Editoral

Welche Formen des Miteinanders, des Aushandelns und Verhandelns werden entwickelt, wenn Widerstände und Dominanzverhältnisse, Machtkonstellationen und Ungleichheitsgefüge in der Zusammenarbeit zu Reibungen führen? Und wie entstehen eigentlich Allianzen in den Verwerfungen und Zwischenräumen? 

Mit der Einladung zur 22. Ausgabe des e Journal Art Education Research haben wir, Silke Ballath und Konstanze Schütze, Autor*innen und Autor*innenkollektive eingeladen, sich forschend mit diesen Fragen zu beschäftigen, und zwar ausgehend von ihrer spezifischen Praxis als Lehrperson, Künstler*in, Studierende*r, Wissenschaftler*in und/oder Kunstvermittelnde*r. Uns interessiert, wie unterschiedliche Rollen in einer Zusammenarbeit verhandelt werden. Wie Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen in ihrer jeweiligen Positionierung und Situierung aussehen kann. Welche Formen des Miteinanders, des Aushandelns und Verhandelns entwickelt werden, wenn Widerstände und Dominanzverhältnisse, Machtkonstellationen und Ungleichheitsgefüge in der Zusammenarbeit zu Reibungen führen. Aber auch, wie eigentlich Allianzen in den Verwerfungen und Zwischenräumen entstehen. Was macht sie aus? Welche Merkmale haben sie? Und wie lassen sie sich nutzen?  

Nach bell hooks ist ein konstruktives Bewusstsein Voraussetzung dafür, einen Zwischenraum zwischen den Akteur*innen unterschiedlicher Felder und Institutionen zu produzieren (vgl. hooks 2003: 192). Ein Zwischenraum ist ein Raum, in dem die bestehenden Regeln verhandelbar sind, in dem Standpunkte in Bewegung geraten (vgl. Haraway 1995: 24) und in dem ein Bewusstsein für Machtverhältnisse und Widersprüche entwickelt werden kann (vgl. Spivak 2008: 44–70) – ein Raum, den die Beteiligten zu nutzen wissen und durch den sie Verantwortung für die eigenen und gemeinsamen Belange und Fragen sowie historischen Verstrickungen übernehmen. Wer übernimmt die Verantwortung für diese historisch gewachsenen Machtstrukturen und kolonialen Ungleichheitsverhältnisse? Können sie reflektier- und verhandelbar werden?

Entlang dieser theoretischen Bezugspunkte stellen wir, als Herausgeber*innen dieser Ausgabe, die folgenden Fragen: Wie lässt sich eine Situierung zwischen den Stühlen erforschen, beschreiben, diskutieren, hinterfragen? Welche Spannungsfelder ergeben sich individuell und kollektiv, oder strukturell zwischen den Positioniertheiten im Feld? Und was bedeutet Situierung im Kontext einer rassismuskritischen Befragung von Schule, Studium und Kulturinstitution? Wo entstehen Grenzlinien und wo gedeihen Missverständnisse und Verhärtungen? Welche Inventuren an Selbstverständlichkeiten sind möglich? Wo liegen die Potenziale für das gemeinsame (Ver-)Lernen?

Einen wichtigen Ausgangspunkt für dieses Interesse bildete das Seminar „Situierung zwischen den Stühlen“. Es hat über mehrere Semester an der Universität zu Köln und ab 2021 auch an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig stattgefunden. Im Seminar wurden Positionen und Praxen von Künstler*innen, Kulturagent*innen und Lehrpersonen entlang von selbstgeführten Interviews untersucht. Im Fokus standen unterschiedliche Themenfelder (Rollenverhältnisse in der Zusammenarbeit, kollaborative Arbeitsformen, macht- und rassismuskritische Praxis im Kontext Schule, Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit u.a.), die die Studierenden entlang ihrer Interessen in Kleingruppen künstlerisch und theoretisch erforschten.

Anleitend für das Seminar war das Interview „Wir sind immer Mittendrin“ mit der feministischen Biologin Donna Haraway (1995). Je nach Schwerpunkt und Interesse vertieften die Studierenden ihre Gruppenforschung entlang weiterer Positionen wie etwa bell hooks (1994), María do Mar Castro Varela (2018), Nora Sternfeld (2014) und weiteren Autor*innen. Im Anschluss an das Seminar lud Silke Ballath alle Teilnehmenden ein, ihre Forschung weiterzuführen und einen Beitrag für das e Journal Art Education Research zu produzieren.

