für den Umgang mit visuellen und medialen Formen, die sowohl Kontingenzen als auch Ambivalenzen ko-produzieren. Komplexe Gegenwarten, wie sie der Filmessay visualisiert, erzeugen zwangsläufig Kontingenzen, und entziehen sich einer vollständigen Erfassung (vgl. Henschel 2019: 20). Der Umgang damit ist eine der zentralen Herausforderungen für die Kunstpädagogik in digitalen Kulturen. Die ästhetischen Formen und kulturellen Codes, die sich durch den Film ziehen, verdeutlichen den tiefgreifenden Wandel, den digitale Erzählformen durchlaufen haben. Indem wir diese Formen als kunstpädagogische Begegnung nutzen, öffnen sich neue Forschungs- und Austauschmöglichkeiten zwischen Kunstvermittler*innen und anderen Expert*innen. Das filmische Material dient dabei nicht nur als Beispiel, sondern auch als Werkzeug zur Untersuchung der soziotechnischen Realitäten, die von digitalen Erzählformen geprägt werden. Zwischen dokumentarischen Elementen und YouTube-Tutorials entfaltet sich eine postdigitale Realität, die die Betrachter*innen unmittelbar konfrontiert.
Diese Ausgabe des e-Journals nähert sich dem Verständnis dieser digitalen Komplexität und untersucht konkret, wie kunstpädagogische Vermittlung unter diesen Bedingungen aussehen kann. Die darin versammelten Beiträge verwenden den Filmessay als Ausgangspunkt, um die medialen Rahmenbedingungen der Gegenwart zu hinterfragen, künstlerische Erzählweisen zu analysieren, sowie Anschlüsse in weiterführendes Material zu finden. Im Fokus steht dabei die kunstpädagogische Auseinandersetzung mit den radikalen Gleichzeitigkeiten von fragmentierten Erzählungen in digitalen Kulturen.
Zu Beginn zeigt eine Szenenübersicht die Bedingungen medialer Pluralität im 37-minütigen Filmessay auf. Mit der inhaltlichen und formalen Ebene von Everything but the World setzen sich Jana Wodicka und Anja Lomparski intensiv auseinander. Ihr Beitrag nutzt das Format eines Social-Media-Feeds, um die Dynamiken digitaler Formate zu reflektieren und die Wechselwirkungen der Gegenwart kritisch zu beleuchten. Yvonne Schweizer setzt sich in ihrem Beitrag mit der Installations-Version von Everything but the World im Rahmen der Biennale de l’Image en Mouvement 2021 des Centre d’Art Contemporain Génève auseinander und analysiert auf dieser Grundlage die Plattform dis.art als „materialisierte Werkform“ im aktuellen plattformkritischen Diskurs. Dabei wirft sie u.a. Fragen nach aktuellen Formen der Medienkritik im Verhältnis von Distanz und Mimikry/Affirmation in der nicht auflösbaren Paradoxie einer teilnehmenden Distanznahme auf. Helena Schmidt diskutiert inspiriert von im Filmessay angestoßenen Themen zwischen Postproduktion und Publikation Fragen des Bildrechts. Anhand der Arbeit Copyright Swap von Tamara Janes zeigt sie, wie Künstler*innen durch Manipulation von Bildern spannende Grauzonen ausloten, rechtliche Konturen untersuchen, und inwiefern diese Praktiken im Kontext der Kunstvermittlung und -didaktik unter Bedingungen der Digitalität relevant werden. Für dieses e-Journal rezensiert Lena Hoppenkamps die kürzlich von der International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies herausgegebene Publikation Beyond Molotovs. A Visual Handbook of Anti-Authoritarian Strategies – ein Band, der sich mithilfe aktivistischen Strategien mit den Bedingungen des Jetzt befasst. Beyond Molotovs fasst verschiedene anti-autoritäre Strategien zusammen, von denen sie vier ausgewählte Strategien unter kunstvermittlerischen Gesichtspunkten analysiert und somit Anknüpfungspunkte für kunstvermittlerische Praxen anbietet. Ebenfalls aus aktivistischer und kunstpädagogischer Perspektive untersucht Sophie Lingg die Arbeitsbedingungen von queerfeministischen Künstler*innen auf Social Media. Der Text reflektiert die Herausforderungen, denen Künstler*innen auf Social Media begegnen, und befragt dieses von Gewalt und Diskriminierung durchdrungene Umfeld in Bezug auf die Möglichkeit, selbstbestimmte Räume zu schaffen. Letztlich muss dann auch die auf Kohärenz ausgerichtete Institution Schule mit dieser fragilen Gegenwart irgendwie umgehen. Schließlich wird die Frage gestellt, wie der Filmessay dem Kunstunterricht begegnet. Marlene Tencha, Zoé Haupts, Raphael di Canio, Xavier Sägesser und Samuel Rauber nutzen Analogien zum Film, um gegenwärtige Lebensrealitäten jetziger Schüler*innen aufzuzeigen und deren Bewältigungsstrategien für den Umgang mit pluralen Medialitäten zu thematisieren. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit des kunstpädagogischen Umgangs mit Kontingenzen als Kritik sowie Gestaltungspotential sichtbar. Ergänzt wird diese Ausgabe schließlich durch ein besonderes Theaterstück in vier Akten von Martina Leeker, in welchem die vier Protagonistinnen (die selbst drei Alter Egos der Autorin aus verschiedenen Zeiten darstellen) die Fragestellung dieses e-Journals kritisch auf ihr Potenzial für die Wissenschaft befragen. Dabei konterkariert Leeker die potenzielle Existenz digitaler Gleichzeitigkeiten. Wir schließen diese Ausgabe mit hingebungsvollen visuellen Einblicken in das Skript und den Film und präsentieren eine Bildstrecke zur Abschlussszene „White Castle“ des Filmessays. Den Soundtrack für die Lektüre liefert DRONE OPERATØR, ein musikalisches Projekt der Künstler Paul Barsch & Tilman Hornig.
Mit diesen vielseitigen fachlichen Perspektiven auf ein herausforderndes Material hoffen wir, weitere Diskussionen anzuregen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Potenzialen digitaler Kulturen in der Kunstpädagogik anzuregen.
Bern und Karlsruhe im Sommer 2024
Danke an: Inga Luchs für das Lektorat, Anna Maria Sprenger und Anja Lomparski für die Ko-Redaktion, sowie DIS (Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso, David Toro) für die Freigabe der Filmausschnitte, und allen Autorinnen für die freundliche Unterstützung des Vorhabens und die wertschätzende Zusammenarbeit.
Trotz intensiver Recherchen ist es uns leider nicht gelungen, alle Inhaber*innen von Rechten ausfindig zu machen. Berechtigte werden gebeten, sich an die Herausgeberinnen zu wenden.
Referenzen
Baecker, Dirk (2011): 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft. In: Revue für postheroisches Management 9/2011, S. 8–9.
DIS (Regie) (2021). Everything But The World [genreübergreifende Science-Fiction-Dokumentation]. dis.art.
Hahn, Annemarie/Schütze, Konstanze (2024): Everything but … . Art Education in the Age of the Screen. In: Golden Pixel Cooperative (Hg.): You’ll Never Watch Alone. Im Erscheinen.
Henschel, Alexander (2019): Kunstpädagogische Komplexität: Logiken und Begriffe der Selbstbeschreibung. Kunstpädagogische Positionen, Bd. 48. Hamburg, Universität Hamburg.
Esposito, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Manetas, Miltos/Avanessian, Armen/Malik, Suhail (2016): Der Zeitkomplex. In: biennale. Überarbeitete Webseite, basierend auf dem überarbeiteten Protokoll eines Gesprächs in Berlin, 29. Januar. https://www.biennale.net/de/der-zeitkomplex/index.html [25.09.2024].
Quent, Marcus (2016): Absolute Gegenwart. Berlin, Merve.
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp.
Schütze, Konstanze (2020): Bildlichkeit nach dem Internet. Aktualisierungen für eine Kunstvermittlung am Bild. Schriftenreihe Kunst Medien Bildung. München, kopaed.
Secession Wien (2022): DIS: EVERYTHING BUT THE WORLD (Katalog zum Essayfilm). Berlin, Revolver.
Vansieleghem, Nancy/Vlieghe, Joris/Zahn, Manuel (2020): Education in the Age of the Screen. Possibilities and Transformations in Technology. London, Routledge.