Im Anschluss an das Seminar fand die erste Gruppenforschung „Kollaboration + Kunstpädagogik“ zwischen 2020 und 2021 statt. Eine Gruppe Studierender, ihre Dozentin und ihre Gästin Annika Niemann entwickelte einen Ansatz, aus dem das Prinzip „Drei Begriffe zur Situierung zwischen den Stühlen“ entstand und mit dem wir unterschiedliche Akteur*innen entweder für einen Kurz- oder einen Langbeitrag einluden. Insgesamt sind so 17 Beiträge entstanden, die den Zwischenraum im Interaktionsfeld von Kunst und Bildung erforschen. Jede*r Autor*in identifizierte drei Begriffe, die sich assoziativ auf Beobachtungen, Praxen, Forschungserkenntnisse oder -fragen beziehen; sie sind theoriegeleitet und/oder praxisbezogen. Das Dreieck aus den Begriffen bildete die Grundlage für einen Beitrag. Dabei konnte das Verhältnis der gewählten Begriffe zueinander im Beitrag thematisiert oder das spezifische Interesse an den Begriffen ausformuliert werden, ihr Bezug zur Praxis oder eine Diskussion verschiedener Positionen im Fokus stehen. Die Einladung bezog sich explizit nicht nur auf die Produktion von Textbeiträgen, sondern auch von Videos, Podcasts, Zeichnungen, Interviews oder anderen Formaten.

Den Raum zwischen institutionellen Anforderungen, professionellen Positionierungen und politischer Komplexität künstlerisch und kunstpädagogisch zu untersuchen, oder in der Zusammenarbeit zu erforschen, führt zu mehr Fragen und weiteren Antworten. Um dieser Vielstimmigkeit zwischen praxisbezogener Reflexion und theoriegeleiteten Prozessen gerecht zu werden, ist im Dialog die Idee für die Plattform „Situierung zwischen. Positionen, Haltungen und künstlerische Prozesse“ (situierungzwischen.net) entstanden. Während der zweijährigen Arbeit an der Ausgabe des SFKP e Journals 22 trafen wir kontinuierlich neue Menschen, waren mit der Vielzahl der Autor*innen in engem Austausch zu ihren Beiträgen, und stellten fest, dass wir nur Ausschnitte dieser komplexen Herausforderung in der vorliegenden Ausgabe vorstellen können. Entsprechend wird die Plattform uns die Möglichkeit geben, kontinuierlich weiter an diesen Fragen zu arbeiten und weitere Menschen dazu einzuladen, mit uns darüber nachzudenken und (ihre) Positionen im Dialog zu verhandeln.

Autor*innen und Autor*innenkollektive waren eingeladen sich forschend mit diesen Fragen zu beschäftigen, ausgehend von ihrer spezifischen Praxis als Lehrperson, Studierende, Künstler*in, Wissenschaftler*in und/oder Kunstvermittler*in. Der folgende Überblick wird die Positionen und bislang entstandenen Dialoge kurz zusammenfassen:

Havin Al-Sindy skizziert Leerstellen als Hinweise für einen Blick, der neu ist und Potential bietet, erweitert zu werden. Sie fragt danach, wo Veränderungen möglich sind und wie wir sie wahrnehmen, bzw. ihrer gewahr werden; lernen, ihnen zuzuhören. Aber auch, wo wir von ihnen absehen, still bleiben.

Über den Podcast „Kollaboration + Kunstunterricht“ untersuchen Anja Schiefer, Annika Niemann, Eva Maria Klein, Maya Wendler, Naomi Bodner und Silke Ballath wie Kollaboration als Methode fruchtbar werden kann.

Mariano Gaich beschäftigt sich mit den Grenzen binär-patriarchaler und kolonialer Taxonomien in literarischen, künstlerischen, aktivistischen sowie philosophischen Ansätzen und sucht nach Spuren und Fragmenten für Räume der Wiedergutmachung und Wandlung. Diese Suchbewegungen übersetzt Gaich in ein Kartenset mit kurzen Texten zum Lesen, Spielen, Imaginieren, Dekonstruieren, Vertiefen und Ergänzen.

Anna Schapiro fragt, wie eine Gegenwart aussähe, die von gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit her gedacht wird. Wie lassen sich Zwischenräume als eigenständige Form erkennen? Welche Verletzungen entstehen dabei? Wo werden wem Wunden zugeführt? Wie öffnen sich die Literatur- und die Geschichtsbücher – wie werden sie aufnahmefähig für mehr als eine Narration, mehr als einen Stuhl?

Santi Grunewald, Zoë Haupts, Rebekka Hönnerscheid und Veronika Senger gehen davon aus, dass Wissen durch die Mitwirkung verschiedenster Akteur*innen als historisch gewachsene Konstruktion hervorgebracht wird und somit veränderbar ist. Der Podcast erforscht Selbstverständliches, vermeintlich „natürliches“ Körperwissen und hinterfragt erlernte Rollenbilder.

Celina Rahman untersucht die Begriffe Beziehungsarbeit, Sichtbarkeit, Kompliz*innenschaft und skizziert Forschen und Entdecken als ein produktives Spannungsfeld in der künstlerisch vermittelnden Arbeit. Die Illustratorin und Kulturagentin Julia Münz übersetzt diese Untersuchung in zwei Illustrationen.

Dori Förster, Lea Maria Manthei, Thea Schüle, Silja Cruz Hahne und Vanessa Gelbke verhandeln Möglichkeiten der Positionierung zwischen Kunst und Vermittlung in einer Textpartitur und Klangcollage. Ihr Prozess ist unabgeschlossen und entwickelt sich weiter.

In einer dialogischen Annäherung mit der Lehrperson Veronika Rauschenbach spürt die Kulturagentin Bettina Eberhard der Konstruktion von Identitäten nach. Gemeinsam konkretisieren sie Ansätze für die Konzeption eines künstlerischen Projekts und suchen nach Möglichkeiten, über (künstlerische) Erfahrung kritische Selbstpositionierung zu fördern.

In dem performativen Hörspiel „Grasping Gaps“ stellen Clara Laila Abid Alsstar und Mako Sangmongkhon das Spannungsfeld Beschwerde, Ambivalenz und L:E:E:H:R:STELLEN vor und erforschen die entstehenden Leerstellen und Assoziationsräume künstlerisch.

In dem Forschungsprojekt „Lernen/lernen“ führen die angehenden Lehrer*innen Agnes Biya, Luise Ramm und Eva Maria Klein eine Auseinandersetzung dazu, welche Affekte Rassismus auslöst und wie diese artikuliert und künstlerisch verhandelbar werden können.

Isabel Eisfeld befragt die Textsammlung UNTIE TO TIE – Koloniale Fragmente im Kontext Schule (hrsg. v. A. Diallo, A. Niemann und M. Shabafrouz) auf ihre konkrete Anwendbarkeit. Sie reflektiert drei Beiträge auf ihr Potenzial, Schulmaterialien diverser und machtkritischer sowie kolonialkritisch zu gestalten.

Franka Schmitz, Drenica Prekazi, Mina Kocaman und Sabine Rudnizkij untersuchen, wie die Strukturen eines Museums aufgebrochen und Zugänge geschaffen werden können. In ihrem Podcast reflektieren sie ihre Verantwortung als zukünftige Lehrpersonen und entwerfen einen Kunstunterricht, der dekolonisierende Haltungen zu realisieren versucht.

Philip Rizk wirft einen kritischen spekulativen Blick auf die menschliche Beziehung zur Natur und untersucht fiktive Gemeinschaften und deren Beziehung zum Besitz und der Nutzung von Boden.

Gaelle Shrot rezensiert die beiden Bände Museum verlernen (Band 1: hrsg. V. N. Landkammer; Band 2: hrsg. v. St. Endter, N. Landkammer, K. Schneider), in denen das Feld der Bildung in ethnografischen Museen im Spannungsfeld dekolonialer Praxen und entlang der Interaktionen zwischen Akteur*innen und Institution untersucht wird. 

Sascha Willenbacher beschäftigt sich am Beispiel „Kulturagent.innen Schweiz“ mit der Praxis der Kulturagent*in. Entlang der Begriffe ‚Aufmerksamkeit an den Rändern‘, Irritation und Subjektposition denkt er über diese spezifische Position im Spannungsfeld von Schule und Kultur nach und erforscht dabei das (subjekt)bildende Potential der Künste.

In drei Videoarbeiten sucht Luise Ramm künstlerisch nach Antworten auf gesellschaftliche Fragen im Kontext Schule und wirft dabei neue Fragen auf. Ausgangspunkt für ihre Videos ist das Berufsfeld des*der Kulturagent*in.

Raphael Daibert verhandelt seine künstlerische Praxis mehrsprachig zwischen geteiltem Wissen, naturnaher und ursprünglicher Positioniertheit sowie Strategien der Vergiftung/Entgiftung.

Wir freuen uns über die versammelten Positionen, Haltungen und künstlerischen Prozesse der unterschiedlichen Autor*innen(kollektive) und sind in freudiger Erwartung auf das, was sich daran anschliessend zeigen, formulieren und entwickeln wird.

Braunschweig und Köln im Winter 2022.

Grafik: Hannes Nordiek, 2022



Literatur/Referenzen:

Castro Varela, María do Mar (2018): Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Erwachsenenbildung und kontrapunktische Solidarität. In: Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) (Hg.), Gegen den Strich. Solidarität in der Erwachsenenbildung. Dokumentation der Tagung 29.–30. Mai 2018, St. Wolfgang, S. 18–30. https://www.bifeb.at/fileadmin/user_upload/doc/gegen_den_strich_dokumentation.pdf [04.01.2022]. 

Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M., New York, Campus.

hooks, bell (1994): Teaching to Transgress. Education as the Practice of Freedom. New York, Routledge.

hooks, bell (2003): Teaching Community. A Pedagogy of Hope. New York, London, Routledge.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Righting Wrongs – Unrecht richten. Zürich, Berlin, diaphanes.

Sternfeld, Nora (2014): Verlernen Vermitteln, Kunstpädagogische Positionen 30. Hamburg, REPRO LÜDKE. http://kunst.uni-koeln.de/_kpp_daten/pdf/KPP30_Sternfeld.pdf [19.05.2022].







Kurzbiografien der Autor_innen: